Читать книгу Tarmac - Nicolas Dickner - Страница 20
Оглавление16. Der Beginn einer neuen Ära
Auf dem Schulhof herrschte der übliche Montagmorgen-Tumult. Nichts ließ darauf schließen, dass nur wenige Tage zuvor in Berlin die Mauer gefallen war.
Diese Schule war von geschichtlichen Ereignissen bestens abgeschirmt.
Auf der Treppe nach oben trafen wir Monsieur Chénard, der eine Papiertüte Zitronen mit sich herumtrug. Seit Jahrzehnten unterrichtete Chénard das Fach Chemie. Er war zur Zeit der großen Wirtschaftskrise geboren worden – also knapp nach der letzten Eiszeit –, galt als ältester Lehrer der Schule und war als Anekdotenonkel verschrien, was ihn zur Zielscheibe für manchen billigen Scherz machte.
Hope konnte ihn gut leiden, wie einen Großvater, den der Zweite Weltkrieg verschont hatte. Oft verbrachte sie ihre Mittagspausen bei ihm im Büro. Chénard stopfte seine Pfeife mit einigen Prisen dubiosen Tabaks, Hope legte ihre Füße auf den Rand des Schreibtischs, und sie diskutierten über Darwinismus, Geologie und Quantenphysik. Auf einem Bücherbrett spielte leise das Radio. Es war nicht einfach irgendein Apparat, sondern das Alter Ego seines Besitzers: ein ehrwürdiges Röhrenradio, durch das einst Eisenhower und Orson Welles zu hören gewesen waren, das mittlerweile aber nur noch den Lokalfunk auf Langwelle empfing.
Kurzum, Chénard mit seinem fleckigen Kittel, der Tüte Zitronen unterm Arm und der Pfeife hinterm Ohr stieg die Treppe in Gegenrichtung hinunter. Er grüßte uns und wechselte mit Hope ein paar Worte über das Geschehen in Berlin.
»Monsieur Chénard, wie alt waren Sie 1945?«, fragte sie plötzlich.
Überrascht zuckte er mit den Schultern:
»Ungefähr vierzehn.«
»Also erinnern Sie sich an Hiroshima?«
»An die Bombe? Ja, daran erinnere ich mich …«
Mit nachdenklichem Blick rückte er die Tüte zurecht: »Ja, an die Bombe erinnere ich mich«, wiederholte er.
Eine Welle Schüler drückte sich maulend an Backbord und Steuerbord vorbei, protestierte gegen das Hindernis, das wir bildeten, und unser alter Chemielehrer wirkte mit einem Mal wie eine dieser Filmfiguren, die unbeweglich in der Mitte eines großen Platzes stehen, während Tausende Statisten im Zeitraffer an ihr vorbeiziehen. Aber Chénard war nur nach außen hin unbeweglich: Unter der Oberfläche wanderte sein Geist mit Lichtgeschwindigkeit zurück in die Vergangenheit:
»Ich erinnere mich vor allem an die Zeitungsberichte. Es war ein Triumph.«
»Ein Triumph?«, rief ich überrascht.
»Aber ja. Kanada hatte beim Manhattan-Projekt mitgemacht. Man verkündete den Beginn einer neuen Ära. Häuser, die mit Kernenergie beheizt würden. Autos, die mit Plutonium führen. Eine unerschöpfliche Energiequelle. Grund genug für mich, in die Wissenschaft zu gehen.«
Leicht verstört, als erwachte er gerade in der Mitte eines Wildbachs, blickte er rechts und links auf die Schüler, die vorbeimarschierten. Er zwinkerte und schien nach einer Entschuldigung zu suchen:
»Mehrere Wissenschaftler fanden durch Hiroshima ihre Berufung, wisst ihr …«
Es schellte zur letzten Stunde, und als hätte sie auf dieses Signal gewartet, gab die Papiertüte nach. Dutzende Zitronen kullerten die Treppe hinunter, sprangen zwischen den Füßen der Schüler über den Boden.
Wir flitzten in unsere Klasse und ließen ihn mit seinen Zitrusfrüchten allein. Hope war allerdings beunruhigt.
»Was glaubst du, hat er mit den Zitronen vor?«