Читать книгу Afghanistan, Srebrenica & zurück - Norbert F. Schaaf - Страница 8

Оглавление

4 Die Straßen Sarajevos

Die Reporterin benutzte den alten, klapprigen Motorroller des verstorbenen Gasthausbesitzers. Er trug noch die Werbeaufschrift und war auch sonst am besten geeignet, sich in der ramponierten Infrastruktur der Olympiastadt zu bewegen. Die Obala Vojvode Stepe wimmelte von Menschen. Scheinbar war ganz Sarajevo auf den Beinen. Der Waffenstillstand wurde – ausgenommen die Heckenschützen – von den Parteien nur tagsüber seit mehr als achtundvierzig Stunden eingehalten, er zerfaserte also bereits wieder wie ein zu lange getragenes Kleid aus schlechtem Material; allenfalls die Artillerie auf den umliegenden Bergen schwieg. Die Fahrzeuge, Personenkraftwagen, Mopeds und Fahrräder sowie der Roller mit der deutschen Journalistin, stauten sich nicht nur vor den Kreuzungen mit ihren zerstörten Ampelanlagen, sondern vor jedem einzelnen Kraterloch der unzähligen Granateneinschläge, die mit aller Vorsicht umfahren sein wollten. Die Autos fuhren Stop and Go, höchstens Schritttempo und behinderten die fließende Fortbewegung der unmotorisierten Verkehrsteilnehmer. Vor und in den Geschäften drängten sich die Leute. Die Läden erinnerten Anica an Garagen; zu ebener Erde gelegen stand ihre gesamte Vorderfront offen. In diesen Schaufenstern ohne Glasscheiben hingen die Waren: Früchte oder Fahrradreifen, Kleidung oder Topfwaren, oft auch alles durcheinander, von allem etwas in jeglichem Geschäft. Nur in den Ständen auf dem Markt war das Sortiment streng spezialisiert, wird gepflegt und sachkundig angeboten – freilich zu phantastischen Preisen in ausschließlich deutscher oder nordamerikanischer Währung.

Anica spürte auf der Haut die feuchtheiße Luft und die Insekten, die voller Lebenslust in der Sonne von den Abfällen aufschwirrten; hervorgekrochen aus den dunklen Tiefen mancher Hotelbetten, dachte die Journalistin. Sie verspürte wie die meisten Menschen eine sonderbare Niedergeschlagenheit; sonderbar, weil trotz der Trägheit des Körpers der Geist unruhig wachte, als befürchte er drohendes Unheil.

An den mehrstöckigen Häusern starrten die Hülsen der zerschlagenen Neonreklamen leer herunter, Mauern und Fassaden waren übersät von Einschusslöchern. Neben der schwarzen Punktschrift der Granatlöcher fehlten trotzdem nicht völlig die einschlägigen Werbelogos der Getränke-, Zigaretten- und Modeindustrie, sondern prangten auf improvisierten Sonnenschirmen, als Ladentische dienenden Verpackungskisten und auf koloristischen Plastbeuteln.

Das lärmende Geschrei der Händler erfüllte die Luft und erinnerte Anica daran, dass sie den orientalischen Basaren hier näher war als dem künstlichen Prunk der westlichen Fußgängerzonen und Shoppingcenter. Kinder jagten sich lärmend auf den schmutzverkrusteten, fleckigen, übelriechenden Gehsteigen. In der Auslage eines Fernsehgeschäfts stand eine Reihe Bildschirme mit demselben Programm: in der bekannten amerikanischen Krimiserie muteten die serbokroatischen Dialoge der Hauptdarsteller recht befremdlich an. Von den Radioempfängern im hinteren Verkaufsraum drang auf die Straße an das Ohr der Rollerfahrerin laute Schlagermusik, die sich in nichts von den Tönen anderer europäischer Metropolen unterschied. Zwischendurch empfahl eine marktschreierische Männerstimme, ein bestimmtes deutsches Waschmittel zu benutzen und sich nur mit Zahncreme amerikanischer Herkunft das Gebiss zu pflegen. In diese polychrome City-Atmosphäre hatte sich Anica rasch eingewöhnt. Lediglich der Kraftverkehr in diesem Getümmel von Zerstörung und Chaos, aber gleichwohl ungebrochenem Lebenswillen, hatte seine Tücken.

