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4. Produkt des Zufalls

Ann Randall erblickte das Licht der Welt in Yarmouth im März 1954, genau an dem Tag, als die Amerikaner auf den Marschall-Inseln eine neuartige Wasserstoffbombe testeten.

Das schüchterne kleine Mädchen war von ebenso strahlender wie frühreifer Schönheit und zeigte ein wundersames Talent beim Erlernen von Sprachen: Im Alter von zehn Jahren sprach sie bereits Englisch und Französisch und lernte Latein mit Hilfe einer alten Vulgata, die sie in der Sakristei hatte mitgehen lassen – ein Diebstahl pädagogischer Art. Der Pfarrer gab vor, es nicht bemerkt zu haben.

Sie verlebte eine einsame Kindheit zwischen einem Vater, der vollkommen von seinen Pflichten als Führer der Reformierten Minoritätenkirche des Siebten Wiederkäuers in Beschlag genommen war, und einer launischen Mutter – die sie allerdings im Sommer ihres zwölften Lebensjahres verlor. Die Mutter, die vergeblich auf eine apokalyptische Feuersbrunst gewartet hatte, schluckte den gesamten Inhalt der Hausapotheke: Tabletten, Säfte und Tinkturen. Nach Auspumpen des Magens wurde sie in die psychiatrische Notaufnahme nach Halifax gebracht, von wo sie niemals zurückkehrte.

Am frühen Morgen des 1. September 1966 wachte Ann Randall, nach zweitägigen Krämpfen und Kopfschmerzen und noch immer von der Internierung ihrer Mutter erschüttert, schweißgebadet auf. Das Laken klebte ihr am Körper. In einiger Entfernung von Yarmouth hörte man ein Gewitter heraufziehen.

Ann wusste fortan – und würde es keine Sekunde ihres Lebens mehr vergessen –, dass der Weltuntergang im Sommer 1989 bevorstand.

Doch stutzte sie sofort über die mangelnde Vollständigkeit dieser Information. Sommer 1989? Weiter nichts? Ihre Cousins hatten ihr doch versichert, ihr würde nicht nur der genaue Zeitpunkt des Weltendes mitgeteilt, auf die Minute genau, sondern sie erhielte auch detaillierte Bilder, Tastempfindungen, Gerüche. Man hatte ihr eine Offenbarung auf Großleinwand versprochen, und was sie bekam, war ein unscharfes Dia, auf dem Bilddetails fehlten.

Sie setzte sich im Bett auf und bemerkte, dass ein anderes Ereignis gerade eingetreten war – ein feuchtes, zähflüssiges und endgültiges Ereignis. Sie fuhr sich mit der Hand zwischen die Beine und zog drei Finger hervor, an denen rötlich braunes Blut glänzte. Somit war sie mit ihrer kleinen Höllentour also durch.

Sie ging noch ein paar Jahre zur Schule, hatte auch immer gute Noten, verließ diese aber in der 12. Klasse ohne Nennung von Gründen. Es hätte sie ohnehin niemand danach gefragt. Sie trat eine Stelle in der Stadtbibliothek an (sie bestand aus ein paar Regalen im Keller des Rathauses), wo sie Bücher einordnete und ihr Latein aufbesserte.

Mit achtzehn hatte Ann ein sehr kurzes Abenteuer mit einem Gerichtsschreiber und wurde auf der Stelle schwanger. Bei der Zeugung handelte es sich selbstredend um ein Produkt des Zufalls. Die Randalls vermehrten sich ausschließlich auf ungeplante Art und Weise. Die genaueren Umstände des nächtlichen Ereignisses blieben ungeklärt, der lokalen Legende zufolge wurde es nach der Öffnungszeit zwischen den Regalen der Kinderbuchabteilung vollführt. Böse Zungen behaupteten, dass Ann sehr wohl darauf aus gewesen war.

Der Gerichtsschreiber, ein guter Familienvater und angesehener Bürger, verschwand daraufhin von der Bildfläche und überließ Ann sich selber – in der Auseinandersetzung mit der öffentlichen Meinung wie auch mit der winzigen Kohlenstoff-Kopie seines genetischen Codes.

Die Schwangerschaft ließ in Ann Randalls Gehirn eine ganze Reihe von Sicherungen durchbrennen: Sie wurde umgehend von apokalyptischen Panikanfällen sowie unkontrollierbaren Zwängen heimgesucht. Beispielsweise verwandte sie die Hälfte des Jahresbudgets der Bibliothek für die Anschaffung einer extravaganten Sammlung antiker Texte: Bibeln in Armenisch, Hebräisch und Griechisch, ein Faksimile der Schriftrollen vom Toten Meer, das Gilgamesch-Epos, das altbabylonische Enuma Elisch und das ägyptische Totenbuch. Sie ging nun auch nicht mehr nach Hause, sondern verbrachte die Nächte im Keller des Rathauses mit dem Lernen der toten Sprachen Mesopotamiens und ernährte sich von Ramen-Nudeln.

Nach einigen Monaten wollte sie in völliger Erschöpfung ihren Tagen ein Ende setzen und schluckte ein ganzes Pillenglas Aspirin, ein Unterfangen, das ihr akute Leberbeschwerden bescherte. Im Krankenhaus wurden nacheinander die Vergiftung der Leber, die psychotischen Anfälle und der Fötus entdeckt. Drei Diagnosen zum Preis von einer.

Sie wurde zum Gynäkologen geschickt, der sie an einen Sozialarbeiter verwies, der sie zum Psychologen brachte, der sie wiederum an den Psychiater weiterleitete, von dem aus sie mit einem Rezept nach Hause ging, das sich gewaschen hatte: 250 mg Clozapin jeden Morgen in Orangensaft gelöst – und eine Tablette Doxylamin gegen die Übelkeit.

Die Psychosen hörten auf, und Ann arbeitete wieder in der Bibliothek. Alles schien unter Kontrolle. Sie schwebte in einem euphorischen Zustand, legte im Beckenbereich ordentlich zu, sortierte Bücher, stempelte Karten. Durch eben diesen medikamentösen Vorhang erblickte Hope drei Wochen vor dem errechneten Termin das Licht der Welt (Genauigkeit war eine Tugend, die bei den Randalls ganz offensichtlich ausstarb). Der eilig hinzugezogene Großvater Henry kam ins Säuglingsheim gerauscht. Er blieb gerade lange genug, um einen Blick auf das Baby zu werfen und zu erklären, dass sie Mary Hope Juliet heißen solle.

So landete Mary Hope Juliet in ihrem Kuckucksnest.

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