Читать книгу Afghanistan, Srebrenica & zurück - Norbert F. Schaaf - Страница 16

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12 Lynchmord

Was Anica dann hinter der nächsten Flussbiegung erblickte, vertrieb jäh jeden Gedanken aus ihrem Kopf. Sie zuckte zusammen, erschrak und erstarrte, ihre Augen blieben gebannt nach oben gerichtet. Man hatte vier Menschen, drei Männer und eine Frau, an einem Galgengerüst aufgehangen. Einige der Soldaten beleuchteten die schaurige Szene mit Scheinwerfern, damit andere Fotos von den bedauernswerten Opfern machen konnten. Der Hauptmann stand daneben, rieb sich die Hakennase und sah zu. Als er die Journalistin bemerkte, gab er hastig einen Befehl, und Anica beobachtete mit Schauder, wie die Soldaten die Erhängten von diesem gesetzwidrigen, jedem Rechtsempfinden hohnsprechenden Hochgericht herunterholten.

Anica löste sich aus ihrer Erstarrung und zerschnitt das vierfach zusammengedrehte Fernsprechkabel, an dem die Frau hing, genauer gesagt, das Mädchen, denn nach dem jungen, porzellanweißen toten Gesicht zu urteilen, handelte es sich wirklich noch um ein Mädchen. Mit einem Messerschnitt durchtrennte die Reporterin den letzten der vier Kabelstränge, ließ sich die Tote in die Arme gleiten und legte sie ins Gras. Zaghaft berührte sie mit zwei Fingern die zerbrechlich wirkende Stirn des Mädchens und streichelte zart die feine durchsichtige Haut. Anica traten Tränen in die Augen. Armes Mädchen, trauerte sie, was ist das für ein Leben, das dich zu einem solchen Ende geführt hat? Alles, was mit diesem Augenblick verbunden war, die Gedanken, das Gesehene, die Gefühle, der Kummer, alles prägte sich Anica gewiss für alle Zeit ins Gedächtnis. Die Mädchenleiche trug einen dunkelblauen Mantel aus grobem, dünnen Baumwolltuch, auf der Brust aufgeknöpft, darunter kam eine gestrickte Bluse zum Vorschein; ein Bein steckte in einem knallroten, oben ungleichmäßig abgeschnittenen alten Gummistiefel mit einer halbabgerissenen, durch eine Schnur festgebundenen Sohle, während das andere nur mit zerschlissenem Nylon bestrumpft war, in Kniehöhe klaffte ein großes Loch, durch das die weiße, leblose Haut schimmerte. Das Fernsprechkabel hatte sich hässlich tief in den schönen, langen weißen Hals eingeschnitten, der Kopf des Mädchens lag immer noch ein wenig schräg zur Seite und nach unten, woher wahrscheinlich auch der Gesichtsausdruck rührte, der auszudrücken schien: Was wollen sie von mir, habe ich denn jemandem irgendetwas getan?

Die Gelynchten mussten schon eine Weile gehangen haben, denn beim Abnehmen waren sie leblos-kalt, starr und porzellanbleich, so dass Anica schien, als könne ein Stück vom Gesicht oder von den Händen abplatzen, wenn man sie unvorsichtig hinlegte oder sie irgendworan stieß. Die Journalistin wischte sich die tränennassen Augen aus, schüttelte entsetzt und betrübt den Kopf, auch weil sie daran dachte, dass diese Menschen kürzlich noch lebendig gewesen waren, jetzt aber nur noch ihre Leblosigkeit und ihre porzellanhafte Kälte in ihrer Erinnerung und auf den Fotos der Soldaten weiterexistierten.

Ein Pritschenwagen fuhr heran, und die Soldaten legten die Leichen der Gehenkten unter den inspizierenden Augen des Vorgesetzten auf die Ladefläche.

