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London, Anfang November Anno Domini 1582

Nicholas’ Revier reichte weit. Die meiste Zeit verbrachte er am südlichen Ufer der Themse, in Southwark. Southwark war das Vergnügungsviertel Londons, eingeklemmt zwischen hochherrschaftlichen Häusern. Ein Kontrast, wie er größer nicht hätte sein können. Auf der einen Seite die hohen Mauern, die die Villen mit ihren gepflegten Gärten abschirmten; auf der anderen die halbwegs respektablen Gasthäuser und üble Spelunken. Dazwischen brauten Holländer ihr Bier, hatten Franzosen ihre Weberstuben – Hugenotten, die vor gut einem Jahrzehnt aus ihrem bürgerkriegsgeschüttelten Land geflohen und hier hängen geblieben waren. Je näher man dem Wasser kam, desto enger und düsterer wurden die Gassen, aber auch bunter und lebendiger.

Zu jeder Jahreszeit tummelten sich hier Vergnügungssüchtige aus London selbst, aber auch Ausflügler vom Land, die etwas erleben wollten. Sie bestaunten die Tänzer in ihren bunten Kostümen, die Artisten, die waghalsig aufeinander herumturnten, die Straßenmusikanten und Jongleure, die Balladensänger und Puppenspieler. Für einen Penny konnte man in der hölzernen Arena zusehen, wie zähnefletschende Hunde einen Bären oder einen Bullen hetzten. In derselben Arena und in manchen Hinterhöfen wurden auch Theaterstücke aufgeführt, begleitet von Beifall und Jubel – oder von Buhrufen, fliegenden Tomaten und faulen Eiern, je nachdem. Betrunkene torkelten tags und nachts durch den Straßendreck und ihr Johlen und Krakeelen hallte von den Wänden wider. Manch eine Münze wurde mildtätig einem der Bettler gespendet, die durch den Unrat schlurften oder an der Ecke kauerten. Blauäugige Landburschen und eitle Gecken verloren ihren Geldbeutel an Taschendiebe oder verwetteten ihr Geld beim Würfelspiel. Southwark war zu Nicholas’ neuer Heimat geworden, seit er an jenem Maitag für immer dem Pfarrhaus entflohen war. Doch heute sprang Nicholas in eines der zahlreichen Fährboote, die von einem Ufer der Themse an das andere übersetzten. Er wollte sein Glück in der City versuchen. Auf der Cheapside beispielsweise, der prächtigen Einkaufsmeile, die für ihre Juweliere, Goldschmiede und Uhrmacher berühmt war. Auch die Royal Exchange war ein lohnendes Ziel. Hinter den Kolonnaden um den großen, quadratischen Innenhof und im ersten Stockwerk gab es in über hundert Läden alles, was das Käuferherz begehrte: bunte Trinkgläser, exotische Gewürze, Parfum und Räucherwerk, Federn in allen Farben des Regenbogens. Kunstvoll gelockte Perücken, bestickte Stoffe und Heilkräuter bis hin zu kompletten Ritterrüstungen warteten auf den mit genügend Silberlingen ausgestatteten Kunden.

Leise vor sich hin pfeifend schlenderte Nicholas die Threadneedle Street mit ihren Schneidern und Kurzwarengeschäften entlang.

»Mist«, entfuhr es ihm unwillkürlich, »der hat mir heute gerade noch gefehlt!« An einem Hauseingang lehnte mit verschränkten Armen der Lange Tom, unverwechselbar in seinem kanariengelben Wams und der langen roten Feder an der Kappe. Seit Nicholas sein täglich Brot auf der Straße verdiente, machte Tom ihm das Leben schwer. Auch heute blickte er ihm wieder angriffslustig entgegen. Nicholas erwiderte Toms Blick eisig. Und musste im nächsten Moment an sich halten, um nicht loszuprusten. Denn Toms rechtes Auge zierte eine gelblich verfärbte, noch deutlich sichtbare Schwellung. Sieh an, frohlockte Nicholas im Stillen, habe ich letzte Woche doch einen guten Treffer gelandet! Kurz überlegte er, ob er an ihrer letzten Begegnung anknüpfen sollte, um ihre Revierstreitigkeiten ein für alle Mal auszutragen. Aber als vor ihm wie aus dem Boden gestampft ein halbes Dutzend bulliger Jungen auftauchte, die sichtbar auf Randale aus waren, verwarf Nicholas diesen Gedanken sofort wieder. Einen Kampf mit Toms Schlägertruppe vom Zaun zu brechen, das erschien ihm heute eine Nummer zu groß. Er nickte Tom hoheitsvoll zu, wechselte in aller Gemütsruhe die Straßenseite und bog in Richtung St. Paul’s ab.

