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Wie an jedem Festtag bewiesen sich Burschen gegenseitig ihren Wagemut, indem sie in der Fassade von St. Paul’s herumkletterten. Einer davon hatte es gar auf den Dachfirst des Südportals geschafft, auf dem er herumbalancierte. Den Kopf in den Nacken gelegt, staunten etliche Schaulustige über diese Tollkühnheit und vergaßen alles um sich herum. Eine Stunde später war Nicholas um zwei leidlich gefüllte Geldbeutel reicher und wieder ganz in seinem Element. Federnden Schrittes betrat er die Kathedrale.

Das Innere von St. Paul’s war Ehrfurcht gebietend. Auf einer Allee aus turmhohen Pfeilern ruhte das Deckengewölbe des westlichen Kirchenschiffs. Farbig getöntes Licht fiel seitlich durch die Bleiglasfenster. Doch wer die Kathedrale betrat, hatte meist keinen Blick für ihre Architektur. Er wurde abgelenkt von den vielfältigen Buden in den Seitenkapellen und entlang den Säulen. Verleger und Drucker boten ihre Erzeugnisse an: lose zusammengeheftete Broschüren oder in feinstes Leder gebundene Bücher, lateinische Bibeln, philosophische, mathematische, religiöse Abhandlungen, Lehrbücher für Architektur und Medizin, Gedichtbände und Liedersammlungen. Es gab Tinte, Schreibfedern und Papiermesser zu kaufen. Ein Händler pries das so praktische Bier in Flaschen an; ein anderer Dörrobst und kandierte Früchte. Wie in einem Bienenstock summte und brummte es. Londoner Akzent mischte sich mit dem der Grafschaften Sussex oder Kent. Mit Französisch, Italienisch, Niederländisch und Flämisch, Deutsch und Böhmisch. Füße scharrten über den Stein und Gelächter quoll empor zu den Rippenbögen der Decke. Im Gebälk gurrten Tauben; Spatzen schossen mit surrendem Flügelschlag hin und her.

Eine kleine Gruppe hatte sich in einer Seitennische um den steinernen Sarkophag eines längst vergessenen Heiligen versammelt. Voller Spannung verfolgten sie, wie Nicholas die Karten durch die Luft flattern ließ und wieder fing. Wie er mit großen Gesten mischte, abhob, auffächerte, Karten aufdeckte. Nicht nur die kleinen Kinder, die sich an die Rockzipfel ihrer Mütter klammerten, sperrten Augen und Mund auf. Immer wieder ging ein Raunen von Mund zu Mund, brandete Applaus auf. Und nach jeder gewonnenen Runde strich Nicholas die Münzen ein, die auf die Steinplatte klimperten.

Eigentlich hätte er es gut sein lassen können, er hatte heute mehr als genug verdient. Aber es juckte ihn in den Fingern, einen neuen Trick auszuprobieren, den er lange geübt hatte. Schadet nichts, wenn ich es wage, dachte er bei sich. Mehr als schiefgehen kann es ja nicht . . .

Nicholas mischte das Kartendeck neu und schlug damit einen Fächer, Bildseite nach unten. Er hielt ihn dem Nächststehenden hin, einem vierschrötigen Kerl mit Haar und Bart wie aus Kupfer.

»Hier, Master, zieht eine Karte und merkt sie Euch wohl!« Gehorsam tat der Mann, wie Nicholas ihn geheißen hatte. Er betrachtete die Karte genau, zeigte sie den Umstehenden, sorgsam darauf bedacht, dass Nicholas sie nicht zu Gesicht bekam. Dann schob er sie wieder in den Fächer, Rückseite unverändert nach oben. Nicholas mischte und hob dreimal ab. Er mischte erneut, bog die Karten leicht durch und ließ sie wie aufgefädelt von einer Handfläche in die andere schnurren. Seine Hand mit dem Kartenstapel glitt flach über den Sarkophag und hinterließ eine pfeilgerade Bahn gemusterter Kartenrückseiten. Verschmitzt lächelnd sah er der Reihe nach in die Gesichter vor ihm, um die Spannung noch zu steigern. Dann hob er die zuunterst liegende Karte an einer Ecke an und mit einem Rauschen klappten die Karten nacheinander um wie Dominosteine.

»Und, Master – findet Ihr Eure Karte wieder?«

Fast ein Dutzend Köpfe beugte sich über das ausgebreitete Kartenspiel, allen voran der rothaarige Mann. Ein paar Herzschläge lang war es totenstill.

