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Dr. Dee eilte in seinem langen, fließenden Gewand so schnell durch die Flure, dass es schien, als gleite er über den Boden. Nicholas musste in einen flotten Trab verfallen, um mit ihm mithalten zu können.

»Ich schätze die sonntäglichen Stunden sehr, in denen alle Seelen des Hauses in St. Mary the Virgin beten, singen und der wöchentlichen Predigt lauschen. Das ist die einzige Zeit, in der ich ungestört arbeiten kann. Sonst bleiben mir dafür nur die Nachtstunden.«

Arbeiten? Am heiligen Sonntag?, wunderte sich Nicholas. Selbst Pastor Hardcastle, dem Müßiggang immer ein Graus gewesen war, hatte stets darauf bestanden, dass der Sonntag nur dem Gebet, der Predigt und der Bibel vorbehalten war.

»Demnach seid Ihr kein gottesfürchtiger Mann?«, wagte Nicholas zaghaft zu fragen. Dr. Dee betrachtete nachdenklich seinen angebissenen Apfel, ohne sein Tempo zu verringern. Er schien nach einer passenden Antwort zu suchen – eine Spur zu lange, wie Nicholas fand. Und ihm drängte sich die Frage auf, ob Dr. Dee vielleicht gar kein Protestant war, sondern womöglich im Geheimen ein Katholik. Oder ob es gar stimmte, was man so hörte – dass er Dämonen, ja den Teufel selbst anbetete. Nicholas’ Magen begann unruhig zu flattern bei dieser Vorstellung. Was sich gar nicht mit der reichlichen Mahlzeit vertrug, die er gerade verarbeiten musste, und so schob Nicholas diesen Gedanken einstweilen lieber beiseite.

»Doch, Nicholas. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht voller Ehrfurcht bin für die göttliche Schöpfung und ihre Wunder. Es gibt so vieles, was wir noch nicht verstehen. So vieles, dem ich auf den Grund gehen möchte, und doch wird meine Lebenszeit bei Weitem nicht dafür ausreichen. Aber Glaube und Religion sind zweierlei.« Er bedachte Nicholas mit einem schalkhaften Seitenblick. »Ich sagte dir ja bereits, dass ich meinen Ruf nur zu gut kenne. Was glaubst du, welchen Aufruhr es gäbe, wenn ich die Kirche beträte? Die Menschen kommen von weit her, um meinen Rat als Medicus oder Astrologe zu suchen, aber öffentlich würde es keiner von ihnen je zugeben. Für die Kinder des Dorfes gilt es als Mutprobe, sich näher als zehn Schritt an mein Haus heranzuwagen. Nein, ein Magus«, er verlieh dem Wort einen ironischen Unterton, »wie ich tut besser daran, dem Gotteshaus fernzubleiben.«

»Aber dann müsst Ihr ja im Jahr unglaublich viel Geld . . .« Nicholas, im Pfarrhaus mit den Gepflogenheiten der Kirche aufgewachsen, überschlug im Kopf die Summe an Bußgeldern, die Dr. Dee demnach für das Fernbleiben von den Gottesdiensten entrichten musste.

»Mitnichten. Der hiesige Pastor und ich sind gut befreundet und haben schon oft angeregte Gespräche über Wissenschaft und Glauben geführt. Außerdem ist er mir dankbar, dass ich ihn von seiner Wassersucht kuriert habe. – Hier entlang.« Dr. Dee bog unvermittelt in einen dunklen Korridor ab. Nicholas stolperte hinterher. Er war verwirrt. Die Erklärungen des Magus waren zwar ausführlich gewesen, aber Nicholas wusste immer noch nicht, welchem Glauben Dee nun angehörte.

Doch ihm blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Tür reihte sich an Tür, die meisten waren geschlossen, manche angelehnt. Die eine oder andere jedoch stand offen und erlaubte einen ungehinderten Blick in das Zimmer dahinter. Nicholas verrenkte sich den Hals, doch bevor er etwas erkennen konnte, waren sie schon vorbeigeeilt.

»Ah.« Dr. Dee blieb so abrupt stehen, dass Nicholas beinahe auf ihn geprallt wäre, und öffnete eine der Türen. »Das hier wird dir sicher gefallen! – Mein Naturalien- und Monstrositätenkabinett«, fügte er augenzwinkernd hinzu.

Auf einem Regal standen Reihen von Gläsern, gefüllt mit klaren Flüssigkeiten, in denen Frösche mit zwei Köpfen schwammen, ein Salamander mit drei Schwänzen, eine bleiche Maus mit sechs Pfoten und einiges mehr, das Nicholas sich lieber nicht so genau anschauen mochte. Dazwischen und auf dem Schrank gegenüber standen ausgestopfte Tiere, die ihn scheinbar vorwurfsvoll musterten: eine Krähe, eine Eule, eine Fledermaus, die die spitzen Zähne bleckte und ihre Flügel aus lederner Haut spreizte. Das Knochengerüst, das in der Ecke aufgehängt war und vor sich hin baumelte, grinste Nicholas spöttisch an und schien stumme Zwiesprache mit dem Totenschädel zu halten, der einen Stapel loser anatomischer Zeichnungen auf dem Tisch beschwerte. Nicholas war bemüht, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen, als sie die Tür zu diesem gruseligen Sammelsurium wieder hinter sich schlossen.

