Читать книгу Das Haus der Spione - Nicole-C. Vosseler - Страница 17

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Mortlake war ein merkwürdiges Haus. Es war alt, sehr alt. Unter der Bürde der Jahrhunderte hatten sich die Mauern zu krümmen begonnen wie der Rücken und die Glieder eines Greises. Einst war es wohl der Landsitz eines wohlhabenden Mannes gewesen, eines Ritters oder eines Adligen vielleicht. Davon zeugten noch die großen, prachtvollen Säle mit ihren in geometrischen Mustern gefliesten Böden und die Fenster aus buntem, bleigefasstem Glas. Doch Mortlakes Vergangenheit war nicht immer glorreich gewesen. Nachträglich ersetzte Fensterscheiben, die zu den ursprünglichen nicht so recht passen mochten, Sprünge und Macken in Stein und Fliesen verrieten, dass das Haus auch schwierige, einsame Jahre gesehen hatte. Jede Generation von Besitzern hatte Spuren hinterlassen: ungeliebte oder weitervererbte Schränke, Tische, Betten, Wandteppiche; schief getretene Treppenstufen und zerschrammte Holzböden. Vor allem war das Haus mit der Zeit gewachsen. Immer wieder hatten seine Bewohner neue Räume und Gänge zu den schon bestehenden hinzugefügt und so ein wahres Labyrinth geschaffen, in dem ein Neuling sich leicht verirren konnte.

Doch nicht weniger merkwürdig als das Haus selbst war das, was es darin zu sehen gab. Rasch stellte Nicholas fest, dass ein Tag nicht ausreichte, um alles zu besichtigen. So spazierte er erst einmal durch den Westflügel, in dem sich auch die Bibliothek befand. Die vielen Türen hier zogen ihn magisch an. Er konnte sich kaum entscheiden, welche er zuerst öffnen sollte. Aber da wohl eine so gut wie die andere war, nahm er gleich die erste, die sogar einen Spalt weit aufstand. Vorsichtshalber lugte er über seine Schulter, ob ihn niemand beobachtete, dann schob er die Tür auf und trat ein.

In dem Raum roch es süß und staubig. Die Luft war schwer von einem Gemisch verschiedenster Düfte und Aromen. Ringsum standen Regale, zum Bersten vollgestopft mit Flaschen in allen Größen und Formen, die Öle in verschiedensten Farben enthielten. Krüge und Töpfe mit Salben und Tinkturen drängten sich dazwischen, Säckchen voller Granulate und Pülverchen. Auf Steingutdosen waren die lateinischen Namen von Pflanzen zu lesen. In Körbchen lagerten getrockneter Rosmarin und Beifuß, Salbei und Kamille, Lavendel und Johanniskraut. Mutig geworden, zog Nicholas die Schubladen eines Apothekerschrankes auf. Er pfiff leise durch die Zähne, als er die Kristalle darin sah. »Meine Herrschaften, da liegt ja ein ganzes Vermögen einfach so herum«, entfuhr es ihm angesichts der hühnereigroßen Klumpen und Splitterhäufchen von Rosenquarz, Amethyst, Beryll, Bergkristall, sogar von Rubinen. Es juckte ihn in den Fingern, ein paar der Steinchen einzustecken. Ein paar Herzschläge lang rang Nicholas mit sich und der Versuchung. »Einige Bröckchen hiervon würden sicher nicht vermisst«, stellte er halblaut fest und streckte die Hand danach aus. »Andererseits«, überlegte er weiter, »kann ich mich hier immer noch bedienen, wenn ich weiß, was sich im Haus sonst noch so an Schätzen verbergen mag!« Heldenhaft schloss er eine Schublade nach der anderen wieder, ohne die Edelsteine auch nur berührt zu haben. Allerdings entrang sich ihm ein Sehnsuchtsseufzer bei dem Gedanken, mit nur einem Handgriff reich sein zu können.

Auf dem Tisch in der Mitte befanden sich in Metallgestellen gläserne Kolben, die mit Schläuchen untereinander verbunden waren. Messerchen und schmale Löffel lagen neben Mörsern und Stößeln aus Kupfer, Zinn und Stein. Und die dicke Rußschicht an der Decke verriet, dass manch ein Experiment schon buchstäblich in Feuer und Rauch aufgegangen war. Nicholas nahm einen der Mörser und schnupperte an dem grünlichen Pulver darin. »Urgh«, würgte er hervor und stellte das Gefäß schnell wieder ab, ehe sein Magen einen Purzelbaum zu schlagen drohte.

