Читать книгу Tarmac - Nicolas Dickner - Страница 21
Оглавление17. Megazitronen
Wenn sich Hope eine Idee in den Kopf gesetzt hatte, gab sie diese, als echte Randall, niemals auf. Sie drehte und wendete sie in alle Richtungen wie einen Zauberwürfel – und dieser Prozess lief im Hintergrund stunden-, manchmal auch tagelang weiter. Den ganzen Tag über sah ich sie Zitronen in unterschiedlichen Größen malen: auf ihr Pult, den Rand ihres Englischhefts und auf ihre Handflächen.
Wir lüfteten das Geheimnis am späteren Nachmittag im Chemielabor: Chénard wollte uns zeigen, wie man aus einer Zitrone eine Batterie bauen konnte!
Der Versuch schien superleicht. Man steckte einfach zwei Elektroden in die arme Frucht und konnte mit Hilfe eines Voltmessers feststellen, dass der Spannungsunterschied einen sehr schwachen Stromfluss entstehen ließ. Der Stromfluss war fast nicht wahrnehmbar – er lag etwa bei 1,5 Volt –, und man hätte mehrere Hundert Zitronen in Reihe schalten müssen, um eine einfache 40-Watt-Birne zum Leuchten zu bringen. Es ging bei dem Versuch natürlich nicht darum, möglichst viel Strom zu erzeugen. Er sollte erklären, welche Rolle Zitronensäure, Zink und Aluminium bei diesem sonderbaren Vorgang spielten.
Hope und ich waren ein gefürchtetes Team – in erster Linie lag das an Hope, muss ich zugeben –, und wir waren mit dem Experiment im Handumdrehen fertig. Während ich unser Versuchsprotokoll gegenlas und die letzten Fehler korrigierte, haderten unsere Nachbarn noch mit der ihnen zugewiesenen Frucht und versuchten erfolglos, ihr den Kupferdraht durch die Schale zu rammen.
Mit einem Skalpell macht Hope sich daran, unsere Zitrone zu sezieren.
»Weißt du, woher das Wort ›Elektrizität‹ kommt?«
»Keine Ahnung.«
»Die Griechen entdeckten die statische Elektrizität durch das Reiben von Bernsteinstücken auf Fell. Auf Griechisch heißt ›Elektron‹ nämlich ›Bernstein‹.«
Hope biss in ein Viertel Zitrone und verzog das Gesicht.
»Kannst du dir vorstellen, was wäre, wenn sie damals mehr mit Zitronen rumprobiert hätten? Dann würde jetzt alles anders heißen. Wir hätten Unterricht in Zitrizität, und die Zitrone wäre eine offizielle elektrische Maßeinheit!«
»Ziemlich absurd.«
»Ja, aber alle Maßeinheiten sind absurd. Egal, ob man Zeit mit einem herunterfallenden Wassertropfen misst oder mit der Schwingdauer eines Cäsiumatoms: All das sind mehr oder weniger genaue Absurditäten. Der Rest ist kulturell.«
Ich bemerkte ein aufgeregtes Funkeln in ihren Augen. Sie schlug in ihrem Chemiebuch die Umrechnungstabellen auf und begann, Rechnungen auf den Seitenrand zu kritzeln und Zahlen in ihren Taschenrechner zu hacken.
»Was machst du da?«
»Ich rechne die Atombombe von Hiroshima in Zitronen um.«
Natürlich, ich hätte nichts anderes vor ihr erwartet.
Hope erklärte, dass ein bisschen Logik und eine Handvoll Angaben genügten, um zu einer vielleicht nicht hundertprozentigen, aber doch aussagekräftigen Voraussage des Ergebnisses zu gelangen – die berühmte Fermi-Methode.
Im vorliegenden Fall konnte man von der Tatsache ausgehen, dass eine Zitrone zwischen 15 und 20 Kalorien enthielt, das entspricht (sie ließ die Finger über ihren Taschenrechner schnellen) einem Durchschnittswert von 73,2 Kilojoule (x). Die Hiroshimabombe wiederum verfügte über eine geschätzte Sprengkraft von 15 Kilotonnen, was ungefähr 6,3 × 1013 Kilojoule (y) ergibt.
Um die Energie der Bombe umzurechnen, reicht es, y durch x zu teilen, was alles in allem 8,6 × 1011 Zitronen oder, etwas handlicher, 860 655 Megazitronen ergibt – oder einfacher gesagt: die Sauerfruchtproduktion Floridas über einen Zeitraum von 6000 Jahren.