Читать книгу Das Haus der Spione - Nicole-C. Vosseler - Страница 5
Prolog
ОглавлениеLondon, den 6. Dezember Anno Domini 1569
Samuel Shipwash hatte es eilig. So eilig, dass er sich nicht einmal die Mühe machte, sein gepolstertes Wams zu schließen. Dabei war die Luft draußen schneidend kalt, stach unangenehm durch den dünnen Stoff seines Hemdes und ließ ihn frösteln. Aber den sich vorwölbenden Bauch einzuziehen und an den Verschlussbändern herumzunesteln – nein, das lohnte sich nicht. Nicht für die paar Schritte von seinem Haus am Bull Head Court bis zur Kirche. Außerdem hätte er sich dann eingestehen müssen, dass er das Wams kaum noch zubekam. Dabei stand die Weihnachtszeit mit all den Leckereien erst noch bevor! Sein Magen zog sich knurrend zusammen, als er an den Eintopf dachte, der über dem Feuer in der Küche vor sich hin blubberte, aus Erbsen, Möhren, Zwiebeln, mit großen Stücken fetten Hammelfleisches darin. Ein Grund mehr, sich zu beeilen. Ganz abgesehen davon, dass Mistress Shipwash schnell ungehalten wurde, wenn sie mit dem Essen auf ihn warten musste.
In großen Schritten hastete er über den Platz. Es hatte geschneit, nur einen Hauch, und die Kristalle auf dem gefrorenen Boden knisterten unter den Sohlen seiner Stiefel. Durch Ritzen in den hölzernen Fensterläden der Nachbarhäuser blinzelte Licht hervor. Um diese Jahreszeit dämmerte es bereits am Nachmittag und nun, am frühen Abend, herrschte schon schwarze Nacht. Doch Samuel Shipwash kannte seinen Weg im Schlaf. Seit gut zehn Jahren oblag ihm als Küster des Londoner Stadtteils Newgate die Sorge um das Erscheinungsbild der trutzigen Christ Church. Eine Sorge, der er mehr oder minder gewissenhaft nachkam.
Es waren Franziskanermönche gewesen, die vor langer Zeit das Kloster mit dem dazugehörigen Gotteshaus errichtet hatten. Damals hatten sowohl England als auch das übrige Europa nur einen Glauben gekannt. Jene Mönche hätten sich gewiss nicht träumen lassen, dass eines Tages ein deutscher Ordensmann namens Martin Luther mit seinen Weggefährten eine Spaltung der Christenheit in Katholiken und Protestanten auslösen würde. Und noch viel weniger hätten sie es für möglich gehalten, dass ein englischer König bald darauf diese Entwicklung nutzen würde, um seine eigene protestantische Kirche zu gründen. So wie es Heinrich VIII. getan hatte. Allein zu dem Zweck, sich von seiner ersten Frau Katharina von Aragón scheiden zu lassen, die ihm nur die Tochter Maria Tudor geboren hatte, nicht aber den ersehnten Thronerben. Die Franziskaner waren vertrieben worden, wie ihre Brüder und Schwestern aus allen Klöstern des Landes. Ihre großartige Kirche jedoch hatte die Zeit überdauert und blickte seither streng auf den winzigen Stadtteil herab, der zu ihren Füßen gewachsen war.
Über solche Dinge dachte Samuel Shipwash allerdings nie nach, während er die schweren Kirchenportale auf- und zuschloss, Kerzen anzündete oder auslöschte und auch sonst nach dem Rechten sah. Er war kein gläubiger Mensch, und ob England nun katholisch oder protestantisch war, spielte für ihn keine große Rolle. Hauptsache, es herrschte Frieden, er hatte einen vollen Magen und ein Dach über dem Kopf und Mistress Shipwash zankte nicht allzu oft mit ihm. Für alles andere sorgte Elisabeth I., Königin nun schon im zwölften Jahr. Gelobt sei unsere gute Queen Bess!
