Читать книгу Tarmac - Nicolas Dickner - Страница 11

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7. Vom Schicksal getroffen

Der Sommer 1989 rückte unaufhaltsam näher.

Hopes Mutter litt unter unbeschreiblicher Angst, verschlimmert durch die Ungewissheit, nicht genau zu wissen, was auf sie zukam. Schon seit einiger Zeit hatte sie damit aufgehört, auch nur die kleinste Pille zu schlucken, und die unangebrochenen Clozapin-Fläschchen stapelten sich in der Hausapotheke. Ergebnis: Sie verbrachte ihre Abende Solitaire spielend am Küchentisch und zuckte beim leisesten Fliegengesumm zusammen, das in ihrer Phantasie sofort zu einer herannahenden Katastrophe wurde.

Durch die Wand war unablässig der Fernseher des Nachbarn zu hören, eine Mischung aus The Price Is Right, Three’s Company und Wok With Yan, untermalt von gelegentlichen Wutausbrüchen, die einem übermäßigen Bierkonsum zugerechnet werden konnten. Das Theater begann täglich um sechs Uhr morgens und dauerte bis Mitternacht – was jeden in den Wahnsinn getrieben hätte –, und Ann Randall baumelte nur noch an einem Finger über dem Abgrund, wie eine Zeichentrickfigur, die am Felsvorsprung hängt.

Ihre Angst schwoll unablässig an, bis eines Nachts im Juli das Fass überlief.

Hope befand sich gerade zwischen zwei Schlafphasen, als ein Porzellanklappern sie weckte. Jemand durchwühlte die Schränke. Sie schlich zur Küche, die aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Mit fiebrigem Blick war ihre Mutter dabei, den Kühlschrank leerzuräumen.

»Was machst du da, Mama?«

Ann Randall fuhr erschreckt herum, wie eine auf frischer Tat ertappte Einbrecherin. Sie musterte ihre Tochter einige Zeit, ohne sie zu erkennen, und räumte dann weiter den Kühlschrank aus.

»Ich packe.«

»Wo willst du hin?«

»Nach Westen.«

Ann Randall glaubte tatsächlich, mit ihrer Flucht nach Westen Zeit zu gewinnen, vielleicht, weil sie die abnehmenden Zeitzonen einkalkulierte. Aber mit größerer Wahrscheinlichkeit beruhte ihre Entscheidung auf einer obskuren biblischen Auslegung der vier Himmelsrichtungen oder einem Song von Led Zeppelin, den sie an diesem Abend im Radio gehört hatte. Wer weiß.

Hope resignierte, stieg aus ihrem Schlafanzug und warf sich die erstbesten Kleider über, die sie greifen konnte. Eine uralte, löchrige Jeans, ein T-Shirt und eine Baseballmütze der New York Mets. Seufzend packte sie ihre Tasche und stopfte auch ein halbes Dutzend ihrer Russischlehrbücher mit hinein. Sie warf einen letzten Blick in den Kleiderschrank – in ihren Kokon mit den Büchern, ihrem Fernseher, ihren Kissen und den David-Suzuki-Postern. Hope wusste bereits, dass sie nicht zurückkehren würden. Sie seufzte erneut. Warum war sie nicht in eine Familie hineingeboren worden, die auf Hirschjagd, Super Bowl oder Lokalpolitik versessen war?

In der Küche räumte ihre Mutter die letzten Vorräte aus dem Kühlschrank. Sie drückte Hope eine Tüte mit Proviant in die Arme.

»Hier, bring das ins Auto.«

Hope gehorchte widerwillig. Vor dem Haus wartete der alte Lada mit weit geöffneten Türen – eine klapprige Kiste, die im Vorjahr als Gebrauchtwagen von den mageren Familienersparnissen angeschafft worden war. Der Kofferraum quoll über vor Taschen, Krimskrams, Kleidern. Sogar den Ersatzreifen hatte Ann Randall herausgenommen, um Platz für ihre Bibelsammlung zu schaffen. Außer dem Fahrersitz waren alle Sitze mit Kisten vollgestellt, und auf dem Boden stapelten sich Mehlsäcke, Kisten mit Ramen-Nudeln, Flaschen mit Relish, Ketchup und Essig, Sojasoße sowie ein paar Senfgläser.

Hope besah sich den armen Lada, der schwer auf seine Stoßdämpfer drückte. Konnte er so überhaupt auf mehr als dreißig Stundenkilometer kommen?

