Читать книгу Afghanistan, Srebrenica & zurück - Norbert F. Schaaf - Страница 15

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11 Kriegswillkür

Der Krieg misst alles mit eigenem Maß, notierte Anica in ihr Ringbüchlein die Wartezeit nutzend. Die Menschen in Uniform eilen todbringenden Detonationen und mörderischem Maschinenpistolengeknatter mit gleicher Ungeduld entgegen wie Leute in anderen Zeiten auf die innere Stimme des Lebens, auf einen Lichtschein in der Landschaft, auf die rotierenden Signale eines Leuchtturms oder eine Behausung inmitten einer gottverlassenen Wüste zueilen.

Plötzlich fielen Schüsse.

Die Journalistin duckte sich hinter einen Baumstumpf am Ufer. Sie sah die aufgeschreckten Bewohner, von den Uniformierten angetrieben, ans Wasser hasten, wo sie ihre Kleidung ablegen mussten. Die einen verhalten sich wie Cowboys, dachte Anica, die anderen lassen sich treiben wie Kühe, würdelos – beide Seiten, und dann müssen sich die einen noch das Fell vom Fleisch reißen lassen. An ihnen vorbei ging die Reporterin zu den Bretterbuden und Zelten. Sie dokumentierte mit ihrer Kamera, wie die Soldaten im Licht von Handscheinwerfern im Hausrat wühlten, Kleidungsstücke und Lebensmittel aus Kästen und Körben zerrten sowie wahllos Gegenstände ins Wasser warfen. Niemand hinderte die Journalistin an Aufnahmen der Szenerie, die schlagartig immer wieder von den Blitzlichtern einheimischer Zeitungsleute erhellt wurde. Unvermittelt schrillten Trillerpfeifen, und trocken-hohles Geknatter von Maschinenpistolen setzte ein.

Ins Sichtfeld der TV-Kamera geriet ein kleines selbstgezimmertes Floß; es war bereits einige Längen vom Ufer entfernt, doch die Scheinwerfer der Soldaten rissen es heraus aus der schützenden Dunkelheit. In das zerbrechlich wirkende Fahrzeug schlug eine Kette von Geschossen ein. Der Floßführer kauerte geduckt am Heck und bewegte die lange, dünne Latte, die als Ruder diente, bis ein erneuter Feuerstoß die von Hanfseilen zusammengehaltenen Stämme auseinanderzerrte und den Mann in die reißende Flut stürzte. Die Soldaten warfen ihm eine Leine zu und zogen ihn an Land, während das Floß vollständig zerbarst und die zersplitterten Stämme von der gischtenden Strömung kunterbunt durcheinander gewirbelt und in die Düsternis gespült wurden.

Anica setzte die Kamera ab und lief dem Hauptmann hinterher bis zu der Stelle, an der man den Mann auf das Ufergeröll gelegt hatte. Der schwarzbärtige, dunkelgebräunte Mann hielt die Augen geschlossen, die Reporterin sah, dass Kugeln ihn in Beine und Unterleib getroffen hatten. Aus den Wunden sickerte Blut. Niemand schickte sich an, erste Hilfe zu leisten und sie zu verbinden.

Der Hauptmann gab seinen Soldaten Wink, beiseite zu treten. Er stellte sich, gefolgt von der Journalistin, vor den Schwerverletzten und stieß ihn mit dem Fuß an. „Du hast die Bombe gelegt! Gibst du es zu?“

Der zerschossene Mann sah blinzelnd zu dem Offizier auf, die Scheinwerferkegel der auf ihn gerichteten Stablampen blendeten ihn, aber noch mehr quälten ihn offensichtlich die schmerzenden Wunden. Mühsam schüttelte er den Kopf und presste durch zusammengebissene Zähne: „Ne!“

„Du willst fliehen! Zasto?“ bellte der Hauptmann. „Warum?“

Eine Antwort bekam er nicht.