»Das ist unmöglich«, brummelte der Mann in seinen Bart. Hektisch begann er, beidhändig die Karten zu durchwühlen, wild durcheinanderzuschieben. »Mein Herz-Ass! Mein Herz-Ass fehlt!«

Einige Zuschauer sogen scharf die Luft ein, andere tuschelten aufgeregt miteinander.

Nicholas breitete in einer stolzen Geste die Arme aus und sonnte sich in seinem Erfolg. Jawohl, Mesdames et Messieurs, jubelte er im Stillen, vor Euch steht Nicholas Christchurch, der größte Kartenkünstler aller Zeiten! Doch der tosende Beifall, auf den er wartete, stellte sich nicht ein. Stattdessen wichen die Menschen spürbar vor ihm zurück. Eine der Frauen zerrte gar ihr Kind hinter ihren voluminösen Rock. Ein Flüstern hob an, wurde lauter.

»Der Teufel! Er steht mit dem Teufel im Bund! Satansbrut!«

Nicholas wurde blass um die Nase. Ehe er auch nur einmal geblinzelt hatte, hatte ihn der Rothaarige auch schon am Kragen gepackt, dass nur noch Nicholas’ Zehenspitzen den Boden berührten. Drohend schüttelte er den Jungen. »Wir werden den Teufel schon aus dir austreiben, Bürschchen!«

»Ähm, Mo-Moment«, krächzte Nicholas. Verzweifelt zermarterte er sich das Gehirn, wie er sich aus dieser misslichen Lage wieder befreien könnte.

»Verzeiht, dürfte ich?« Ein älterer Herr schob sich durch die Zuschauer. »Ich glaube, ich kann etwas Licht in diese Angelegenheit bringen.« Er tippte höflich auf die Schulter des selbst ernannten Inquisitors. Verdutzt ließ dieser Nicholas los.

Nicholas blickte ähnlich verwirrt drein wie die Übrigen, als sich der ältere Mann dicht neben ihn stellte. Das lange schwarze Gewand mit der Halskrause wies ihn als Gelehrten aus, ebenso das dicke, in rotes Leder gebundene Buch, das er unter den Arm geklemmt hatte. Doch auch wenn sein langer Bart weiß war, wirkte sein Gesicht unter der runden Kappe jugendlich. Nicholas glaubte für einen Moment gar, einen Funken Schalks in den braunen Augen aufglimmen zu sehen.

»Zähl bis sieben und dann lauf hinüber in den Chorraum«, raunte ihm der Mann in Schwarz zu, als er sich amüsiert über den Bart strich. Laut und gut verständlich jedoch fragte er: »Du gestattest?«

Gezielt fischte er das Herz-Ass aus Nicholas’ Ärmel. Triumphierend präsentierte er den verblüfften Zuschauern die Karte. »Seht Ihr: eine ganz einfache Erklärung!«

Sieben. Nicholas spurtete los, noch ehe er die empörten Aufschreie hörte. »Betrüger! Haltet den Halunken! Haltet ihn!«

Die Besucher von St. Paul’s drehten sich neugierig nach Nicholas um, der Haken schlug wie ein Hase. Ein Spaßvogel wollte ihm ein Bein stellen, doch Nicholas sprang darüber hinweg. Einen Augenblick lang war er versucht, durch das Nordportal zu flüchten. Doch er rannte weiter, wie ihn der Mann mit dem weißen Bart geheißen hatte. In zwei Sätzen war er die Stufen zum Chorraum hinauf und jagte den gemusterten Steinboden entlang. Die geschnitzten Chorstühle flitzten links und rechts an ihm vorbei. Als außer dem Hallen seiner Schritte und seinem Keuchen nichts mehr zu hören war, blieb er schließlich stehen.

Der hohe, weite Raum war verlassen. Und nun? Die Arme in die schmerzenden Seiten gestützt, sah Nicholas sich ratlos und schwer atmend um. Deckung suchen, aber fix, gab er sich selbst zur Antwort. Am Ende des Chorgestühls erspähte er hinter einem Spitzbogen eine Wandnische, die im Dunkeln lag. Na bitte, kommt ja wie gerufen, nichts wie hinein! Erleichtert ließ Nicholas sich gegen die Wand fallen und rutschte in die Hocke hinab, nach Luft ringend.

Im nächsten Moment gab die Wand hinter ihm nach und er purzelte rückwärts über eine hölzerne Schwelle, hinaus ins Freie.

»Ah, da bist du ja schon!« Die Klinke der winzigen Seitentür noch in der Hand, sah der Mann in Schwarz vergnügt auf ihn hinunter. »Kann ich mir die Suche sparen. Der Chorraum mit den ganzen Nischen und Ecken ist doch ein wenig unübersichtlich gebaut.«

Das Haus der Spione

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