Der Raum nebenan war anscheinend ganz der Geografie vorbehalten. Unzählige zusammengerollte Pergamente steckten in den Fächern offener Schränke. An den Wänden hingen gerahmte Karten, die auf zwei aneinanderstoßenden Kreisen die Nord- und die Südhalbkugel zeigten, verschwenderisch mit Fabelwesen und mythologischen Gestalten ausgeschmückt. Auf der einen entdeckte Nicholas einen handschriftlichen Zusatz. Kaum zu entziffern. Er trat näher an die Karte heran, bis seine Nasenspitze fast über die Tinte wischte. Mühevoll begann er, die an den unteren Rand gequetschten Worte zu entziffern. »Meinem«, übersetzte er murmelnd aus dem Lateinischen, »meinem geschätzten Freunde Johannes – ah, wahrscheinlich für John – Dee aus der gemeinsamen Zeit in Löwen mit den besten Wünschen. Gerardus Mercator, Duisburg 1569. – Nicht schlecht«, überlegte Nicholas halblaut, »eine Weltkarte gewidmet zu bekommen.« Sein Blick wanderte weiter und fiel auf einen großen, mit einer ähnlichen Weltkarte bemalten Ball, der in einem Holzgestell mit massivem Metallfuß auf dem Boden stand. »Ein Globus«, flüsterte Nicholas hingerissen. Zwar hatte er schon gehört, dass es Modelle vom Erdball gab, aber er hatte bislang noch nie ein solches zu Gesicht bekommen. Der Globus war so groß, dass Nicholas ihn selbst mit beiden Armen nicht vollständig umschlingen konnte. Staunend umschritt er ihn und besah ihn sich von allen Seiten. Vorsichtig gab er der Kugel einen Stoß und lächelte verzückt, als diese sich in Bewegung setzte und eine halbe Drehung machte. Ein kleinerer Bruder dieses Globus stand auf einem der Wandschränke, in dem sich ein Stapel riesiger ledergebundener Atlanten türmte.

Auch auf dem großflächigen Tisch in der Mitte lag ein Atlas, in der Mitte aufgeschlagen. Nicholas blätterte zurück bis zur Titelseite. »Theatrum Orbis Terrarum«, las er davon ab, »von Abraham Ortelius.« Rings um den Atlas verstreut lagen Pergamente. Karten, wie Nicholas bei genauerer Betrachtung feststellte. Eine Karte zeigte ganz Europa. Die einzelnen Königreiche und Fürstentümer waren verschiedenfarbig voneinander abgegrenzt. Manche Städtenamen waren von Hand eingekreist. Auf dem dicksten Packen lag obenauf eine tintenfeuchte Feder, als hätte jemand noch vor Kurzem mit den Plänen gearbeitet. Nicholas schob sie behutsam zur Seite und blätterte durch die darunterliegenden Karten. Auf der Englandkarte waren mehrere Stellen angekreuzt und mit Anmerkungen versehen. »Schloss Sheff-Sheffield«, buchstabierte er sich durch die krakelige Handschrift, »Earl of . . . Shrovvsberry . . . oder Shrewsbury?« Dahinter stand ein Kürzel, das komplett unleserlich war. Zwar ähnelte es den Initialen »MS«, aber ebenso gut hätte es Ziffern oder ein Symbol darstellen können. Unter der Englandkarte lag eine Ansicht von London, auf der Nicholas viele Straßen und Plätze wiedererkannte. Die Stadt auf der nächsten Karte war Nicholas jedoch völlig fremd, obwohl London ähnlich und ebenfalls von einem gebogenen Flusslauf durchzogen. »Paris«, murmelte er verblüfft, als er die Beschriftung in der oberen Ecke las. Einzelne Häuser waren angekreuzt, aber aus welchem Grund oder zu welchem Zweck, wollte sich Nicholas nicht erschließen. Merkwürdig, grübelte er, wozu bräuchte man hier in Mortlake denn auch einen Stadtplan von Paris?

»Da brat mir doch einer einen Storch!« Nicholas fuhr zusammen. In der Tür stand ein hagerer Mann in einer schwarzen Kutte, die schäbig wirkte im Vergleich zu Dees Gelehrtengewändern. Seine Stimme klang unnatürlich hoch. »Was hast du Lümmel hier zu suchen?«

Nicholas ließ die Pläne einfach auf den Tisch zurückflattern und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, als könnte er so ungeschehen machen, dass man ihn beim Schnüffeln erwischt hatte. »Ni-hichts!«, verkündete er kieksend und mit aufgesetztem Unschuldsblick. In zwei Riesenschritten war der Mann an den Tisch gehastet und hatte die Karten zusammengeklaubt, die Nicholas eben noch begutachtet hatte. Böse funkelte er den Jungen aus schwarzen, tief liegenden Augen an. Sein Gesicht wirkte unheimlich, weil es komplett umschlossen war von einer eng anliegenden Kappe, die kein Härchen und nichts von den Ohren sehen ließ. Nur die scharf geschnittenen, nackten Gesichtszüge blickten Nicholas eisig an. Nicholas unterdrückte ein Schaudern, als ihm der Gevatter Tod aus seinem Tarotspiel einfiel. »Wie kommst du überhaupt in dieses Haus?«, herrschte ihn der Mann weiter an.

