Читать книгу Tarmac - Nicolas Dickner - Страница 9
Оглавление5. Eine beunruhigende Logik
Das kleine Mädchen Hope mit ihrem aufmerksamen Blick und dem eigenständigen Wesen weinte selten und verweigerte sehr früh die Brust. Sie besaß nicht die zerbrechliche Schönheit ihrer Mutter, aber es ging von ihrer Erscheinung und ihren Gesten eine nicht zu leugnende Anmut aus. Sie hatte glattes, unfrisierbares Haar, und die Sommersprossen, die im Jahrhundertsommer des Jahres 1977 in ihrem Gesicht auftauchten, vollendeten das Bild eines Findelkindes aus dem hintersten Winkel des amazonischen Regenwalds.
Die Jahre vergingen. Ann sortierte Bücher und hielt sich an die vorgeschriebene Dosierung. Hope besuchte die Grundschule auf der anderen Straßenseite. Sie hatten wenig Freunde, besuchten selten die Familie. Die Randalls trafen sich alle paar Monate auf dem Friedhof, wenn wieder einmal eine Tante oder ein Cousin der persönlichen Apokalypse anheimgefallen war. Und aus diesen Familienzusammenkünften am Grab bestand zu einem wesentlichen Teil ihr gesellschaftliches Leben. Sie führten im Großen und Ganzen ein Leben ohne Überraschungen.
An dem Tag allerdings, als Ann in der Bibliothek kündigte – nicht ohne die Bibelsammlung mitzunehmen, deren Abwesenheit im Übrigen niemand bemerkte –, geriet dieses Leben ins Wanken. Sie verdingte sich daraufhin als Kassiererin bei Sobeys und begann, beachtliche Mengen an Lebensmitteln zu horten – genug, um damit über mehrere Monate eine von der Außenwelt abgeschnittene Großfamilie zu versorgen.
Diese ernährungsphysiologische Auffälligkeit beruhte auf einer beunruhigenden Logik: Ann weigerte sich, Gemüse und frisches Obst zu kaufen – also Essware, die zu raschem Verfall verurteilt war. Ihre Nahrungsauswahl fand in Kubikmetern statt und richtete sich nach Proteingehalt und Nährwert. Aber vor allem nichts Verderbliches. Sie brachte von Sobeys unmäßige Ladungen mit nach Hause: fünf Pfund Reis, zehn Pfund Kartoffeln, vier Dosen rote Bohnen, vier Dosen geschmorte Tomaten, zwanzig Dosen Thunfisch in Olivenöl, zwanzig Dosen Birnen, zwanzig Dosen Pfirsiche, zwanzig Dosen Erbsen – und Ramen, Hunderte von Nudelpäckchen, die sie in jedem freien Winkel verstaute.
Wenn ihre Tochter sie über den Zweck dieser Vorräte befragte, antwortete Ann Randall mit geheimnisvoller Miene:
»Tauschware, wenn die Chinesen kommen.«
Die gerade achteinhalbjährige Hope fand den Humor ihrer Mutter bereits damals suspekt.