Читать книгу Das Haus der Spione - Nicole-C. Vosseler - Страница 15

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Langsam dämmerte Nicholas aus seligem Schlummer herauf. Er hatte herrlich geträumt: von einem richtigen Bett mit weichen Daunenkissen und einer kuscheligen Zudecke, deren Bezüge nach Seife und Wäschestärke gerochen hatten. Verzweifelt bemühte er sich, noch einen Zipfel dieses Traumes zu fassen zu bekommen, um noch ein wenig länger in dieser Herrlichkeit zu schwelgen. Vergebens. Unaufhaltsam verabschiedete sich der Schlaf. Und das unvermittelt einsetzende eifrige Kirchengeläut aus allernächster Nähe schubste Nicholas endgültig aus dem Reich der Träume. Missmutig rollte er sich auf die andere Seite und blinzelte mit einem Auge in den trüben Novembermorgen, bevor er den Kopf wieder in seinem Kissen vergrub. Er überlegte, unter welchem der vielen Kirchtürme Londons er gestern Abend sein Haupt zur Ruhe gebettet hatte, doch es wollte ihm nicht mehr einfallen.

Kissen? Nicholas schielte auf die weiche Fülle, die sich an sein Gesicht schmiegte. Er stupste mit dem Finger hinein. Sie erwies sich als fühlbar wirklich, und das auch noch, als er mit beiden Händen danach griff.

Einen Augenblick lag er noch ungläubig still. Dann fuhr er hoch, urplötzlich hellwach. Es war kein Traum gewesen: Er hatte wahrhaftig die Nacht in einem echten, sauberen Bett verbracht!

Mortlake! Sogleich war die Erinnerung an den gestrigen Tag wieder da, an St. Paul’s und Dr. Dee. Aber an die Fahrt hierher und wie er in dieses Bett gekommen war – daran erinnerte Nicholas sich nicht mehr.

Er sah sich um. Die Dachkammer unter den schrägen, rissigen Balken war winzig, aber sauber. Neben dem Bett unter dem Fensterchen standen ein Tisch mit einer gefüllten Waschschüssel und ein Stuhl, über dessen Lehne ein Tuch hing; darunter ein bemalter Nachttopf. Mehr gab es nicht und doch stellte das Zimmer für Nicholas eine wahre Pracht dar. Umso mehr, wenn er es mit der düsteren Rumpelkammer verglich, in der er im Pfarrhaus geschlafen hatte. Das Glockengeläut war verklungen. Unschlüssig saß Nicholas da. Sollte erwarten, bis man ihn abholte? Oder hätte er schon längst unten sein sollen und würde nun Ärger bekommen? Seufzend schwang er sich schließlich aus dem Bett. Seine Stiefel standen frisch poliert in der Ecke; die Kleider hatte jemand ausgebürstet und säuberlich über das Fußteil des Bettes gelegt. Ein fast neues, gestärktes Hemd hatte sich dazugesellt.

Gewaschen, angezogen und das Haar nach Gefühl gescheitelt, steckte Nicholas die Nase durch den Türspalt und spähte hinaus. Der Dachboden lag still und verlassen in fast völliger Dunkelheit. Nicholas konnte zwei weitere Türen, die vom Gang abgingen, mehr erahnen als sehen. Klar zu erkennen war jedoch der Handlauf des Treppengeländers auf der linken Seite.

»Wohlan«, atmete er tief durch, um sich selbst Mut zu machen, »auf in den ersten Tag im Hause eines Magiers!« Dennoch schlich er auf Zehenspitzen die waghalsig steile Holztreppe hinunter, die unter seinen Stiefelsohlen übellaunig knarzte. Ein Stockwerk tiefer gingen die Holzbohlen in ausgetretene Steinstufen über und nun konnte Nicholas auch ein hektisches Stimmengewirr hören, das von noch weiter unten kam. Kurz vor dem letzten Treppenabsatz blieb er stehen und lugte um die Ecke.

Obwohl die Eingangshalle mit ihrem schwarzweiß gefliesten Boden großzügig angelegt war, schien sie aus allen Nähten zu platzen. Schnatternde Mägde strichen sich über ihre Schürzen und zupften an ihren Hauben und Schultertüchern. Burschen in einfacher, aber sauberer Kleidung klopften sich gegenseitig lachend auf die Schultern. Ein paar junge Männer in guten Anzügen und verwegenen Hüten blickten leicht hochnäsig in die Runde und unterstrichen ihre Gespräche untereinander mit bedeutsamen Gesten.