In der alten Kathedrale wurden schon lange keine Gottesdienste mehr abgehalten. Moos überzog die dicken Grundmauern. Die Bögen, Säulen und Türmchen bröckelten langsam auseinander. Vom ehemals stolzen Kirchturm in der Mitte des gewaltigen Kirchenschiffs war nach einem Blitzschlag nur noch ein plumper Stumpf übrig geblieben.

In und um St. Paul’s war immer was los. St. Paul’s war der zentrale Treffpunkt der Stadt; hier verabredete man sich, tauschte Neuigkeiten und Gerüchte aus und besiegelte Geschäfte mit einem Handschlag. Auf dem ehemaligen Kirchhof prangerten Prediger lautstark den Sittenverfall an, beklagten selbst ernannte Weltverbesserer Missstände im Land. Unweit des Hauptportals blieb Nicholas stehen und tat so, als wartete er auf jemanden. Geübt ließ er dabei seine Blicke über die Passanten schweifen, auf der Suche nach einem Bauerntölpel oder einem angetrunkenen Edelmann, den er anrempeln und dabei um seinen Geldbeutel erleichtern konnte. Nicht dass Nicholas knapp bei Kasse gewesen wäre. Im Gegenteil: Sein eigener Lederbeutel, geschickt unter dem gefütterten Wams versteckt, war gut gefüllt. Nicholas hatte jedoch läuten hören, dass die Zeit von Dreikönig bis nach Ostern in seinem Metier immer eine dürre war. Bis dahin wollte er so viel auf der hohen Kante haben, dass er in diesen Monaten keinen Hunger würde leiden müssen.

»Ich kann dir deine Zukunft voraussagen.«

Nicholas fuhr herum. Der Atem der Flüsterstimme an seinem Hals hatte ihm einen Schauder den Rücken hinabgejagt. Sie gehörte zu einem Zigeunermädchen, etwa in seinem Alter und einen halben Kopf kleiner. Ihr Kleid war geflickt und verdreckt, das bronzene Gesicht schmutzig und ihre dunklen Locken zerzaust. Zigeuner waren nichts Ungewöhnliches in den Straßen von London. Aber Nicholas hatte bislang immer einen großen Bogen um sie gemacht; irgendwie waren sie ihm unheimlich. Und auch jetzt riet ihm eine innere Stimme, das Weite zu suchen. Doch Nicholas blieb wie angewurzelt stehen. Das Mädchen lächelte ihn kess von unten herauf an und schnappte sich dann einfach seine rechte Hand.

»Mal sehen . . .« Konzentriert starrte sie in seine Handfläche und runzelte die Stirn. »Seltsam, deine Lebenslinie ist am Anfang ganz verschwommen. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Nicholas hätte ihr am liebsten die Hand entzogen. Allein die Vorstellung, was sie daraus herauslesen mochte, war ihm unangenehm. Aber ihre dunklen Augen mit dem Funkeln darin, die immer wieder zwischen den Linien in seiner Handfläche und seinen eigenen Augen hin- und herwanderten, hielten ihn gefangen wie unter einem Bann.

