Читать книгу Afghanistan, Srebrenica & zurück - Norbert F. Schaaf - Страница 18
Оглавление14 Der Portier des Gasthauses Murira
Als Anica das Gasthaus von Frau Murira erreichte, fegte eine Kette weißlackierter Düsenjäger mit donnerndem Fauchen dicht über den Talkessel hinweg, zog steil hoch und verschwand in der glühenden Röte des knapp über dem Taleinschnitt stehenden Sonnenballs. Jaguare, dachte die Reporterin. Britische oder französische?
Und was ist mit seinem Frachtflieger, grübelte sie neuerlich, mit den Gedanken wieder bei ihrem Freund. Melancholie bemächtigte sich ihrer wieder, als sie den über dem rötlich-grauen Himmel dahinfliegenden Maschinen der zweiten Kette nachblickte. Dieses Firmament wollte keine einzige ihrer Fragen beantworten, obwohl es scheinbar alles wusste: Wo er jetzt war, was er tat, was er dachte...
Liebe..., sinnierte Anica plötzlich. Was ist eigentlich Liebe? Dass wir uns wohl fühlen, wenn wir beide zusammen sind, oder dass ich mich nach ihm sehne und nachts mitunter weine? Dass ich nur an ihn denke, keinen anderen sehen will? Oder dass ich Worte an ihn formuliere, aber nicht weiß, wie ich sie ihm übermitteln soll?
Vielleicht ist das alles so, und trotzdem ist es wenig verglichen mit dem, was ich empfinde, was ich wünsche und was ich nicht ausdrücken kann. „Ich weiß es nicht...“, murmelte sie stimmlos vor sich hin, „ich weiß es einfach nicht...“
Was wünsche ich mir denn am meisten, fragte sie sich wieder. Am dringendsten möchte ich... jetzt dort sein, wo Dragan ist. Doch wenn es dort furchtbar ist und ich in Gefahr gerate? Trotzdem möchte ich hin! Und wenn wir verwundet würden? Auch dann möchte ich hin; und dann sollen wir beide verwundet werden! Aber wenn wir umkommen? Ist doch einerlei, Hauptsache wir sterben gemeinsam. „Ich weiß es nicht...“, flüsterte sie noch einmal.
Der greise Nachtportier öffnete Anica verschlafen die Tür. „Arbeit“, murmelte er, „immer nur Arbeit. Gute Aufnahmen gemacht, Gospodjice?“
„Eine Explosion“, antwortete sie leise. „Im Umspannwerk an der Ausfallstraße nach Vojkovic. Und Lynchmorde.“
Der Alte wog bekümmert den Kopf, der aussah, als wäre er ihm einmal abgeschlagen worden und dann wieder aufgesetzt, jedoch nicht an der ursprünglichen Stelle, sondern näher zu der linken und weiter weg von der rechten Schulter. Sein Schädel war kahl bis auf ein dichtes Haarbüschel, das aus der Stirn, dicht über der Nasenwurzel, emporwucherte. Die spitzen Wangenknochen waren unterschiedlich hoch, mit gräulichen Bartstoppeln, der Alte war spindeldürr, seine runzelige Haut erinnerte an Schrumpfleder. Seine starren Blicke gingen an der Frau vorüber, als gäbe es draußen auf der Straße etwas für ihn zu sehen. „Oft Detonationen, Fräulein“, raunte er mit erhobenem Zeigefinger, „und Tote, viel und oft...“
Anica sah ihn an. „Die Soldaten haben einen Mann erschossen“, berichtete sie. „An der Miljacka. Sowie vier Menschen an Galgen aufgehängt. Dazu an die hundert Leute verhaftet. Lager Lapovo.“
Der Gesichtsausdruck des Greises blieb unverändert. Als hätte ich von einem Flugzeugabsturz in den Anden berichtet, dachte Anica. Berührt es ihn nicht? Oder ist er bemüht, keinerlei Regung zu zeigen aus Furcht, für einen Anhänger der falschen Seite gehalten zu werden? Wer weiß, für wen sein Herz schlägt? Man sah nicht hinter die Stirnen der Menschen, vermochte nicht in ihren südländischen, verbrannten Gesichtern zu lesen, welche Gedanken und Gefühle sich verbargen hinter ihrer äußerlichen Gleichmütigkeit, die sich jäh in hitzige Rage verwandeln konnte. Generationen von sogenannten Balkan-Experten haben ihre mageren Weisheiten für die hochentwickelten Industrieländer zu Geld gemacht auf Kosten des hiesigen Vermögens, das bis vor kurzer Zeit selbst erhebliche Entwicklungshilfe in den noch privilegloseren Ländern rund um den Globus geleistet hat. Sind die Gutsituierten mit ihren Sonden und Satelliten jemals bis unter die Haut dieser Region gedrungen? Sie fliegen zum Mars und wollen das Universum erkunden, von den Gefühlen und Regungen der erdverbundenen Menschen „vor ihrer Haustür“ verstehen sie nichts.