Nicholas brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, was hier vor sich ging. Die Bewohner von Mortlake machten sich auf zum sonntäglichen Kirchgang. Eine junge Frau, eleganter gekleidet als die Umstehenden, zupfte am Kragen eines kleinen Jungen herum. Sehr zu dessen Widerwillen, denn er stampfte trotzig mit dem Fuß auf und versuchte, ihr zu entkommen. Währenddessen klammerte sich ein noch kleineres Mädchen heulend an den Rockzipfel der Frau. Schließlich gab sie es auf und schickte den Jungen mit einem liebevollen Klaps zu einer der Mägde, die ihn bei der Hand nahm. Als sich die junge Frau aufrichtete, fiel ihr Blick auf Nicholas, der sich am steinernen Knauf des Geländers festhielt und den Hals langmachte.

»Guten Morgen«, rief sie freundlich, während sie das kleine Mädchen schwungvoll auf ihre Hüfte setzte und ihm mit einem spitzenumrandeten Taschentuch die Nase putzte. »Du musst Nicholas sein!«

Nicholas nickte verlegen und rührte sich nicht. Doch seine Scheu vor den vielen Menschen war unbegründet: Nur ein oder zwei flüchtige Seitenblicke streiften ihn – als sei es das Natürlichste auf der Welt, dass der Hausherr Findelkinder auf den Straßen Londons auflas und sie mit nach Hause brachte.

»Du hast sicher Hunger. Dort«, die junge Frau zeigte mit dem Taschentuch, das sie noch in der Hand hielt, nach links, »geht es zur Küche. Unsere Köchin hat dir etwas warm gestellt. Und wenn du meinen Gatten suchst – weiß der Herr, wo er sich heute Morgen wieder herumtreibt –, versuch es einfach mal dort drüben.« Sie wies mit einem Kopfnicken nach rechts. »Irgendwo in seinen Arbeitszimmern und Laboratorien wirst du ihn schon finden.«

Nicholas blinzelte ungläubig. Diese hübsche junge Frau mit dem feschen Hut auf den hochgesteckten blonden Locken, deren kornblumenblaue Augen so fröhlich blitzten und deren Wangen beim Lächeln Grübchen zeigten – das sollte Mistress Dee sein?

Die Kirchenglocken begannen erneut zu läuten und riefen die letzten säumigen Gläubigen zum Gebet.

»Herrje«, stöhnte Mistress Dee und drückte das kleine Mädchen, das sich inzwischen beruhigt hatte, einer anderen Magd in die Arme, worauf dieses sogleich wieder zu plärren begann. »Jeden Sonntag das gleiche Durcheinander! Zum Glück müssen wir nur über die Straße. Wir kämen sonst immer heillos zu spät zum Gottesdienst!« Als sie sich hektisch über den Rock strich und ihr verrutschtes Cape zurechtrückte, sah Nicholas, dass sie das nächste Kind erwartete. Seufzend nahm sie ihre Tochter wieder auf den Arm und ließ sich von einer beleibten älteren Frau ein Gebetbuch reichen, mit dem sie Nicholas herzlich zuwinkte. »Bis heute Mittag, Nicholas! – Los, los, meine Lieben, der Pastor wartet nicht ewig auf uns!«

Unter Röckerascheln und Fußgetrappel setzte sich der Tross in Bewegung. Die zweiflügelige Eingangstür mit den bunten Fensterscheiben fiel hinter Mistress Dee ins Schloss und augenblicklich herrschte Stille im Haus.

Den Haushalt eines Magiers hatte Nicholas sich doch ein wenig anders vorgestellt. Aber sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, sich um greifbarere Dinge zu kümmern als das, was er sich in seiner Vorstellung ausgemalt hatte und was nicht.

Die Küche war leicht zu finden. Nicholas musste nur seiner Nase nachgehen, die wie von selbst den Weg zum Ursprung der verlockenden Düfte fand. Der große, gemauerte Herd nahm fast eine ganze Wand ein. Das Feuer unter den Kupfertöpfen war zwar erloschen, aber die Glut hielt die Speisen warm. Nicholas stöhnte glücklich auf, als er nacheinander die Deckel anhob und nachsah, was auf ihn wartete.