„Herr Hauptmann“, brachte die Journalistin vor, „warum tun Menschen anderen Menschen so etwas an? Ihresgleichen foltern, schänden und meucheln?“

„Wir sind keine Mörder!“ entgegnete der Offizier entrüstet. „Erlauben Sie mal, Madam, diese Leute sind nicht von meinen Soldaten gehenkt worden. Überhaupt nicht von Soldaten. Das waren Zivilisten!“

„Und die Schindereien an den Leuten unten am Fluss? Sind das etwa nicht die Gewehrkolben Ihrer Soldaten? Und wollen Sie etwa behaupten, dass durch die Schüsse Ihrer Soldaten kein einziger Mensch getötet wurde?“

„Ich bin Soldat“, gab der Hauptmann zurück, und seine Augen waren ein schmaler Spalt. „Und Offizier. Ich erhalte Befehle, und ich gebe Befehle.“

„Denken Sie niemals über diese Befehle nach?“

„Das ist nicht meine Aufgabe. Und da ist auch kein Platz für Diskussionen. Ich habe meine Aufgabe, und ich verstehe, dass Sie die Ihre haben. Doch wenn Sie mehr wissen wollen, wenden Sie sich bitte an die Pressestelle des Oberkommandos. Da wird man Ihnen sagen können, wie mit Partisanen respektive Terroristen nach Kriegsrecht zu verfahren ist.“ Der Hauptmann grüßte linkisch, wenn auch vorschriftsmäßig, machte auf dem Absatz kehrt, entfernte sich zu seinem Funkunteroffizier.

Selbst schuld, sagte sich Anica, du weißt doch, wie wenig Sinn es hat, Führungsoffiziere zu fragen. Da erhältst du immer die gleichen nichtssagenden Phrasen zur Entgegnung. Halte dich an Martha Gellhorn, die erste Frau im Kriegsberichterstattergewerbe, die gesagt hat: `Glaube im Krieg keiner Führung, keiner einzigen, keiner militärischen und keiner zivilen, und kein einziges Wort.´ Und sie erinnerte sich an ihren amerikanischen Journalistenkollegen I.F. Stone, der einmal sagte, dass `jede Regierung aus Lügnern besteht. Nichts was sie sagen, dürfen wir glauben´. Warum also den Kompaniechef konsultieren, wende dich lieber an den gemeinen Soldaten, den sogenannten kleinen Mann oder Schützen Arsch.

Sie setzte diese Beherzigung sogleich in die Tat um und sprach die Soldaten an, die die drei weiteren Gehenkten von den Galgen abgenommen hatten. „Zasto?“ fragte sie. „Warum tun Menschen so etwas, ob mit oder ohne Uniform?“

„Befehl ist Befehl, Gospodjice“, antwortete der erste.

„Die anderen haben es bestimmt verdient“, äußerte der zweite.

„Wenn wir es verweigern, tun es andere; doch wir werden erschossen oder kommen zumindest hinter Gitter oder werden zu einem Himmelsfahrkommando befohlen“, erklärte der dritte.

„Was ich wissen will“, setzte die Reporterin nach, „ist, warum Menschen anderen Menschen so etwas antun können, ihr seid doch auch vor kurzer Zeit erst eurer Arbeit, eurem Alltag nachgegangen und habt dabei Gesetze und Gebote beachtet, die jetzt außer Kraft gesetzt scheinen. Warum also?“

