Читать книгу Tarmac - Nicolas Dickner - Страница 16

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12. Termiten

Wir saßen auf einer Bank des Stadions und streckten uns schlotternd den letzten Strahlen Herbstsonne entgegen. Eisiger Wind kam vom Fluss herauf, und man musste schon Mantel und Mütze tragen. Solche Kälte mitten im November ließ den Beginn einer neuen Eiszeit befürchten. Aus den Schränken meiner Eltern hatte ich für Hope einen alten Mantel organisieren können, der ihr nur ein wenig zu groß war. Sie sah darin aus wie ein Kind, das in einer dicken roten Decke steckte, aber das scherte sie nicht.

Seit einigen Wochen schon verlangte sie nach einer UMFASSENDEN GESCHICHTE DER FAMILIE BAUERMANN – mit allem, was diese an Wahrheiten und Legenden zu bieten hatte –, und zähneklappernd machte ich mich nun daran, ihr alles zu erzählen.

Meine Vorfahren waren Mitte des 19. Jahrhunderts aus Holland nach New Jersey ausgewandert, wo sie zunächst im Maurerhandwerk mitmischten, bevor sie sich langsam auf Zement und Beton spezialisierten. Ihrer Umtriebigkeit war es zu verdanken, dass sie kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine der größten Zementfabriken der Region besaßen: Die Bauermann Portland Cement Works.

Die Fabrik befand sich direkt am Ufer des Flusses Fresh Kills, nur einen Steinwurf von dem Ort entfernt, an dem später die größte Müllkippe der Welt entstehen sollte. Die größten Fabriken, die gigantischsten Müllkippen – Amerika war ein geheiligtes Land.

Das Goldene Zeitalter der Bauermanns fand zu Beginn des Kalten Krieges sein Ende, als die Mafia die Familie vom regionalen Markt drängte. Natürlich hatten sie versucht standzuhalten, aber nach Dutzenden Handgreiflichkeiten auf den Baustellen, Todesdrohungen, überraschenden Boykotts und einer beträchtlichen Anzahl durch Baseballkeulen zertrümmerter Betonmischerscheiben entschied mein ehrwürdiger Großvater, Wilhelm Bauermann, die Errichtung New Yorks anderen Phantasten zu überlassen.

Der Exodus der Bauermanns erfolgte an einem Morgen im Dezember 1953. Der Familienkonvoi erstreckte sich über mehrere Kilometer der Interstate 87: Betonmischer, Steinbrecher, Kieswaschanlagen und vor allem ein riesiger DRO auf zwei Tiefladern.

»Ein was?«

»Ein DRO. Das ist ein Drehrohrofen. Sieht aus wie ein dickes, leicht geneigtes Rohr. Auf der einen Seite kommen die Rohstoffe hinein, auf der anderen der fertige Klinker heraus, und der Ofen kann Tag und Nacht arbeiten, ohne Unterbrechung.«

»Spannend.«

»Kann ich weitermachen?«

»Bitte doch.«

Die Bauermanns zogen also hoch nach Neuengland, überquerten die kanadische Grenze und machten in Rivière-du-Loup schließlich Halt, im damals noch im Entstehen begriffenen Industriegebiet, nur wenige Kilometer von der Trasse der zukünftigen A 20 entfernt. Aussicht auf vielfältige Betonkonstruktionen.

Die kanadischen Müllhalden waren nicht so gigantisch, die Fabriken kleiner, und so drosselte Familie Bauermann ihren Ehrgeiz. Mein Onkel Kurt sprach manchmal noch von seiner Jugend in New Jersey, der riesigen Fabrik, die niemals ruhte, dem ständigen Hin und Her der Betonmischer, dem Dröhnen der DROs – und vor allem den Kohlebergen, von deren Gipfeln aus man die Skyline von Manhattan im fernen Dunst schimmern sah wie Bagdad aus Tausendundeiner Nacht.

Unsere Familie blieb dem Beton treu. Die Bestimmung der Bauermanns schien festgelegt wie bei einer Kolonie Termiten: Mein Vater leitete die Zementfabrik, mein Onkel Kurt führte das Betonwerk, und meine legendäre Tante Ida herrschte über die Armada der Betonmischer. Sie war die Frau auf dem illustren Foto bei uns im Kellergeschoss: Breitbeinig, mit verschränkten Armen und unerbittlichem Blick posierte sie vor einem Halbkreis chromblitzender Macks. Als ich mir einmal ein geistiges Bild von Hernán Cortés machen wollte, dachte ich an Idas Pose. Die Neue Welt konnte sich warm anziehen.

Hope musste lachen. Übertrieb ich nicht ein bisschen? Nein, ich übertrieb nicht. Für die Bauermanns bedeutete Beton weit mehr als nur Broterwerb: Wir hatten eine zivilisatorische Aufgabe, die vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde. Wir waren die Erbauer neuer Welten.

»Du übernimmst also einmal alles?«

Damit schnitt sie ein heikles Thema an: Um die Familientradition stand es derzeit nicht zum Besten. Weder Kurt noch Ida hatten Nachkommen, und mein Bruder war mit Antritt seines Psychologiestudiums gerade zum Hochverräter geworden – ein übler Schlag, den mein Vater nur schwer verwinden konnte. Als jüngster Spross der Familie war es nun mein Schicksal, ihm den Todesstoß zu versetzen, und ich fürchtete schon den Tag, an dem ich ihm verkünden musste, Vergleichende Literaturwissenschaft studieren zu wollen, statt den Stab zu übernehmen.

Hopes Gesichtsausdruck änderte sich plötzlich. Besorgt oder gereizt blickte sie hinüber zu den Bungalows. Ich wollte gerade fragen, was los sei, da fielen neben uns die ersten Hagelkörner. Drei Sekunden später prasselte der Hagelschauer los.

Schnell flüchteten wir in den Spielerunterstand.

Dieses Unwetter war ebenso heftig wie unvorhergesehen: keine Chance, unter dem dröhnenden Dach des Unterstands auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Auf dem Spielfeld sammelten sich Tausende von Hagelkörnern, weiß und makellos wie Styroporkügelchen.

Hope schaute gedankenverloren zu. Das Ende meiner Erzählung hatte sie sichtlich verstimmt, und man musste nicht lange überlegen, um zu verstehen, worin mein Fauxpas bestand: Ich hatte es gewagt, mich über etwas zu beklagen, um das Hope mich beneidete. Ich hatte einen Vater, der sich um mich kümmerte, Erwartungen in mich setzte, sich für meine Zukunft interessierte – auch wenn diese Zukunft, zu meinem Leidwesen, aus einer veralteten Zementfabrik in einem verlorenen Winkel des Landes bestand.

Frau Randall hingegen setzte keinerlei Hoffnung in ihre Tochter. Hope konnte ebenso gut Stripteasetänzerin wie Priesterin einer Pfingstkirche oder Kassiererin bei McDonald’s werden, es machte nicht den geringsten Unterschied.

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