Читать книгу Afghanistan, Srebrenica & zurück - Norbert F. Schaaf - Страница 19
Оглавление15 Videobilder
Die Reporterin fertigte einen Kurzbericht über die Gelynchten an und machte sich dann gleich daran, die Aufnahmen der vergangenen Nacht auf ein zweites Tape zu sichern und die Bilder zu sichten. Noch war sie aufgewühlt, in Schlaf würde sie trotz heftig verspürter Müdigkeit jetzt nicht finden. Sie beobachtete den Monitor, war mit der Qualität ihrer Videoaufnahmen nicht unzufrieden, sie bereitete den Text für die Nachvertonung vor und markierte bereits passende Schnittstellen. Schließlich kontrollierte sie zum letzten Mal einen Beitrag, der via Satellit nach Deutschland überspielt werden sollte. Die Bilder zeigten eine Straße, auf der sich ein unvorstellbares Drama abspielte. Ein LKW stand quer auf ihr und brannte. Andere hatten nicht rechtzeitig anhalten können und waren aufeinandergeprallt. Eine Reihe Granatgeschosse detonierte auf dem Fahrdamm und neben der Landstraße; etliche Männer warfen sich aus dem Führerhaus und von den Pritschen, sie stürzten in Gräben, rannten panisch übers Feld. Aus Panzern wurden sie von Geschützen und Maschinengewehren beschossen. Ein Tank mit der Aufschrift KRALJICA SMRTI, „Königin der Todes“, fuhr auf die Straße und rollte an der Kolonne entlang. Knirschend schob er einen LKW nach dem anderen in den Straßengraben, zermalmte die von den Wagen springenden Männer unter seinen Ketten. Von Schützenpanzerwagen, die den Tanks folgten, sprangen MPi-Schützen ab, schwärmten aus und schossen mit den Maschinenpistolen aus der Hüfte auf alles, was noch Leben zeigte.
Du weißt, wie das ist, dachte Anica, du willst hinsehen und du willst nicht hinsehen. Sie sah mit jener unauslöschlichen Schärfe, mit der solche Erinnerungen oftmals im Gedächtnis aufblitzten, die vietnamesische Kriegsbilder aus ihrer Jugendzeit in der Kinowochenschau, später im Fernsehen, wo Tote gezeigt wurden, viele Tote, die eng beieinander auf einem Feld oder einer Straße lagen, oft so dicht beisammen, als klammerten sie sich aneinander. Und genau das gleiche absonderliche, halszuschnürende Gefühl überkam sie bei den Illustriertenfotos: Selbst wenn die Bilder gestochen scharf und vollkommen klar waren, war irgendwas überhaupt nicht klar, etwas Verdrängtes, das die Bilder verengte und ihre eigentliche Information verdeckte. Das mochte ihre morbide Faszination gerechtfertigt haben, die sie so lange hinsehen ließ, immer und immer wieder. Damals hatte sie keine Erklärung dafür, doch heute erinnerte sie sich der Scham, die sie empfunden hatte, als betrachte sie ihren ersten Porno.
Die nächste Einstellung zeigte die von den Serben aufs Korn genommenen, meist waffenlosen Männer über die Straße irren. Nur einige von ihnen gaben, bevor sie selbst tot zusammensackten, verzweifelt ein paar Schüsse ab, doch die meisten von ihnen starben unbewaffnet, der letzten herben Genugtuung eines Soldaten beraubt, im Sterben wenigstens selbst noch zu töten. Flohen sie, schoss man ihnen in den Rücken, hoben sie die Hände, wurden sie in die Brust getroffen.
Weitere Bilder zeigten Männer, die total von Sinnen herumliefen. Ein Mann kroch auf alle vieren und kotzte eine übel aussehende rosa Masse aus, ein anderer, in Großeinstellung zu sehen, lehnte an einem Baum mit dem Rücken zu der Richtung, aus der immer noch geschossen wurde, und zwang sich, auf das Unglaubliche zu blicken, das gerade seinem Bein zugestoßen war: Knapp unterhalb des Knies war es ungefähr einmal um sich selbst gedreht wie ein groteskes Vogelscheuchenbein. Er sah weg und dann wieder hin, jedes Mal schaute er ein paar Sekunden länger darauf, schließlich starrte er etwa eine Minute hin, schüttelte den Kopf und verzog die Miene zu einem Lächeln, bis sein Gesicht ernst wurde und er endlich umkippte.
Es war wie bei den Bildern ihrer Jugend: Sie hätte hinsehen können, solange sie wollte, bis ihr die Augen zufielen, und sie hätte immer noch nicht den Zusammenhang gelten lassen zwischen einem abgetrennten Bein und dem übrigen Körper, den Posen und Stellungen, die immer vorkamen – heute wusste sie, dass das „Reaktion-auf-Treffer“ genannt wurde –, Körpern, die zu schnell und gewaltsam in unglaubliche Verdrehungen gezwungen wurden, in absoluter Unpersönlichkeit des Massentodes, der sie einfach irgendwo und irgendwie so liegen ließ, wie er sie verlassen hatte, über Stacheldraht hängend oder wahllos über andere Tote geworfen oder in die Baumkronen hochgeschleudert wie Endzeit-Akrobaten: `Seht her, was der Mensch kann!´
Auf den letzten Bildern waren die serbischen MPi-Schützen zu sehen, die über drei im Straßengraben liegenden Leichen standen. Ein serbischer Oberleutnant presste ein blutdurchtränktes Taschentuch an seine von einer Kugel zerfetzte Wange, bückte sich und betrachtete interessiert und voller Stolz die Majorsaufschläge des bosnischen Offiziers, der sterbend zu seinen Füßen lag.
Selbst in der schrecklichsten Vision konnte ein Mensch keine erbarmungslosere Verantwortung empfinden als dieses notgedrungene, dadurch jedoch keinesfalls minder entsetzliche Pflichtbewusstsein, das der Journalistin Anica Klingor jetzt mit der Publizierung dieser Bilder zugefallen war. Ihr war bitterernst zumute, ihr Innerstes wurde von tieftrauriger Kümmernis zerrissen, sie fühlte es einfach und ohne jeden Schrecken im Vergleich mit diesem alltäglichen Tod in dem Land Bosnien-Herzegowina.
Während sie sich diese Gedanken durch den Kopf gehen ließ, legte sie sich bäuchlings aufs Bett und beobachtete das Rieseln der astralfarbenen Körnchen in der kleinen Sanduhr ihres Geliebten. Die obere Kugel lief leer, in der unteren lag still die kleine, glänzend bläuliche Düne. Obgleich die wirkliche Zeit in der grenzenlosen Weite der Kugel des Kosmos ihren Lauf fortführt, überlegte sie. Spielerisch drehte sie sich auf den Rücken, ließ den Kopf über die Bettkante baumeln. Und was sie dann sah, kam ihr sehr sonderbar vor: Der Sand begann aufzusteigen. Langsam, aber stetig rieselte er aus der unteren Kugel in die obere, als würde die Zeit zurücklaufen. Die Sandkörner schienen schneller zu rinnen, schneller und immer schneller...