Schlagartig wurde die im Vergleich zu den vergangenen Tagen beinahe idyllisch zu nennende Szene in eine Tragödie verwandelt. Aus heiterem Himmel schoss die serbische Artillerie wie verrückt eine Granate nach der anderen in den Straßenzug. Beißender Qualm erfüllte allmählich die Luft und ätzte der Journalistin die Lungen. Sie stellte abgehackt hustend den Roller ab in das geschlossene Portal eines Gebäudes hinter ein Schild mit der Aufschrift PSYCHIATRISCHE KLINIK.

„Verfluchte Schweinehunde!“ hörte sie einen Passanten schreien, sah, dass er sich wie alle anderen Menschen schutzsuchend an eine Häuserwand drückte. „Sie schießen sich wieder ein und ausgerechnet bei uns müssen sie anfangen!“

Anica wusste, die Artillerievorbereitung war damit jedoch bereits zu Ende gegangen. Diesmal wurde hauptsächlich mittelschwere Artillerie eingesetzt, die man nachts überall, wo es möglich war, zum Direktbeschuss in Stellung gebracht hatte. Obgleich das dumpfe Dröhnen und beklemmende Beben der Erde von nahen Abschüssen schwerer Kaliber fehlte, waren die Straßenzüge und der naheliegende Markt von Knallen und Krachen erfüllt. Das Feuer einer Batterie schien aus unmittelbarer Nähe, von einem anliegenden Stadtteil vielleicht, auf die City einzuhämmern. Es hörte sich an, als knacke jemand Riesennüsse direkt an Anicas Trommelfell.

Die Geräusche des Krieges waren im hautnahen Erleben doch sehr sonderbar, dachte die Journalistin, und so verschiedenartig. Manche klangen monoton und melancholisch wie in eine leere Blechtonne tropfendes Regenwasser. Andere tönten melodisch und skurril, gleich einem monströsen Xylophon. Dem `Wlomp, wlomp´-Stakkato der Artillerie folgte sostenuto das `Kwumm, kwumm, kwumm´ der Granatdetonationen, untermalt von dem charakteristischen `Bup, bup, bup, bup´ einer Kalaschnikow. Ganz bestimmte Geräusche aber frappierten durch das Missverhältnis von Ursache und Wirkung: Ein sirrendes Stückchen totes Eisen reichte völlig, um ein Menschenleben auszulöschen. Heute klangen alle Geräusche schrill und aggressiv; etwas Brühheißes, Tropisches lag in ihnen, wahrscheinlich weil es trotz brennender Sonne so schwülwarm war.

Einige Dutzend Granaten schlugen so nah bei Anica ein, dass jedes Mal der Boden um sie herum erzitterte. Der Rauch der Detonationen über ihr wirbelte und quirlte, als würde vom Himmel bis zur Erde ein schwarzer Brei mit dem Löffel umgerührt. Eine vor der Sparkassenfiliale parkende deutsche Luxuslimousine erhielt einen Granateneinschlag, im Asphalt qualmte ein Trichter, ringsherum streckten sich bizarr verbogene Eisenstücke und verbeulte Blechteile. Für Anica war es eine Qual, den beißenden Qualm des heißen Asphalts einzuatmen. Auf der Straße rollte ein abgerissenes Rad auf sie zu. Bevor es ins Taumeln kam, kullerte es noch einige Meter, als wollte es bis zu ihr rollen, kippte jedoch vorher um, der stählerne Radkranz schepperte auf dem Straßenbelag. Dann schlug ein Volltreffer in die Hausruine, an deren Mauerfuß sich die Reporterin auf den Boden warf. Sie verspürte Druck, auch einen heftigen Schlag und vernahm ein mächtiges Dröhnen, bevor eine Last auf sie stürzte und ihr die Luft abschnitt. Steinbrocken der einstürzenden Mauer und splitterndes Holz von verkohlten Fensterrahmen hatten sie vollständig verschüttet. Schwer atmend arbeitete sie sich unter Anspannung aller Kräfte aus den Trümmern. Es gelang ihr, weil sie sich vor dem Einschlag den Kopf mit der Handtasche bedeckt hatte und die Hände oben geblieben waren. Endlich bekam sie die Hände frei, schob grimmig alles beiseite, was sie am Aufstehen hinderte. Sie erwischte sogar noch den Schulterriemen mit ihrer Handtasche. Schließlich kroch sie etwas benommen, aber heil aus ihrem steinernen Grab. Schwankend stellte sie sich auf die Füße, wischte sich den Schweiß aus Angst und Schwüle von der Stirn. Rings um sie war viel Zerstörung, aber die Granatexplosion hatte die Hauswand nach innen fallen lassen, und die Detonation war erst erfolgt, als die Journalistin schon unter einem Holzrahmen lag.