„Ich lasse dich verbluten, wenn du nicht gestehst. Wo sind deine Komplizen? Eure Spur führt direkt hierher. Wer ist es noch gewesen?“

Der Verwundete zuckte ächzend die Schultern. „Du wirst niemanden finden.“

„Du hast ihnen geholfen“, knurrte der Offizier und trat wieder nach dem Gefangenen. „Du bist auch ein gottverfluchter schiitischer Terrorist!“ Er stieß hart mit dem Fuß in den Unterleib seines Opfers. „Gib zu, dass du es warst!“

„Du wirst getötet werden“, sagte der Verletzte beherrscht. Er war nicht mehr jung, und den unter seinem durchnässten Wollhemd sich abzeichnenden Rippen und der asketischen Muskulatur sah Anica an, dass er Entbehrung und schwere Arbeit gewöhnt war. Von seiner Physiognomie, den Bartstoppeln und dem kurzgeschorenen Haar konnte sie so wenig wie die Umstehenden auf seine Religion oder politische Überzeugung schließen.

„Irrtum“, schrie der Hauptmann. „Dich werde ich töten, und zwar auf der Stelle. Außer, du nennst die Namen der Bombenleger; dann lasse ich dich verbinden.“

Der Mann am Boden blickte an dem Offizier vorbei in den Nachthimmel, als er sagte: „Man wird dich töten. Eines Tages.“

Der Hauptmann kniff die Augenlider zusammen und zog mit dieser ihm eigenen Umständlichkeit seine Faustwaffe, eine schwere russische Armeepistole, die mit einer Chromkette an das Koppel gebunden war. „Sehen Sie sich an, wie unverschämt der Kerl ist, Madam“, sagte er zu der Reporterin, und sein enger Blick bekam einen bösartigen Ausdruck; er wirkte nicht mehr jugendlich, attraktiv, seine gebogene Nase zitterte. „Machen Sie ruhig Bilder davon. Die anderen müssen abgeschreckt werden. Niemand stirbt gerne so, wie dieser Renegat hier sterben wird. Ich werde es ganz langsam machen, damit Sie es in aller Ruhe filmen können.“

Anica schnürte es die Kehle zu, heiß spürte sie den Blutdruck hochschießen vor Wut, Entrüstung, Hass. Diese Szene erinnerte sie an längst überwunden geglaubte Gräuel des an gleicher Stelle tobenden zweiten Weltkriegs oder an Bilder aus Indochina, die vor drei Jahrzehnten auf preisgekrönten Presseaufnahmen festgehalten worden waren. Die anwesenden Fotografen knipsten denn auch drauflos, als wolle jeder den Pulitzerpreis für sich gewinnen: Wie der Hauptmann stelzbeinig, aber mit routiniertem Handgriff die Pistole durchlud, wie er den schlaksigen Arm hob und streckte, anlegte und die Waffe auf den Verletzten gerichtet hielt, wie er sorgsam und etwas schwerfällig zielte und dabei das linke Auge zukniff, wie er kaltblütig, ruhig den Abzugshebel durchzog, wie er den wehrlos am Boden Liegenden zuerst in die Brust, dann in den Hals und zuletzt in den Kopf schoss, wie er sich nach jedem Schuss mit Blicken vergewisserte, ob auch jede einzelne Szene auf Film und Foto festgehalten wurde. Und wie er schließlich gleichmütig das Magazin entnahm, um Patronen aufzufüllen.

Entsetzlich, dachte Anica, jede einzelne Phase der Mordtat als Augenzeuge zu verfolgen, noch entsetzlicher, sie kaltblütig mit Kameras aufzunehmen, um eine professionelle Einstellung und Aufnahme zu erreichen.

Die Journalistin empfand bei jeder Bewegung des Hauptmanns Gedanken des Eingreifenwollens, des Widerstandes und endlich der Ohnmacht, spürte bei jedem Schuss einen Stich ins Herz. Aber sie war wie gelähmt, vermochte die Kamera nicht vom Auge abzusetzen, nicht den Auslöser loszulassen, den Blick nicht von der Szene zu trennen. Nachdem der Hauptmann den letzten Schuss abgegeben hatte, sein Opfer schmerzverkrümmt regungslos dalag, stieg brennendes Schamgefühl in der Journalistin auf.