»Eines ist schon jetzt gewiss«, frohlockte er, »hungern werde ich hier nicht!«

Auf Zehenspitzen angelte er sich einen Teller vom hölzernen Bord über dem Herd. In der Schublade eines Schränkchens daneben fand er auch einen Löffel sowie etwas, das anstelle der Höhlung eines Löffels zwei spitze Zinken hatte. Nicholas betrachtete es neugierig. Ein solches Gerät hatte er noch nie gesehen und hier gab es sie gleich dutzendweise. Er entschied, dass es sich bestimmt gut eignete, um einzelne Bissen aufzuspießen, und der Umgang damit einen Versuch wert war. Weil er sich unmöglich zwischen all den Leckereien entscheiden konnte, nahm er sich von allem etwas: Rühreier mit knusprigem Speck, eine Wurst, einen Klecks dicken Haferbreis mit Zucker und Zimt und einen Löffel Reispudding. Und nach kurzem Zögern einen zweiten. Nur den Kuchen, der auf dem Fensterbrett stand, wagte er nicht anzuschneiden.

Den größten Teil des Raumes nahm ein lang gezogener, massiver Holztisch ein. Die sauber geschrubbte Oberfläche war abgenutzt von den Jahren, in denen auf ihr gearbeitet und gegessen worden war. An beiden Seiten des Tisches standen zwei einfache, lange Holzbänke. Hier nahm wahrscheinlich die Dienerschaft ihre Mahlzeiten ein, überlegte Nicholas, als er sich setzte. Auch wenn er sich kaum vorstellen konnte, wie all diejenigen, die vorhin noch die Halle gefüllt hatten, hier hätten Platz finden können . . . Seine Mahlzeit ergänzte er mit einer dicken Scheibe Brot aus dem Korb vor ihm auf dem Tisch, die er großzügig mit Butter aus einem Steinguttopf bestrich.

Während er eifrig kaute und zwischendurch immer wieder wohlig aufseufzte, ließ er seine Blicke durch die Küche schweifen. Es war ein gemütlicher Raum, die Wände aus rauem Stein unverputzt, die Steinplatten auf dem Boden blank von den vielen Füßen, die tagein, tagaus eilig darüberzulaufen pflegten. Ein Fenster ging auf ein kleines, zu dieser Jahreszeit kahles Gärtchen hinaus, das von einer Mauer umgeben war. Die unzähligen Töpfe und Pfannen, die an Haken über dem Herd hingen, blinkten makellos. Ebenso die Glastüren des Schrankes, in dem Trinkgläser und Karaffen aufbewahrt wurden. Glas war teuer, das wusste Nicholas. Magie musste ein einträgliches Geschäft sein.

Das Gerät mit den Zinken erwies sich als äußerst nützlich und Nicholas pickte gerade die letzten Flocken Rührei damit auf, als Dr. Dee in die Küche rauschte.

»Dachte ich mir, dass ich dich hier finde!«, rief er vergnügt. Er deutete auf das Gerät in Nicholas’ Hand. »Wie ich sehe, hast du deine Vorliebe für die elegante italienische Lebensart entdeckt!« Als Nicholas ihn fragend ansah, erklärte Dee: »Gabeln gehören in Italien längst zum guten Ton, während man sonst in Europa über diese Sitte die Nase rümpft. Ich finde sie praktisch und auch stilvoller als die bloßen Finger.« Er seufzte auf. »Aber so ist das eben: Die Menschen sträuben sich meist gegen jede Veränderung in ihrem Leben. Sei eine Erfindung noch so hilfreich und genial – es wird seine Zeit brauchen, bis sie sich durchgesetzt hat. Manchmal ist der menschliche Geist doch ein recht träges Element.« Während er sprach, hatte er in einem Obstkorb zu wühlen begonnen, der auf einem Schränkchen gleich neben der Tür stand. Er fischte einen rotwangigen Apfel heraus, warf ihn Nicholas zu und biss dann selbst herzhaft in einen zweiten. »Bereit?«

Das Haus der Spione

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