Nicholas reckte sich stolz empor. »Ich arbeite seit heute hier. Für den Magus.« Zufrieden sah er ein winziges Flackern in den Augen seines Gegenübers, der sichtlich überlegte, ob er dem Jungen Glauben schenken oder ihn als Lügner hinauswerfen sollte. »Nun«, gab der Finsterling schließlich gepresst zur Antwort, »dann hast du sicher Besseres zu tun, als deine Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen. Raus mit dir, aber auf der Stelle!« Die Pläne hielt er noch immer umklammert, als fürchtete er, Nicholas könnte sie ihm entreißen.

Nicholas trollte sich gespielt demütig mit gesenktem Kopf. Für heute war ihm die Entdeckerlust erst einmal verdorben. Aber morgen war ja schließlich auch noch ein Tag . . .

Ein grummelndes Ziehen in seiner Magengegend und entzündete Lampen im Korridor machten ihn darauf aufmerksam, dass über dem Stöbern der Nachmittag wie im Flug vergangen war. Hungrig trabte er in Richtung der Küche und seine Nase fing bald die ersten verlockend duftenden Schwaden ein, die von dort durch das halbe Haus zogen.

Die Tür zur Küche stand offen. Zögerlich blieb Nicholas auf der Schwelle stehen. Wie er an diesem Morgen richtig vermutet hatte, hatten sich alle Dienstboten des Hauses hier zum Essen versammelt. Manche standen aber noch herum, lachten und schwatzten, während andere sich bereits in Erwartung des Abendessens an den langen Tisch gesetzt hatten. Eine beleibte Frau schleppte einen großen Topf heran und setzte ihn mit lautem Ächzen mitten auf dem Tisch ab. Ihr Blick fiel auf Nicholas.

»Wer bist du?« Mit einer Schöpfkelle wies sie streng in seine Richtung.

»Nicholas«, antwortete er offenherzig. Die Kelle machte ein paar ungeduldige Schlenker.

»Das meine ich nicht. Wo gehörst du hin?« Was Nicholas eine sehr berechtigte Frage fand, auf die er aber auf die Schnelle keine wirklich zufriedenstellende Antwort fand. Die Köchin (denn um diese handelte es sich wohl) rollte mit den Augen. »Ob du Personal bist oder zum Doktor gehörst, wollte ich wissen.«

Nicholas’ Miene hellte sich auf. »Zum Doktor.«

»Dann bist du hier falsch!« Der Schöpflöffel wedelte erst verneinend horizontal, dann richtungsweisend vertikal. »Wieder zurück, dritte Tür auf der linken Seite!«

Nicholas bedankte sich artig und marschierte in die angegebene Richtung. An besagter Tür traf er auf Dr. Dee, der aus der anderen Richtung herbeigeeilt kam. »Ah, Nicholas, du hast den Weg gefunden«, rief er ihm schon von Weitem entgegen und verzog das Gesicht. »Eigentlich habe ich gar keine Zeit für eine ausgiebige Mahlzeit. Aber meine Frau ist der Meinung, dass wir wenigstens am Sonntagabend alle beisammensitzen sollten.« Gemeinsam mit dem Magier betrat Nicholas den Raum.

An der Ecke einer langen Tafel saß Mistress Dee, ihr gegenüber eine bleiche, ein wenig mollige Frau, die Nicholas als Mistress Kelley vorgestellt wurde. Bei der Erwähnung ihres Namens schien sie aus einem seligen Halbschlummer aufzufahren, in den sie aber augenblicklich wieder zurücksank. Weiter unten saßen die Studenten, die Nicholas aus der Bibliothek kannte, sowie zwei weitere Herren, die Dr. Dee als »Gäste auf der Durchreise« bezeichnete und die allesamt in ein sich kreuz und quer über den Tisch hinwegspinnendes Gespräch vertieft waren.

»Ihr kennt euch wohl auch noch nicht«, sagte Dr. Dee über Nicholas’ Kopf hinweg zu jemandem, der gleich nach ihnen das Speisezimmer betrat. Nicholas wandte sich um und erstarrte. »Darf ich bekannt machen: Nicholas – mein Gehilfe Edward Kelley.« Im Türrahmen stand, wie in einer absurden Wiederholung ihrer Begegnung kurz zuvor, der Finsterling aus dem Kartenzimmer.

Das Haus der Spione

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