Seine Frömmigkeit beschränkte sich darauf, während der Predigten seines Pastors vor sich hin zu dösen und vor dem Essen schludrig das Dankgebet zu murmeln. Tief in seiner Seele verwurzelt war jedoch der alte Volksglaube. Wie alle seine Nachbarn fürchtete er sich nicht wenig vor Hexen mit ihrem bösen Blick, der Vieh krank und Milch sauer werden ließ. Vor Elfen, die Kinder in ihr magisches Reich entführten, und vor Zauberern, die mit dem Teufel im Bunde standen. Und als Samuel Shipwash an diesem Abend in der menschenleeren Kirche die Hand hob, um die letzte Kerze zu löschen, und hinter sich ein Rascheln hörte, erstarrte er.
Er kannte das Geräusch von über Steinplatten huschenden Mäusen und das Knarren der hölzernen Bänke. Jedes quietschende Scharnier an den Türen und das Knacken, das das eine oder andere Bauteil der Orgel auf der Empore von sich gab, waren ihm wohlvertraut. Doch dieses Geräusch war ihm gänzlich fremd und ließ ihm einen kalten Schauder den Rücken hinablaufen.
Mit angehaltenem Atem lauschte er angestrengt in den weiten, stillen Raum hinein, dessen Luft ihm plötzlich kälter schien als zuvor. Die Kerzenflamme flackerte, ließ Schatten über die glatten Säulen und die nackten, geweißelten Wände zucken. Einzelne Flächen der bunten Glasfenster glommen auf, schienen ihm wie leuchtende Katzenaugen, die sich öffneten und wieder schlossen. Da – da war es wieder: ein flaches Rascheln, ein Knistern und Scharren. Dann ein kleiner kehliger Laut, der sich in den steinernen Nischen und Vorsprüngen verlor. Zweifellos, er kam von der gegenüberliegenden Seite des Altars, die im Dunkeln lag.
Langsam und mit klopfendem Herzen drehte sich Samuel Shipwash um. Ein dünnes Wimmern setzte ein, wurde lauter und schriller, steigerte sich zu einem grellen Geheul, das erbarmungslos durch Mark und Bein drang. Der Küster zögerte keine Sekunde länger, nahm seine kurzen Beine in die Hand und rannte, so schnell es seine Leibesfülle zuließ.
Pastor Edmund Hardcastle saß beim trüben Licht einer rußenden Talgkerze in seiner Stube und kaute an einer Scheibe Brot, die so trocken und hart war wie Stein. Dass er sie ab und an in die Schale mit der wässrigen Rübensuppe oder in den irdenen Krug mit stark verdünntem Ale stippte, machte es auch nicht besser. Es war beileibe nicht so, dass er sich nichts Besseres hätte leisten können. Zwar waren die zur Christ Church gehörenden Einnahmen nicht gerade üppig, aber für Butter und Fleisch und eine dicke Suppe hätte es allemal gereicht. Zumal Hardcastle als Schulmeister für den Kirchsprengel ein nicht zu verachtendes Nebeneinkommen erzielte. Was er mit all diesem Geld machte? Das fragte sich auch seine Schwester Prudence jeden Montag, wenn er ihr die wenigen Münzen wöchentlichen Haushaltsgeldes hinzählte, obwohl sie grundsätzlich seine Überzeugung teilte, dass Völlerei einer der kürzesten Wege in Satans Hände sei.
Prudence Hardcastle saß an diesem Abend am anderen Ende des Tisches, an dem der Pastor sein karges Mahl verzehrte, und flickte zum wiederholten Male eines seiner Nachthemden. Mit jedem Jahr, das sie ihrem früh verwitweten, kinderlosen Bruder den Haushalt führte, war sie ihm ähnlicher geworden. Beide groß und hager, schienen ihre schmalen Gesichter immer länger zu werden. Und die links und rechts ihrer Mundwinkel senkrecht hinablaufenden Falten verliehen ihnen beiden auch dann einen mürrischen Ausdruck, wenn sie es ausnahmsweise einmal gar nicht waren.