Im Vorübereilen besichtigten sie noch kurz eine weitere Absonderlichkeit des Hauses: ein Wasserklosett. »Eine Erfindung meines guten Freundes Sir John Harington«, berichtete Dee stolz und lächelte über Nicholas’ erstauntes Gesicht. »Geniales Prinzip! Es funktioniert leider nicht zuverlässig. Irgendetwas mit dem Wasserdruck stimmt noch nicht ganz. Er hofft, es demnächst der Königin anbieten zu können, die für solcherlei Neuerungen immer offen ist. Aber leider verbringt er mehr Zeit über seinen Gedichten und bei Banketten als damit, weiter daran zu tüfteln. Daher fürchte ich, dass noch einige Jahre ins Land gehen werden, bis er ihr die Pläne vorlegen kann. Gut Ding«, er seufzte tief auf, »will manchmal eben wahrhaftig Weile haben!«

Nicholas gingen die Augen über, als sie endlich in der Zimmerflucht anlangten, die die Bibliothek enthielt. Niemals hätte er gedacht, dass es so viele Bücher auf der Welt gab – und noch unglaublicher erschien ihm, dass ein einziger Mensch so viele davon besitzen konnte! In Leder gebundene Wälzer drängten sich neben lose zusammengehefteten Blättern in den Regalen und Schränken bis hoch an die Decke. Manche waren von einer dicken Staubschicht bedeckt. Andere lagen aufgeschlagen auf den Tischen. Beängstigend schiefe Büchertürme wucherten um Tischbeine herum, standen kniehoch vor den Regalen. Dr. Dee kratzte sich sein weißes Haupt unter der Kappe und sah beinahe schuldbewusst drein. »Ist mit der Zeit etwas unübersichtlich geworden. Über die Jahre sammelt sich eben so manches an.«

Wenig später balancierte Nicholas auf einer ans Regal gelehnten Leiter. »Nummer elf«, zählte er und las vor: »Tractatus compendiosus de animalibus.«

An einem Stehpult trug Dr. Dee in seiner schwungvollen Handschrift alles in die Liste ein, was Nicholas ihm ansagte. Sorgsam schob Nicholas den Band zurück an seinen Platz und zog den benachbarten heraus. Er kniff die Augen zusammen, um die schnörkeligen, verblichenen Buchstaben besser entziffern zu können. »Nummer zwölf: Wilhelmi Parisiensis fragmen . . .«

»Ach«, unterbrach ihn Dr. Dee und sah mit einem verklärten Blick zu Nicholas. »Da steht das also! Das suche ich schon seit mindestens fünf Jahren . . .« Er schüttelte den Kopf und kratzte weiter mit der Feder über das Papier.

Nicholas blätterte gerade in Nummer vierundzwanzig, einer Mappe voll loser Schriften, deren Titel er einzeln diktierte, als die Kirchenglocken das Ende des Gottesdienstes verkündeten. Dr. Dee seufzte auf. »Gleich ist es mit der himmlischen Ruhe vorbei! Schnell, lies weiter vor!«

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als von Weitem Fußgetrappel und Stimmen zu hören waren, die sich rasch durch den Korridor näherten. Fünf oder sechs junge Männer stürmten in langen Schritten in die Bibliothek und grüßten Dr. Dee respektvoll. Nicholas oben auf seiner Leiter übersahen sie einfach. Dieser erkannte den einen oder anderen jedoch wieder: Es waren die Burschen in den guten Anzügen, die er heute Morgen in der Halle gesehen hatte. Noch im Gehen rissen sie sich ihre Kappen vom Kopf und warfen sich lange Talare über. Sie verteilten sich alleine oder zu zweit an die Tische, die mit Büchern bepackt in den Winkeln und Nischen der Bibliothek standen. Ein paar von ihnen bissen hungrig in einen Apfel oder eine Birne, ehe sie ihre Bücher aufschlugen. Einer trat zu Dr. Dee. »Verzeiht, verehrter Doktor, aber wir sind heute Morgen in einen Disput über Plato geraten.« Er wies auf einen Tisch, an dem ein anderer Jüngling mit erwartungsvoller Miene saß. »Wenn Ihr die Güte besäßet, uns bei der Klärung desselben behilflich zu sein?«

»Aber gewiss, Magister«, antwortete Dee fröhlich und legte die Feder beiseite. Er zwinkerte Nicholas zu. »Danke einstweilen! Heute werde ich deine Hilfe wohl nicht mehr benötigen.«

Nicholas sah zu, wie Dr. Dee sich mit den beiden jungen Männern an den Tisch setzte und schnell in eine lebhafte Diskussion vertieft war. Zögerlich steckte Nicholas die Mappe zurück und stieg von der Leiter herab. Wenn Dee ihn nicht mehr brauchte, hieß das dann, dass er tun und lassen konnte, was er wollte? Die Neugier prickelte in allen Fingerspitzen. Was mochte dieses sonderbare Haus, das seine neue Heimstatt geworden war, noch alles verbergen? Betont lässig schlenderte er durch die Bibliothek, warf Seitenblicke links und rechts, ob ihn jemand verscheuchen oder zurückpfeifen würde. Aber als niemand auf ihn achtete, beschleunigte er seine Schritte in kribbeliger Vorfreude auf seine Entdeckungsreise durch das Haus.

Das Haus der Spione

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