»Von dort aus ist sie dann klar erkennbar und tief eingegraben.« Sie tippte mit ihrem Zeigefinger nachdenklich in seine Handfläche. »Sie verläuft jedoch nicht gerade, sondern im Zickzack. Du wirst ein langes Leben haben, aber gewiss kein eintöniges. Ich sehe – ich sehe große Aufgaben und große Gefahren.«

Es durchlief Nicholas heiß und kalt, als sich das Mädchen auf die Zehenspitzen stellte, ihm ihre Hand auf die Schulter legte und ihm ins Ohr raunte: »Sei auf der Hut und halt die Augen offen – da ist ein Mann, der dich beobachtet!«

Ehe Nicholas den verwünschten Knoten in seiner Zunge lösen und nachfragen konnte, was sie meinte, lenkte ihn mehrstimmiges Gebrüll ab.

»Zieh Leine, du dreckiges Papistenschwein! Hau bloß ab und lass dich hier nie wieder blicken!«

Ein besser gekleideter Junge in seinem Alter stolperte über das Pflaster, schluchzend und das sommersprossige Gesicht tränenverschmiert. Ihm auf den Fersen war eine Horde Burschen, die ihm Schimpfnamen und Drohungen hinterherriefen. Immer wieder bückte sich einer von ihnen in vollem Lauf, klaubte einen losen Stein vom Pflaster und warf ihn nach dem Opfer der Treibjagd. Einzelne Spaziergänger auf dem Platz vor der Kathedrale blieben stehen, glotzten, machten aber keine Anstalten einzuschreiten. Ein oder zwei von ihnen grinsten gar. Der Junge heulte auf, als ihn ein Stein zwischen den Schulterblättern traf, stürzte aber weiter vorwärts. »Götzendiener! Papistischer Drecksack!«

Nicholas zuckte es in den Beinen, dem armen Kerl zu Hilfe zu kommen. Dennoch rührte er sich nicht von der Stelle. Offiziell war es nicht verboten, dem katholischen Glauben anzuhängen. Solange man nur regelmäßig den Gottesdienst der protestantischen Kirche besuchte, konnte jeder in seinem stillen Kämmerlein glauben, was er wollte. Immer wieder flammte jedoch der Hass gegen die Papisten auf und Nicholas war nicht das erste Mal Zeuge eines solchen Vorfalls. Und wenn er auch einen Widerwillen gegen die strengen Grundsätze des reformierten Glaubens hegte, die Pastor Hardcastle in ihn hineinzuprügeln versucht hatte, so empfand er doch eine gewisse Scheu vor den Katholiken. Zu schlecht war ihr Ruf als Verräter an Kirche und Königin und die Erinnerung an die Jahre vor Elisabeths Herrschaft, als die Inquisition Protestanten als Ketzer auf den Scheiterhaufen geschickt hatte, war kaum verblasst.

Dennoch drückte ein dicker Klumpen schlechten Gewissens von hinten gegen Nicholas’ Brustbein. Zu seiner Erleichterung rettete sich der Junge in einen Hauseingang und verschwand darin. Seine Häscher, erhitzt vom Jagdfieber, blieben außen vor. Enttäuschung auf den Gesichtern, beratschlagten sie sich kurz und trollten sich missmutig. Einer von ihnen schleuderte den Stein, den er noch in der Hand hatte, halbherzig an die Hauswand und schickte einen Fluch hinterher.

Als Nicholas aufatmete und sich umblickte, war er wieder alleine. Ebenso plötzlich, wie das Zigeunermädchen an seiner Seite aufgetaucht war, war sie nun auch verschwunden. Suchend blickte er sich zwischen den Vorübergehenden und Umstehenden um, doch das Mädchen war nirgendwo zu sehen. Er schüttelte den Kopf über diese seltsame Begegnung und setzte seinen Weg um St. Paul’s fort.

Als er an der nächsten Ecke seiner Gewohnheit nach über sein Wams strich, hielt er erschrocken inne. Die Ausbuchtung unterhalb des Rippenbogens war nicht mehr zu fühlen. Sein Geldbeutel war fort!

»Diese Rotzgöre! So eine blöde Gans! Dreimal verflixt und Halleluja! Ich Esel!« Die Passanten sahen ihn an, als wäre er aus dem Tollhaus entflohen. Er wütete und tobte und trat mehrmals gegen die Mauern eines Hauses, bis sein Fuß schmerzte.

Das Haus der Spione

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