Unvermittelt kauerte sie sich wieder zu Boden, es gab keinen konkreten Grund, nur das instinktive Empfinden einer Gefahr. Sie blickte sich um und gewahrte eine Rakete, die quasi friedlich in einem Winkel des Rahmens steckte. Sie hatte das Holz durchbohrt, ohne zu explodieren; Anica hatte nur splitternde Geräusche vernommen. Vorsichtig stand sie auf, entfernte sich dann langsam, floh schließlich hastig rückwärts, ohne den Tod, der eingekapselt in der Röhre steckte, aus den entsetzten Augen zu lassen. Die Rakete war schlank, etwa einen Meter lang und sattgrün. Welch Ironie, kam der Journalistin in den Sinn, dass der Tod sich in die Farbe der Bäume, das Grün des Lebens kleidete.

Anica kam sich vor wie Blechspielzeug, das sich aufziehen lässt, damit es im Kreis herumläuft, und wenn es an einem Stuhlbein oder an einer Teppichkante hängen bleibt, es trotzdem immer weiter dieselben mechanischen Bewegungen macht. Ebenso erging es ihr. Wie eine Aufziehpuppe lief sie gegen Mauerreste, Autos und flüchtende Menschen, ehe sie ihren Roller erreichte.

Erleichtert klopfte sie sich den gröbsten Staub von ihrem Overall, schüttelte ihn aus den Haaren. Mit ihrem Taschenspiegel stellte sie verblüfft fest, dass sie wie durch ein Wunder keinen einzigen Kratzer abbekommen hatte. Verletzt war sie nicht, aber Herz und Gemüt bluteten ihr, denn sie musste feststellen, dass die Mauerfüße gesäumt waren von an die Hundert mehr oder minder verletzten Zivilisten, unter ihnen sicher zwei bis drei Dutzend Tote. So als zeigten sie sich mit ihrem grausigen Werk zufrieden, war der Granathagel abrupt abgerissen.

Die Reporterin wartete nicht auf das Eintreffen der Sanitäter und Leichenwagen, sondern kletterte auf den intakt gebliebenen Roller, ihr Herz schlug weiter wie eine ekstatisch geschlagene Bongotrommel, sie drehte den Zündschlüssel... der Motor sprang an, und sie setzte – ebenso schockiert wie grüblerisch – den Weg fort, so wie auch alle anderen Heilgebliebenen ihre Beschäftigungen wiederaufnahmen, als sei nichts geschehen. Überall wurden die Türen wieder aufgemacht, die Rollläden wieder hochgezogen, die Gaslampen wieder angezündet, und wie Ratten, die wieder ins Nest zurückkehren, fanden auch die bei der sinnlosen Flucht davongekommenen Bewohner wieder in ihre Häuser und Baracken zurück. Die, die zurückgeblieben waren, kamen stattdessen heraus, in den Händen einen Strick haltend, und wie Katzen, die nach dem Gewitter wieder aus ihren Schlupflöchern hervorkriechen, bewegten sie sich mit kleinen, vorsichtigen Schritten, um nur ja kein Geräusch zu machen, mit angehaltenem Atem, um jedes Geräusch zu hören, und mit weit aufgerissenen Augen, um die staubverdunkelte Luft durchdringen zu können. Neuerlich wurde die Waffenruhe in einem Sonderkommuniqué aus Rundfunklautsprechern verkündet, die schrillen Muezzins ratifizierten sie von den speerschlanken Minaretten herab mit Gebeten zu Allah, die Soldaten bestätigten sie von Panzern aus mit lauten Jubelrufen und feierlichen Flüchen, doch die Sarajlije, Sarajevos Einwohner, wollten der Sache nicht recht trauen. Erst nachdem sie sich versichert hatten, dass nicht mehr auf sie geschossen wurde, begannen sie rasch zu gehen, und es sah so aus, als würden sie etwas suchen. Sie waren auf der Suche nach ihren Toten. Und sobald sie einen gefunden hatten, blieben sie wortlos stehen, knoteten ein Ende des Stricks um dessen Knöchel oder Brustkorb, nahmen das andere Ende über ihre Schulter und schleiften ihn weg wie einen Schlitten. Tote zu finden war nicht schwer. Wo man auch hinschaute, überall sah man einen liegen.

Afghanistan, Srebrenica & zurück

Подняться наверх