„Ich lebe noch nicht so lange auf dem Balkan“, sagte sie, „vielleicht berührt mich deshalb alles noch stärker. Vor allem bin ich Reporterin und habe über den Krieg hier zu berichten. Manchmal gerate ich freilich in Situationen, in denen es mir schwerfiel, mich zu beherrschen. Am liebsten griffe ich mir dann eine Waffe.“
Der Greis blickte sie überrascht an. „Das tut man nur, wenn man sich auf eine bestimmte Seite stellt. In Ihrem Beruf scheidet das aus, soweit mir die Spielregeln bekannt sind.“
„Ich stehe immer auf der Seite der Gepeinigten“, erwiderte Anica, „und es gibt Spielregeln, die einem den Respekt vor sich selbst nehmen können.“
Der Alte lächelte schwach. Sieh an, eine kritische Deutsche. Ein Phänomen. Ich bin zu alt, um zu wissen, dass es so etwas gibt. „Ich kann Ihre Gefühle verstehen“, krächzte er hüstelnd, „es ist nicht leicht, mit ansehen zu müssen, wie Leute umgebracht werden, ohne dass man etwas dagegen tun kann. Und Sie sind Deutsche.“
„Ich bin ein Mensch.“
Der Alte schwieg, sah sich nach links und rechts um.
„Bosnische Serben, kroatische Bosnier, Muslimanen, Restjugoslawen“, zählte Anica auf. „Wer wird letztendlich gewinnen?“
Wieder sah der Greis zur Straße hin. „Ja, Gospodjice“, murmelte er, „Kreuz und Halbmond, alle sind wir in der Hand unseres Schöpfers...“
Der weißhaarige Greis war freundlich und hilfsbereit, beabsichtigte aber offenbar nicht, sich weiter in ein Gespräch über die Macht von Gott oder der Welt einzulassen. Die Journalistin erahnte, was in dem Alten vorgehen mochte. Nie wusste man in diesem Land, zu wem man sprach, wenn es sich um Ausländer handelte. Hinter ihren glatten, weißhäutigen Gesichtern verbargen sich die Angst vor den kämpfenden Völkern und das gierige Interesse an den eigenen Belangen, das sich an wirtschaftlichem Erfolg orientierte. Am besten trat man den Fremden höflich entgegen und ohne seine Gedanken zu offenbaren, solange sie versuchten, diese Gedanken mit Kapital in ihrem Sinne zu verändern oder mit tödlichen Waffen zu bekämpfen. Die Zeit des echten, ehrlichen Dialogs lag mehr denn je in weitester Ferne.
„Ich habe Ihnen eine Flasche Campari mit Soda aufs Zimmer gestellt, Gospodjice“, sagte der Alte. Seit Anica ihn einmal darum gebeten hatte, fand sie stets die eisgekühlte Bitterspirituose vor, ob sie spätabends heimkam oder am frühen Morgen. Sie bedankte sich freundlich, stieg unter den trüben Blicken des Greises die Treppe hinauf.