Doch das fieberhafte Klopfen an der Tür ihres kleinen Pfarrhäuschens am Anfang der Cock Lane, gleich schräg gegenüber der Kirche, gab ihnen nun wirklich einen Grund, sich gegenseitig verdrießlich anzublicken. Unerwartete Störungen ihrer Abendruhe schätzten sie beide nicht sonderlich. Denn diese konnten meist nur bedeuten, dass ein gerade geborenes, schwächliches Kind die Nottaufe erhalten sollte oder eines der Gemeindemitglieder die letzte Stunde gekommen sah.
»Warum müssen sich die Leute immer solch ungünstige Uhrzeiten zum Sterben aussuchen?«, muffelte Hardcastle dann auch zwischen den letzten zwei Bissen seines Abendbrotes. Während er sich noch die Hände an seinem Talar abwischte und ohne Hast erhob, war seine Schwester schon zur Tür geeilt.
Die hohe Stirn unter der schmucklosen Haube gerunzelt, sah Prudence Hardcastle stumm den rotgesichtigen und sichtlich aufgelösten Küster an. Ihr Blick blieb ebenso fasziniert wie angewidert an seinem dicken Bauch hängen, der im Takt von Shipwashs Schnaufen auf- und abhüpfte. So entging ihr sein reflexartiges Naserümpfen. Denn Prudence Hardcastle sah nicht nur säuerlich aus – sie roch auch ebenso, wie Samuel fand. Erst als er den Pastor hinter ihr auftauchen sah, fing sich der Küster so weit, dass er mit dem Daumen über seine Schulter zeigen und stammelnd hervorbringen konnte:
»W-w-wir – wir haben einen Dämon in der Kirche!«
Ein Dämon, so ein Unfug, schnaubte Pastor Hardcastle, als er mit hallenden Schritten durch das lang gezogene Kirchenschiff eilte. Er warf einen verächtlichen Seitenblick auf seinen Küster, der beinahe rennen musste, um mit ihm mithalten zu können. Vermutlich hat er mal wieder den Rest seines Lohns in der Schenke vertrunken! Für alle Fälle hatte sich der Pastor jedoch mit einem eisernen Schürhaken bewaffnet, in der anderen Hand eine Laterne. Der Küster hielt mutig einen schweren schmucklosen Kerzenständer umklammert.
»Hier – hier war es.« Samuel Shipwash blieb an der Stelle stehen, an der er kurz zuvor das unheimliche Geräusch vernommen hatte. Seine Stimme zitterte wie seine Hand, als er auf die andere Seite des Altars wies. »Und – und von dort drüben kam es.«
Pastor Hardcastle lauschte aufmerksam. Nichts.
Entschlossen packte er den Schürhaken fester und marschierte quer durch den Altarraum. Sein Küster folgte ihm mit schlotternden Knien und suchte Deckung hinter dem schmalen Rücken des Pastors. Am Ende des steinernen Altars angelangt, hob Hardcastle die Laterne und lugte vorsichtig um die Ecke. Stück um Stück erhellte sich der Winkel in der Mauernische. Etwas Weißes leuchtete ihm entgegen, länglich und ausgebeult, wie ein Bündel Wäsche. Er trat näher und beugte sich vorsichtig darüber. Der Lichtkegel seiner Laterne enthüllte ein winziges Gesicht – das Gesicht eines Säuglings.
»Ha!«, entfuhr es Hardcastle, ebenso erschrocken wie erleichtert. Wie auf Kommando fing das Bündel zu schreien an. Das gellende Gebrüll, das die Ohren des Pastors schmerzen ließ, führte ihn einen Augenblick lang in Versuchung, tatsächlich an einen Dämon zu glauben.
»Meine haben nie so geschrien«, ließ sich Samuel Shipwash vernehmen, der sich hinter Hardcastle hervorgewagt hatte und ebenso ungläubig ihren Fund beäugte wie der Pastor. »Glaube ich jedenfalls«, fügte er verunsichert hinzu, als Hardcastle ihn streng anblickte.