Die anderen Reporter kehrten bereits zu den Hütten zurück, da erst hing sich Anica die Kamera über die Schulter. Bedrückende Stille beherrschte nun die düstere Flusslandschaft.

„Look here, Madam“, sagte der Hauptmann stoisch, „so sind diese Kerle, sterben ohne zu klagen. Fanatiker sind das. Terroristen, Partisanen, denen Recht geschieht. Einmal verhörte ich einen, der schon erblindet war, aber gleichwohl ständig versuchte, mich anzuspucken. Hoffentlich sind Ihre Aufnahmen gelungen. Ob das Licht ausgereicht hat?“

„Bestimmt“, entgegnete sie beherrscht. „Ich bin sehr froh, dass Sie mir Gelegenheit zum Filmen gegeben haben.“ Sie war es gewohnt, sich zu beherrschen, und zweifelte nicht an der Beweiskraft der Bilder, die auch zeigen würden, wie der Verwundete vor den tödlichen Schüssen seine zusammengelegten Hände mühselig an Mund, Brust und Schultern führte.

Der Offizier lächelte, ein wenig steif. „Ich habe etwas für Sie, äh, die Medien übrig“, sagte er, die schmalen Augen zu Boden schlagend. „Weniger für unsere eigenen Reporter, die können nicht so viel. Doch ihr Ausländer macht tolle Magazine mit vielen schönen Bildern. Ich bin schon einmal auf einem Foto von `Image-Revue´ gewesen, als ich eine Razzia in einem Kloster leitete. Die Frau eines Kameraden hat das Bild entdeckt, ausgeschnitten und nach Hause geschickt.“

„Was werden Sie mit den Leuten aus den Hütten machen?“ wollte Anica wissen. Der Hauptmann schob das Magazin in den Pistolenknauf zurück. Obwohl seine Bewegungen etwas Ungelenkes an sich hatten, ließ sein Gesichtsausdruck Intelligenz erkennen; das zeigten ihr seine wachen Augen über der aristokratischen Höckernase, sein energischer Mund, die auf und ab wandernden Augenbrauen und die sich faltende Stirn. Ohne seine Uniform würde er durchaus als Spätsemester der Universität Sarajevos durchgehen können, dachte Anica.

„Erschießen“, antwortete der Hauptmann leichthin.

„Zasto? Warum?“

„Vielleicht nicht alle“, gab er einschränkend zurück. „Aber einige auf jeden Fall. Die übrigen ab nach Lapovo. Das sind Terroristen. Und haben die Leute gedeckt, die die Bombe gelegt haben. Das genügt, um sie für lange Zeit in Lapovo festzuhalten.“

„Möglicherweise ist ein Kommando der Belagerer über den Fluss gekommen, ohne dass die Hüttenbewohner sie gesehen haben“, wandte sie ein.

„Etliche von ihnen paktieren mit den bosnischen Serben, das ist klar, sonst wären unsere Erfolge mit Allahs Hilfe größer“, erwiderte er achselzuckend. Er gab sich nicht die geringste Mühe, seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal dieser armseligen Menschen vor der Journalistin zu verbergen. Vielleicht war er der Sohn eines Händlers vom Hauptmarkt oder eines Handwerkers aus der Schmiedegasse. Anica wusste, seit Titos Tod wurden viele der Kinder solcher Leute im Geiste der alten Ressentiments erzogen und in Schulen geschickt, in denen sie Hass lernten auf die sogenannten Besatzer, die sie wie Ungeziefer behandelten und nach ihrer Vernichtung trachteten. Die Journalistin hörte oft, dass die Kriegsverbrechen der Belagerer an den Abtrünnigen sie in ihrem Glauben an ihre gerechte Sache bestärkten, so wie diese die Bekämpfung der Renegaten für rechtmäßig geboten hielten. Immer wieder spürte die deutsche Reporterin Beklemmung und Zwiespalt in einem Land, das in der Tradition stand der Ustascha, der Tschetniks, aber auch des heroischen Partisanenkampfes unter der Führung von Josip Broz Tito, was seine Fortsetzung fand in den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen sowie den verfeindeten Fraktionen untereinander.