Sie kehrte ins Haus zurück, griff sich im Vorbeigehen ihre Tasche und verschwand rasch im Badezimmer. Ein Stapel mit etwa zwanzig Gläschen Clozapin-Pillen wartete dort in der Hausapotheke. Plötzlich hörte man eine Wagentür zuschlagen: Ann Randall hatte sich ans Steuer gesetzt. Hope warf die Gläschen in ihren Rucksack, zog ein kleingefaltetes Rezept unter der Vaseline hervor und rannte schnell zu ihrer Mutter, bevor diese auf die Idee kam, alleine durchzubrennen.

Die Uhr der Scotiabank zeigte 4:00 Uhr und 12 °C, als die beiden Frauen Yarmouth mit fünfundfünfzig Stundenkilometern verließen – ausgerüstet mit einer Thermosflasche rötlichen Tees und einer zwischen Maine und Témiscouata eingerissenen Straßenkarte.

Hope kauerte sich auf einem freien Stückchen Rückbank zusammen und versuchte, noch ein wenig zu schlafen. Sie legte den Kopf auf ihren Rucksack, in dem die Clozapin-Pillen rasselten wie Rumbakugeln.

Sie erwachte am Vormittag mitten in Neubraunschweig. Ihre Mutter fuhr auf einem Schotterweg, der die Provinz pfostengerade in zwei Teile hieb: eine endlose Trasse gesäumt von Tausenden Hektar Fichten, die allesamt der Sägewerkdynastie Irving gehörten. Über zwei Stunden begegneten ihnen nur Kolonnen von Holztransportern und staubbedeckte Geländefahrzeuge. Irgendwo im Nordwesten der Provinz tauchten sie wieder auf und überquerten die Grenze nach Témiscouata, wo der Himmel die bei Waldbränden typische gelbliche Färbung hatte. Über der Straße flogen wieder und wieder die wasserbeladenen CL-215 hin und her.

Hope war in ihr Russischlehrbuch vertieft und sprach kein Wort. Sie wusste, dass sie auf ihre Fragen bestenfalls ein paar theologische Ungereimtheiten zu hören bekommen würde. Es war ohnehin nur eine einzige Frage von Bedeutung: Wie weit würden sie noch kommen? Ann Randall ließe sich wohl nur vom Pazifik höchstpersönlich aufhalten – und selbst dann wäre es durchaus möglich, dass sie sich kopfüber hineinstürzte. Auf jeden Fall musste etwas unternommen werden. Was würde Hope tun? Ihr blieben noch fünftausend Kilometer, um einen Plan zu schmieden.

Indessen jedoch passierte Folgendes: Das Zentralorgan ihres Kameraden Lada erlitt mitten im Torfmoor ein paar Kilometer südlich von Rivière-du-Loup plötzlich einen Kollaps, das Schicksal hatte ihn (gewissermaßen) dahingerafft. So groß war die Tragweite dieses Ereignisses, dass Mechanik nebensächlich war und es nur noch um Karmafragen ging: fünf überhitzte Ventile auf einen Streich, ein verbrutzelter Vergaser, eine ausgerenkte Kupplung und unzählige lockere Schrauben.

Der zu Hilfe gerufene Mechaniker prüfte Zahnstocher kauend das Fahrzeug auf Herz und Nieren und kam zu dem unwiderruflichen Urteil: kaputt! Es sei sinnvoller, das Wrack zum Kilopreis zu verkaufen, als hier auch nur eine Minute Arbeit zu investieren.

Ann Randall, die sich nach zwölf Stunden am Steuer wieder in einem einigermaßen vernünftigen Zustand befand, zog kurz Bilanz. Zurück konnten sie nicht mehr. Sie löcherte den Mechaniker mit Fragen über Rivière-du-Loup und befand dann, dass diese Stadt bestens geeignet war, um dort auf den Weltuntergang zu warten.

Die beiden Frauen mieteten das alte Zoogeschäft direkt neben den Abluftrohren der Restaurantküche des Chinesischen Gartens. Chinesische und kanadische Spezialitäten. Ein beachtlicher Teil ihrer Ersparnisse ging für die erste Monatsmiete drauf, so dass Ann als Lagerarbeiterin im Industrieviertel anheuern musste, wo eine ganze Horde armer Hunde damit beschäftigt war, in der Volksrepublik China gefertigte Rucksäcke mit Papier auszustopfen. Die Arbeit war erbärmlich, aber reichte zum Auskommen. Und man würde ja bald die endgültige Vernichtung der gesamten zivilisierten Welt, einschließlich der Volksrepublik China, erleben.

Ann Randall stand wankend am Rande des Abgrunds, immer kurz vor einem Rückfall, der allein durch ein winziges Detail verhindert wurde: Hope tat ihr jeden Morgen, ohne dass sie davon wusste, zwei Pillen Clozapin in den Tee.

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