„Da will ich Ihnen mal was erzählen“, hub der vierte Soldat an. „In den Wäldern bei dem Dorf, wo ich herkomme, haben wir ein wenig gewildert, um unser Taschengeld, unser schmales Haushaltsbudget ein wenig aufzubessern. Hier ein Hirsch, dort ein Wildschwein, Sie verstehen. Das lief sehr gut, und die Wünsche wurden mit der Zeit größer. Das Haus ausbauen, ein größeres Auto, die Hochzeit eines Kindes... Also mehr Rehwild, mehr Wildsäue töten, da wird im Wald auf alles draufgehalten, was sich bewegt. Es ist jagdbares Wild, es sind Tiere, und den Menschen geht es manchmal gar nicht gut. Eines Tages aber wird versehentlich ein Tourist in den Rücken geschossen, er verblutet. Es ist ein schlimmes Versehen. Damit es nicht herauskommt, werden seine Frau und sein Kind erschlagen sowie eine Pilzsammlerin, die Augenzeuge des Vorfalls geworden ist. Die Täter, allesamt Dorfbewohner, decken sich gegenseitig, geben sich falsche Alibis und bedrohen diejenigen Menschen im Dorf, die sich an Recht und Gesetz halten, die Polizei einschalten wollen; es gibt einen regelrechten Kleinkrieg. Und nur weil einer der Täter sich nicht von seinem kostbaren Jagdgewehr trennen will, kommt schließlich alles heraus. Sehen Sie, liebe Frau Journalistin, so fängt das an mit einem kleinen Unglück und endet mit mehrfachem Mord.“

„Kada?“ fragte Anica nach. „Wann hat sich die Sache abgespielt?“

„Vor drei Jahren“, erwiderte der Soldat. „Und wollen Sie wissen, wo das Dorf sich befindet?“

Die Reporterin nickte.

„Es war in Deutschland, im Südosten nahe der tschechischen Grenze. Ich habe den Fall damals mit großem Interesse verfolgt und mich über die Ähnlichkeit gewundert mit Vorfällen, die sich tatsächlich auch in meiner eigentlichen Heimat hier in Bosnien, allerdings bereits vor zwanzig Jahren ereignet haben...“

„Fertigmachen zum Aufbruch!“ brach unvermittelt der Befehl des Hauptmanns wie Donner über die Soldaten und Anica herein. Die Soldaten stießen die Hacken zusammen, während die Journalistin kaum zusammenzuckte, sondern unbemerkt ihre heimliche Kleinstkamera weiterlaufen ließ; sie filmte die abrückenden Soldaten, hoffend, dass auch der Ton gelungen war, wendete sich endlich ab.

An der Trafostation blickten die Posten verwundert auf die ausländische Journalistin, die mit wachsbleichem Gesicht vom Fluss her auf sie zu trottete. Doch keiner hielt sie an, die Uniformierten sahen sie grußlos an sich vorbeischreiten zu ihrem Motorroller, wo Zudeck-Perron auf sie wartete.

„Stellen Sie mir einen Schnappschuss zur Verfügung?“ fragte er lächelnd und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen struppigen, rötlichen Schnauzbart. „Einen, den Sie aus der Hüfte zu schießen pflegen.“

Anica schüttelte achselzuckend den Kopf. „Leider.“

„Typisch Frau“, hielt Zudeck-Perron ihr vor und grinste, „sich ein Handtäschchen zulegen und ein Geschäft aufmachen. Wenn Sie mich übergehen, stecke ich den Kerlen, womit Sie auf der Straße Ihr Geld verdienen.“

Anica sah ihm hart in die Augen. „Die kleine Savka hat mir gebeichtet, dass Sie mehr als nur Porträtaufnahmen von den Zimmermädchen machen. Ist da was dran, Onkelchen Pavle?“

„Ich weiß gar nicht, was Sie wollen“, entgegnete er, setzte ablenkend rasch in misslaunigem Ton und naserümpfend hinzu: „Es ist sicher noch zu dunkel zum Filmen da unten am Fluss.“ Sichtlich fiel es ihm schwer, sich mit einer Sachlage abzufinden, deren Umkehrung er nicht erzwingen konnte.

Die Reporterin nickte. „Es sieht schwarz aus“, sagte sie, setzte eine heitere Miene auf, winkte lässig im davonfahren. Seinen steilen Mittelfinger – in ihrem Rücken gleichwohl von ihr nicht zu sehen – mag er sich sonstwohin stecken, dachte sie.

Afghanistan, Srebrenica & zurück

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