„Beim Verhör behaupten sie, von nichts etwas zu wissen“, sagte der Offizier hart; seine flache Hand durchschnitt die Luft in einer abrupt-energischen Bewegung. „Nur Lügen kommen aus ihrem Mund.“

„Dann sind es Notlügen“, hielt ihm Anica heftig entgegen und verschränkte die Arme. „Für Ihresgleichen.“ Weil du keine Ahnung hast, was das Volk wirklich empfindet, dachte sie, und weil es dich nicht im Geringsten interessiert. Der kleine Hauptmann denkt an seine Macht über die ihm unterstellte Kompanie, Pope und Imam jeweils an die über ihre gläubige Gemeinde, der Vater an die über seine Familie, und die Kinder treten in ihre Fußstapfen.

„Deshalb muss man sie erschießen, Madam“, erklärte der Hauptmann kopfnickend und setzte eine gewichtige Miene auf. „Das ist meine Pflicht, die ich erfüllen muss. Ich sorge dafür, dass sie an die Wand gestellt werden. Wie die anderen. Das ist am sichersten. Auf einzelne kommt es nicht an, wenn wir uns nur Gottlosigkeit und falschen Glauben vom Leibe halten können.“

„Haben Erschießungen stattgefunden?“ fragte Anica wie beiläufig.

„Das geht Sie nichts an“, raunzte der Hauptmann. „Krieg ist keine Urlaubssafari. Da kann es jeden treffen, wenn er nur dicht genug dabei ist. Das müssen Sie doch am besten wissen nach der Geschichte mit dem tschetschenischen Paniklegionär!“

Anica schwieg betroffen. Jedes noch so treffende Argument würde unter diesen fatalen Umständen fruchtlos an dem Hauptmann abprallen.

„Hören Sie!“ sagte er eindringlich, fast einlenkend. „Es handelt sich wirklich um gefährliche Sektierer. Die sind doch klammheimlich direkt froh, ohne Umweg in ihr Paradies einziehen zu können.“

Du irrst dich, dachte Anica, und wirst es vielleicht niemals verstehen; aber wie könnte ich es dir auch begreiflich machen. Resigniert wendete sie sich ab.

Äußerste Konfusion herrschte dort, wo die entkleideten Hütten- und Zeltbewohner auf den Steinen kauerten. Anica hörte Frauen verzweifelt auf die Soldaten einschreien, ihre Kinder wimmerten. Sie sah die Soldaten des Hauptmanns mit ihren dumpf aufkrachenden Gewehrkolben auf die Leute einprügeln. Einige schützten sich mit vor den Kopf gehaltenen Armen, andere lagen auf dem Rücken, die Beine abwehrend angewinkelt, manche reglos zusammengekrümmt, ohnmächtig. Einen der Soldaten, einen jungen Mann mit Knollennase und offensichtlich mit Henna eingefärbtem Bart, sah Anica mit dem Bajonett hantieren, sich bücken, und sie traute ihren Augen nicht: Der unmenschliche Kerl gefiel sich wahrhaftig darin, sich stolz mit dem gerade abgehackten Kopf seines Opfers ablichten zu lassen.

Als die Reporterin die Kamera zur Hand nahm, hinderte sie der Offizier daran, indem er das Objektiv herunterdrückte und mit hochgezogenen Augenbrauen den Kopf schüttelte. Dass sie die Kleinstkamera in ihrer Handtasche mit frischem Tape laufen ließ, bemerkte er nicht.