Das Aussetzen von Kindern kam so gut wie nie vor. Die Sterblichkeit war hoch: Zwölf von hundert Kindern erreichten nicht einmal das erste Lebensjahr. In der Regel waren Eltern froh um jedes Kind, das sie durchbringen konnten. Gab es doch zu wenig zu essen für alle, wurde ein Kind mit einem Schlag zur Vollwaise oder brachte es durch seine außereheliche Geburt Schande über die Familie, fand sich immer ein Nachbar oder ein Verwandter, der es bei sich aufnahm. Oder man gab es zu einem Handwerksmeister, der das Kind aufzog und später für sich arbeiten ließ. So stellte die bloße Anwesenheit dieses Findelkindes Pastor und Küster vor ein Rätsel. Aber zunächst galt es, praktischere Probleme zu lösen.
»Was machen wir jetzt damit?« Hardcastles Gesicht zeigte deutlich seinen Missmut. Er verspürte wenig Neigung, sich mit solchen Problemen herumplagen zu müssen, die ihn im Grunde gar nichts angingen. Aber der Herr in Seiner unerforschlichen Weisheit hatte ihm diese Bürde dadurch auferlegt, dass das Kind ausgerechnet in der Kirche seiner Gemeinde ausgesetzt worden war. Hardcastle zuckte unter dem Geschrei wieder und wieder zusammen. Dann hellte sich seine Miene kaum merklich auf, als er erneut seinen Küster ansah. Samuel Shipwash brauchte ein paar Herzschläge, ehe er begriff. In hektischer Abwehr begann er sogleich, mit den Händen zu wedeln.
»Nein, auf gar keinen Fall! Ich kann es nicht nehmen, ich habe schon fünf Mäuler zu stopfen und das sechste ist unterwegs!«
»Was seid ihr nur für Helden«, ließ sich hinter ihnen Prudences knarzende Stimme vernehmen. In der Hoffnung, heute noch eine Sensation in ihrem sonst so farblosen Dasein miterleben zu können, war sie ihrem Bruder und dem Küster nachgeeilt. »So nehmt es doch erst einmal von den kalten Steinen weg!« Ächzend bückte sie sich und schaufelte das brüllende Bündel in ihre knochigen Arme. Augenblicklich herrschte Stille, zur großen Verblüffung der beiden Männer. Ungelenk schob Prudence das Kind in die eine Armbeuge, nestelte an den Tüchern herum und spähte darunter.
»Ein Rest Nabelschnur hängt noch dran. Es ist weniger als ein paar Tage alt.« Ihr Blick wanderte weiter. »Und es ist im Übrigen ein Er.«
Hardcastle schoss peinlich berührt das Blut in die hohlen Wangen. Seiner Meinung nach sollten gewisse Körperteile auch bei solch kleinen Kindern besser unerwähnt bleiben.
»Du taufst ihn besser rasch! Wer weiß, ob er die Nacht noch überlebt«, empfahl Prudence energisch.
»Aber vielleicht ist es – er – doch schon . . .«, wollte der Pastor einwenden, doch seine Schwester fiel ihm harsch ins Wort.
»Beim Blute unseres Erlösers, Edmund – seit wann bist du so geizig mit den Sakramenten? Doppelt genäht hält außerdem besser!« Mit einem Blick auf den Jungen fügte sie leise, fast sanft hinzu: »Wir wissen schließlich nicht, welche Sünde schon auf ihm lastet, deretwegen man ihn ausgesetzt hat.«
Und so wurde das Findelkind, das Pastor Hardcastle an diesem Abend um seine Ruhe gebracht hatte (und dies zu seinem Leidwesen auch noch in vielen weiteren Nächten tun sollte), in aller Eile nach dem Heiligen des Tages, Nikolaus von Myra, und nach dem Ort seines Auffindens auf den Namen Nicholas Christchurch getauft.