Читать книгу Afghanistan, Srebrenica & zurück - Norbert F. Schaaf - Страница 22
Оглавление18 Anicas Hotelzimmer
Anica erhob sich schlaftrunken, taumelte zur Duschkabine. Djmal hatte sie pünktlich geweckt und ihren Alptraum abgebrochen. Nachdem Savka den Jungen behutsam, aber bestimmt aus dem Zimmer gedrängt hatte, blieb das Mädchen an der Tür stehen, um zu fragen: „Kaffee, Gospodjice?“
„Sehr viel Kaffee, ein Ei, Toast und Peperoni“, rief sie. „Jede Menge Peperoni, auf dass sich die Gefäße öffnen, wie es heißt.“
Savka begriff nicht, welche Gefäße aufgehen könnten, lief indes fröhlich in die Küche und bestellte das Frühstück. Sie amüsierte sich wieder über die Deutsche, die morgens immer schon in die ungewöhnlich scharfen Schoten biss, die sonst kaum ein Ausländer anrührte. Als das Mädchen mit dem Tablett im Hotelzimmer erschien, spulte Anica gerade ein Band zurück. Savka musste lachen über die lustig rückwärts laufenden Bilder auf dem Monitor, die zeigten, wie menschlicher Kot vom Rinnstein seinen Weg zurück fand in den After dieses älteren Mannes von der Straße unten und die Brotlaibe blitzgeschwind gen Himmel auffuhren, bevor sie schleppend langsam wieder herabschwebten und aus dem Korb verschwanden. Anica dagegen fiel die seltsame Symbolik auf der in falsche Zeitrichtung spielenden Aufnahmen, wo der Zustand vorher besser war als hernach. Sie legte ein zweites Tape ein. Es waren freilich erschütternde, Abscheu erregende Bilder. Ein Freund hatte dringend nach dem Band gefragt; es zeigte eine glatte Schneedecke, in dicke Mäntel und lange Schals gemummte Gestalten kratzten sie mit Spaten ab, bis unter dem Schnee hastig aufgeworfene Brocken gefrorener Erde auftauchten, darunter barfüßige, halbnackte Leiber, von Männern, Frauen und Kindern, mit gequält verrenkten, zur Seite gebogenen Köpfen, mit starren Hälsen, mit ausgestreckten eisigen Armen, mit verkrampften Fingern und schmutzigen Fingernägeln, die noch die Erde zerkratzt hatten, bevor diese Menschen erst zuletzt gestorben waren. Anica erinnerte sich, dass im Spätherbst eine dieser Gruben geöffnet worden waren, um sich davon zu überzeugen, ob die Serben einen bestimmten Gefangenen wirklich erschossen oder nur so getan hatten, während sie ihn tatsächlich zur Zwangsarbeit in ein Lager schickten. Im Frühjahr hatte sie dann mit ihren eigenen Augen den eingesunkenen Boden gesehen, wo die glatte Schneedecke gelegen war und sich nurmehr ein langgezogenes Viereck abgesackter Erde abzeichnete...
Die Journalistin schob das Band in die Hülle, mit dem Ärmel wischte sie sich die Tränen auf den Wangen ab. Dabei fiel ihr Blick auf die Uhr. Sie seufzte, trat vor den Spiegel. Sie war frisiert, wie immer dezent geschminkt und trug eine gelbe Bluse mit dem stilisierten Berliner Bären. Noch einmal sah sie sich in die Augen und zog eine Schnute, sie zuckte die Achseln, durch den Spiegel fiel in ihren Blick der Tisch. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Heißhungrig machte sie sich über das Frühstück her, bevor sie die Bandkassette sowie einen großen Umschlag einsteckte und noch einen gleichsam automatischen Blick durch das Teleobjektiv warf. Der Himmel über den Bergen war strahlend blau. Kein Sterbewetter, dachte sie und konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann der letzte Schuss gefallen war. Irgendwann mussten die Munitionsvorräte ja einmal ausgehen oder die Augen zufallen vor Müdigkeit hinter dem Zielfernrohr. Hoffnungsvoll und gleichzeitig bänglich beobachtete Anica die Straße. Weder Mensch noch Fahrzeug tauchten unten auf. Nirgends war auch nur ein Gesicht an einem Fenster des Apartmenthauses zu sehen. Diesmal wird nichts passieren, sagte sich die Journalistin und wollte schon das Auge von dem Fernglas lösen.
Da kam ein kleiner Hund um die Straßenecke. Er lief auf einen Müllhaufen zu, durchwühlte ihn nach etwas Fressbarem. Auch die Straßensperre wurde beschnüffelt, und da die braunweiße Mischlingshündin nichts fand, kauerte sie sich mit den Hinterläufen auf ein Stück Holz und bestrullte die Wegsperre mit einem scharfen Strahl. Die Schnauze im Straßendreck trottete sie weiter müde den Gehsteig entlang.
Plötzlich erschien ein zweiter Hund im Blickfeld des Teleobjektivs. Schnurstracks trabte er der Hündin hinterdrein und steckte die Schnauze unter ihren Stummelschwanz. Der Rüde mit schwarzem zotteligen Fell war ungleich größer als die kurzbeinige Hündin, die mit dem Kopf gerade die Unterseite seiner Brust erreichte. Der Rüde versuchte mit zerfransten Vorderpfoten die Hündin auf der Stelle zu halten, um sie zu decken. Anica beobachtete nicht ohne Genugtuung, dass es dem Rüden trotz mehrerer Versuche nicht gelang. Zu groß, ja geradezu lächerlich erschien ihr der Größenunterschied der dicht hintereinander trottenden Hunde. Ob die Tiere wahrnahmen, dass die Straße frei war von Autos und Passanten? Flößte ihnen das Angst ein, freuten sie sich darüber oder war ihnen das einerlei? Und wie empfanden sie das Fehlen jeglicher Nahrung? In die Fragen Anicas platzte wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein Schuss, und den Bruchteil einer Sekunde darauf brach der Rüde getroffen am Rinnstein zusammen. Mit einem zweiten Knall ereilte die Hündin das gleiche Schicksal. Wahnsinnig vor Schmerz wälzten die Hunde sich über das Pflaster. Jeder Stein warf ihr Wehgejaule dutzendfach zurück.
Das muss derselbe Heckenschütze gewesen sein, dachte Anica, der die Brotlaibe erschossen hat, und heute rief er sich in Erinnerung, indem er die einzigen Lebewesen über den Haufen knallte, die sich in dieser toten Straße regten. Die Hunde aus dem Blickfeld, verließ die Journalistin niedergedrückt das Stari Grad über den Parkplatz des Hinterausgangs.