Die Nacht war mondlos, schwarz, und nur der weiße Schein der Lichtkegel aus den Stablampen hob immer wieder entsetzte, verzweifelte Gesichter und die auf sie herabsausenden Gewehrkolben geisterhaft aus der Dunkelheit hervor, die lackierten Stahlhelme und die zum Schlag erhobenen Soldatenhände. Die Szenerie hatte etwas Gespenstisches, Unwirkliches, eine grausige Licht- und Schattentragödie spielte sich ab, und das grell gellende Wehgeschrei der gefolterten Menschen wirkte in Anicas Ohren schmerzhaft, alarmierend und gleichzeitig blockend, betäubend.

Über das Funkgerät befahl der Hauptmann die Lastwagen herbei. Unter Anschreien und Prügel trieben die Uniformierten die Menschen auf die Pritschen. Aus den Führerhäusern ließen sie die Lichtkegel ihrer Stablampen tanzen über das, was sie zurückließen: zerbrochenen Hausrat, zertretene Lebensmittel, zerstörte Hütten und Zelte, dazu eine Vielzahl Kleiderreste und -fetzen, sowie zerschundene Schwerverletzte und auch Tote.

Die unvermittelt eintretende spukhafte Stille lähmte Anica. Nur die Wellen des Flusses klatschten rhythmisch an die Ufersteine. Hoch über der Schlucht stiegen schwache Dunstschleier auf, die Sterne erblassten darunter, ihr Flackern am Horizont über dem Hochkamm des Gebirgsmassivs ließ nach, und der eben noch pechschwarze Hintergrund des Himmels, auf dem sie geleuchtet hatten wie Diamanten auf dunkler Rohseide, hellte sich ein wenig auf, weil die fahle Scheibe des Dreiviertelmondes hinter dem Berg auftauchte.

Dies- und jenseits des Wassers lag die Stadt im Dunkel verloschener Neonlichter. Nur an den Spitzen der höchsten Gebäude glühten rote Signallampen, die die Anflugschneise für das Aerodrom Vojkovic markierten. Die Luft wurde plötzlich empfindlich kühl, den Morgen ankündigend, aus der Ferne waren sich nähernde Geräusche einer Flugmaschine zu vernehmen.

Anica stieg über das Geröll zu den verwüsteten Behausungen. Die Soldaten hatten die Bretterwände auseinandergerissen, unter ihren Füßen knirschte zerschlagenes Geschirr. Eine gefleckte Katze flüchtete vor ihr, rettete sich mit einem gewagten Sprung über einen Uferfelsen. Asche aus umgestürzten Kochöfen lag verstreut über Schlafmatten und Tüchern. Wie betäubt wendete sich die Journalistin ab. Sie saugte die scharfübelriechende Luft ein, stieß den Atem heftig aus und schloss für einige Augenblicke die Augen. Ekel überkam sie und ließ sie einen Schritt schneller gehen. Am plätschernden Ufer der Miljacka verhielt sie, wechselte mechanisch die Bandkassetten ihrer Kameras.

