Читать книгу Tarmac - Nicolas Dickner - Страница 13

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9. Die letzte große Phobie

Zur Tagundnachtgleiche des Herbstes hatte Hope sich bereits prächtig an ihr neues Ökosystem angepasst. Man hätte schwören können, sie habe ihr ganzes Leben hier verbracht – sogar ihr sonderbarer Akzent hatte sich ein wenig verloren. Ihr Schlafplatz blieb allerdings nach wie vor die Badewanne, was ich im Hinblick auf die Stabilität ihres geistigen Zustandes als eher beunruhigend empfand. Immer wenn ich in der Randall’schen Zoohandlung aufkreuzte, hatte ich die Befürchtung, den Ort nach einem erneuten nächtlichen psychotischen Anfall verlassen vorzufinden.

Glaubte man Hope, dann machte ich mir unnötige Sorgen: Auf das Clozapin sei Verlass. Dank dieses Wundermoleküls beschränkten sich Madame Randalls große Angstanfälle nur noch auf ein paar kleine, durchaus erträgliche Manien.

Inzwischen sah es in der Zoohandlung immer mehr wie in einer Räuberhöhle oder Junkie-Bude aus – eine Art Wegwerfwohnung. An einem Samstagmorgen nutzten Hope und ich Madame Randalls Abwesenheit und nahmen uns beherzt des Durcheinanders an.

Während ich mir den Besen schnappte, hatte Hope das schmutzige Geschirr mit Spülwasser geflutet. Ein paar Seifenblasen flogen durch die Zoohandlung und spiegelten alles wider, was sie umgab – kleine Sicherheitskopien unseres Universums.

Hope hatte mir ausdrücklich untersagt, etwas auf dem Esstisch auch nur anzurühren. Der Tisch bog sich unter einem riesigen Berg von Papier: Rechnungen, Mondphasen, kabbalistische Diagramme und Ramen-Packungen der Marke Captain Mofuku. Dieses Durcheinander war die letzte »große Phobie«, die ihr das Clozapin noch nicht hatte nehmen können: Madame Randall suchte versessen weiter nach dem Datum ihres Weltuntergangs.

Aus ihrer Sicht war die Situation ganz klar: Wenn die Apokalypse nicht, wie vorgesehen, im Sommer 1989 gekommen war, dann musste der Kalender fehlerhaft gewesen sein. Jeden Abend brütete sie über diesem Problem. Sie berechnete zwischen julianischem und jüdischem Kalender hin und her und behauptete, man habe hier und dort ein paar Schaltjahre nicht beachtet, wetterte gegen Gregor XIII. und verfluchte den inkompetenten Astronomen, der 1847 ein Komma an die falsche Stelle gesetzt hatte.

Madame Randall hatte tatsächlich einen Sprung in der Schüssel. Nachsichtig zuckte Hope die Schultern:

»Das kannst du nicht verstehen. Für einen Randall ist es beruhigend, das Datum des Weltuntergangs zu kennen. Das gibt Halt und Orientierung. Man glaubt, alles unter Kontrolle zu haben.«

Diese Erklärung verwirrte mich. Musste man daraus schließen, dass Hope, die ihre kleine Höllentour noch nicht hinter sich hatte, daran litt, nicht zu wissen, wann das Weltende kam?

Sie brach in Gelächter aus. Wie zum Teufel sollte Mary Hope Juliet Randall, eingefleischte David-Suzuki-Verehrerin vor dem Herrn, Meisterin in Algebra und Molekularchemie, zu solch mittelalterlichen Ansichten kommen!? Das wäre doch lachhaft.

Ich beendete das Thema und schob weiter meinen Haufen Krümel durch den Raum, aber Hope schien dennoch einige Stunden lang nervös zu sein. Wahrscheinlich hatte ich die falsche Schublade aufgemacht.

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