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14. Grenzmauer

Aufgrund eines Versehens eines hohen Funktionärs gestattete die DDR die Ausreise ihrer Staatsbürger von Ost nach West und öffnete etwa zehn Grenzübergänge. Wir erlebten live einen einmaligen Wendepunkt in der Geschichte. Horden feiernder Berliner passierten die Kontrollposten und rückten mit allen verfügbaren Werkzeugen der Mauer zu Leibe: mit Hammer und Meißel und anderen Rammböcken. Bei so viel Optimismus wurde einem ganz warm ums Herz.

Vor dem Brandenburger Tor drückte ein Abrissbagger gegen ein erstes Bauelement der Berliner Mauer, das laut aufs Pflaster knallte. Die Mauer fiel nicht: Sie kippte – mit verunsichernder Leichtigkeit. Ein kleiner Stupser mit dem Bulldozer sollte ausreichen, um das verruchte Bauwerk in die Knie zu zwingen? Mit wachsender Faszination sah ich das Mauerteil wieder und wieder zu Boden krachen. Der Eiserne Vorhang bestand aus Rigipsplatten. Hope zufolge war die Mauer in Wirklichkeit aus Legosteinen.

»Aus Legosteinen?«

»Legosteine aus Stahlbeton, einen Meter breit und vier Meter hoch, mit Fuß in T-Form. Das ist die vierte Generation der Berliner Mauer: das Modell Grenzmauer 75. Modulbauweise, grau und effizient.«

Jeder Tag brachte seine Dosis nutzloses Wissen mit sich.

Auf dem Bildschirm fielen die Mauerteile in immer rasanterem Tempo, und ich fragte mich, was die Deutschen nun mit all diesen Legosteinen vorhatten, die in Berlin im Weg herumlagen. Hope erklärte, dass der Wert eines original Berliner Mauerstücks auf dem lokalen Markt ein kurzzeitiges Hoch erreichen würde, bevor er dann in allen Teilen der freien Welt wieder niedersausen würde.

»Sie werden sicher versuchen, die ganzen Mauerteile in die USA zu verkaufen. Als Trophäen.«

Sie wollte sogar fünf Dollar darauf verwetten, dass in Kürze ein reicher Geschäftsmann versuchen werde, die gesamte Mauer zu erwerben, um sich so das Monopol zu sichern (die Regierung wäre sicher froh, noch etwas Profit aus dieser Sache zu schlagen, die sonst als recht kostspielige Angelegenheit in die Geschichte eingehen würde). Dann werde besagter Geschäftsmann ein Containerschiff chartern und die Mauer, Stück für Stück, sorgfältig nummeriert, bis in die Vorstadt von Orlando transportieren, um in einen fröhlichen Konkurrenzkampf mit Disney World zu treten.

Ich versuchte mir auszumalen, wie dieses Mauer-Land aussehen würde. Trist.

Vor dem Brandenburger Tor brachte derselbe Bagger dasselbe Stück Mauer zu Fall. So jung, wie sie war, wiederholte sich die Geschichte bereits. Hope schien das Gewicht eines Stücks Grenzmauer und die Transportkosten auf dem Seeweg zu überschlagen. Da bemerkte sie auf dem Couchtisch den Comic und die aufgeschlagene Amazing-X-Ray-Brillen-Werbung. Mit hochgezogener Braue überflog sie die Anzeige. Ich bereitete mich auf eine sarkastische Bemerkung vor.

»Ja doch. Du wirst sagen, das verstößt gegen alle Gesetze der modernen Physik …«

»Ich frage mich nur, warum die Jungs nicht einfach versuchen, die Frauen zu überreden, sich auszuziehen, statt solche schwachsinnigen Dinger zu bestellen. Aber, wenn ich ehrlich bin, für zwei Dollar würde ich auch nicht viel ausziehen.«

Sie wackelte mit ihren Zehen in den Wollstrümpfen und sah aus, als schätzte sie gerade den Kaufwert ihrer Füße.

Der Journalist sprach eben von den hundertvierzig Opfern, die die Mauer über die Jahre gefordert hatte, als meine Mutter mit einem Korb schmutziger Wäsche auftauchte. Sie begrüßte Hope – und hatte sofort den mitgebrachten alten Schlafsack auf dem Radar. Alarmstufe rot.

Den Wäschekorb an der Hüfte, positionierte sie sich hinter uns und schaute vermeintlich interessiert zum Bildschirm, wo das Stück Mauer wieder und wieder kippte. Sie hüstelte ein wenig, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen.

»Hope. Sehe ich das richtig, dass du hier übernachten wirst?«

»Wenn es nicht stört.«

»Ich fürchte eher, dass sich deine Mutter daran stört, glaubst du nicht?«

Hope erwiderte, fast heiter, dass man sich darum wirklich keine Sorgen machen müsste – eine Antwort, die meine Mutter keineswegs beruhigen konnte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie meine Mutter den Telefonhörer abnahm, um die Zoohandlung anzurufen, die vor kurzem ans Telefonnetz angeschlossen worden war.

Durch einen sonderbaren Zufall war Madame Randall zu Hause.

Nach der üblichen Begrüßung begann meine Mutter, den Grund ihres Anrufs darzulegen. Doch sobald sie mehr als drei Silben gesprochen hatte, übernahm Madame Randall das Gespräch – ohne dass meine Mutter mehr als »ja, ja« oder »nein, nein« einwerfen konnte.

Ich sah, wie ihr Gesichtsausdruck von Höflichkeit zu Unverständnis wechselte, dann zu völliger Bestürzung, nicht ohne zuvor die ganze Bandbreite der Verblüffung gezeigt zu haben. Sie legte auf und verschwand mit ihrem Korb schmutziger Wäsche, ohne noch ein Wort zu sagen – zur Abendbrotzeit aber brachte sie uns chinesisches Essen und eine Familienflasche Star Cola, und wir aßen mit Blick auf das frohlockende Berlin.

Ich weiß nicht, was Madame Randall meiner Mutter erzählt haben mochte, aber von nun an würde sie nie wieder murren, wenn Hope egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit in den Bunker kam, um zu essen, schlafen, arbeiten, lesen, duschen oder einfach die Zeit totzuschlagen. Meine Lieblingsasylantin hatte soeben ihr Dauervisum bekommen.

Tarmac

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