Anica war in dieses Land gekommen, nach drei Wochen Aufenthalt im Konfliktgebiet Afghanistan, als die UN Bosnien-Herzegowina überstürzt als eigenständigen Staat anerkannt hatten. Sie wusste aus Erfahrung: Überall dort auf der Welt, wo sie ihre Interessen und ihren Einfluss berührt sahen, schufen die Mächtigen Fakten. Damit fanden sich in der Regel die Betroffenen natürlich nicht ab, sondern setzten sich dagegen zur Wehr, stießen auf Gegendruck, erlitten erneute Pression, derer sie sich letztendlich mit Waffengewalt zu entledigen suchten. Was Anica hier mit dem Objektiv registrierte, war die Niederlage der bodenständigen Menschen, die als Vielvölkergemisch über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte leidlich gut zusammen gelebt hatten. Das Widersprüchlichste in dieser Situation sah die Journalistin darin, dass jede Volksgruppe, jede Religionsgemeinschaft den Sieg für sich reklamieren wollte. Niemand mochte sich damit abfinden, als Unterlegener zu gelten und behandelt zu werden. Deshalb bediente man sich gepanzerter Fahrzeuge, Infrarotgewehre und elektronisch gesteuerter Raketen und bevorzugte nächtliche Kampfeinsätze mit Leuchtspurmunition, um der irrsinnigen Abstraktion der Gemetzel zu entfliehen. Anica zeichnete mit der Kamera Geschichte auf, eine grauenerregende Historie aus vermeintlichen Siegen und uneingestandenen Niederlagen in einem Kampf, der ihrer Meinung nach lange von der übrigen Welt vorauszusehen, in seiner Tragweite missdeutet, jedoch nach Kräften geschürt worden war. Dann waren die unvermeidlichen Appelle gefolgt, die Völkergemeinschaft müsse eingreifen, und man nannte die Kriegseinsätze unter dem blauen Helm friedenserhaltende Maßnahmen. Die Menschen empfanden diesen Militärapparat gleichwohl als Angriff auf ihre Selbstbestimmung und als bewaffnete Erpressung, von der sie sich in die Knie zwingen lassen sollten. Dass Erfolg den Aggressor ermutigte, war eine alte Erkenntnis im Land der Partisanen, die bis heute organisiert waren in Veteranenverbänden, um die Erinnerung an erlittene Schmach wachzuhalten, und als Mahnung, dass der Versuch, den Aggressor beschwichtigen zu wollen, anstatt ihm mit Bestimmtheit entgegenzutreten, noch niemals honoriert worden war. Musste indessen der Angreifer, der sich über alle rechtlichen Gegebenheiten und selbstverständlichsten Gesetze der Menschlichkeit hinwegsetzte, eine militärische Niederlage einstecken, erlitt nicht nur des Gegners Prestige, sondern vor allem sein Eroberungsdrang einen empfindlichen Schlag. Doch nichts konnte wirklich dazu beitragen, die Kriegsgelüste zu dämpfen, wenn alle Seiten die Rechtmäßigkeit ihres Handelns ausschließlich für sich in Anspruch nahmen. Das Land war ein Flickenteppich der gegensätzlichsten und widersprüchlichsten Interessen und Ansprüche, die oft ethnisch oder religiös begründet wurden, im Grunde hingegen vorwiegend materiell ihren Ursprung hatten: Es ging um Besitz und Macht und die Menschen, die daran hingen – direkt als Eigentümer oder im Abhängigkeitsverhältnis von ihnen.

Der Sommer ist schnell vorbei, dachte Anica. Noch drei Monate oder etwas mehr, dann setzten die ersten Herbstregen ein. Erst jedoch kam die Bora, ließ die Menschen erstarren unter ihrem orkanartigen, kalten Fallwind. Dann würden schwere, graue Wolken über das Land treiben, es aufweichen und manche Wege unpassierbar machen, bis der Winter alles in erzene Kälte goss: die bizarre Topografie des Landes, mehr noch aber die Gemüter seiner Bewohner. Dennoch würde es genug Menschen geben, die weiterhin mit erkalteten Herzen ihre Waffen auf ihre Nachbarn abfeuerten, oft als Heckenschützen feige aus der Deckung von Beton und Fels. Kein Autokonvoi, kein Transportflugzeug mit Hilfsgütern würde vor den Männern sicher sein, die aus dem Hinterhalt kamen, ausgenommen die Nachschublieferungen an Waffen und Munition. Die Militärmacht der Vereinten Nationen würde ein zerschlissenes Netz bleiben von bedrohten Stützpunkten, hinter deren Wällen und Panzerwagen die fremden Soldaten dieses Land verfluchten, seine Bewohner und sein Klima, seine Hitze und seine Kälte, seine Flüsse und seine Schluchten, seine verhängnisvollen Tage und unerbittlichen Nächte.

Afghanistan, Srebrenica & zurück

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