Читать книгу Afghanistan, Srebrenica & zurück - Norbert F. Schaaf - Страница 9
Оглавление5 Eine tödliche Straßenkreuzung
Die Kriegstage in Sarajevo empfand Anica wie alle Menschen als unterschiedlich. An manchen verlustreichen Tagen stumpften einige Leute derart ab, dass ihnen erst später und allmählich aufging, was sich ereignet hatte und wer im einzelnen nicht mehr war. An anderen Tagen, zwischen den Angriffen, wussten sie bei aller gegenteiligen Hoffnung, dass es viele unvermeidbar treffen würde. In länger anhaltender Waffenruhe stellte sich bei allen das normale menschliche Empfinden wieder ein. Die Nachricht „sie oder er ist tot“ nahm man auf ganz neue Art auf und man wurde sich bewusst, was es hieß, dass ein Mensch plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Alles war still, man selbst lebte, und auf einmal war ein anderer tot, er musste überführt und begraben werden, wo er doch vor ein, zwei Stunden, noch recht lebendig war und nicht sterben wollte, gleichwohl sagte man: „Falls es die Granate gibt, auf der mein Name steht, wird sie mich finden, ob ich mich im Keller verstecke oder auf offener Straße gehe.“
Auf der nächsten Kreuzung kam der Verkehr ins Stocken, Anica war gezwungen zu halten, und als sie einem Lieferwagenfahrer Zeichen machte, um sich zu erkundigen, was passiert sei, übertönte eine befehlsgeübte Stimme aus dem Megaphon ihre Worte. „Halt! Stehenbleiben! Keine Bewegung!“ schallte es über den ganzen Platz. Und was sich nun abspielte, machte der Reporterin endgültig zutiefst bewusst, dass ihr Leben hier in Bosnien-Herzegowina endgültig in zwei Teile zerfallen war, zwischen denen es keine Verbindung gab: in den, der in der Vergangenheit ihr Leben in Freiheit bedeutet hatte, und in jenen, der im allgegenwärtigen Krieg ihr Leben ausmachte.
Anica sah einen lang aufgeschossenen jungen Mann im Kampfanzug mitten auf die Kreuzung rennen. Er hatte die Arme und Beine eines Riesen, aber auf seinem langen Kinderhals saß ein kleiner, nach Rekrutenart geschorener Kopf. Wütend stampfte er mit den Füßen, wild fuchtelte er mit den Armen herum und schrie den wieder niedrig über die Stadt einschwebenden Transportflugzeugen zu: „Auf sie, macht sie fertig!“
„Verrückt gewordener Legionär“, erklärte der Lieferwagenfahrer. „Seine Nerven sind vom Granathagel zerrüttet.“
Der verwirrte Verstand des Legionärs erfasste alles verkehrt: Die ihn umstanden, hielt er für Feinde, die Transportmaschinen hingegen für eigene Kampfflugzeuge. Kaum konnte er gebändigt, nur mit Mühe festgehalten werden. Nun stand er da, kreideweiß, am ganzen Leib schlotternd. Sein Blick saugte sich abwechselnd an dem eingetroffenen bosnischen Offizier mit dem Megaphon und an der Reporterin fest, die ihr Kameraobjektiv auf ihn gerichtet hielt, und er fauchte sie an: „Warum habt ihr euch verkleidet, ihr Tschetniks? Ich erkenne euch trotzdem! Verfluchte Tschetniks! Wozu diese Maskierung?“
Alle Versuche, ihn zu beruhigen und ihm klarzumachen, dass er bei Seinesgleichen sei, schlugen fehl. Je mehr auf ihn eingeredet wurde, desto stärker loderten die Funken des Wahnsinns in seinen Augen. Er sah sich ruckartig um, sprang unvermittelt zur Seite, riss einem Soldaten das Gewehr von der Schulter und lief in langen Sätzen zur Häuserwand.
„Haut ab!“ kreischte seine irre Fistelstimme, so laut, dass jedermann ringsum dieses nicht mehr menschliche Heulen vernahm.
„Rettet euch! Die Tschetniks haben uns umzingelt! Rette sich, wer kann!“ Sich duckend und wieder aufrichtend sprang er über die Kreuzung, drohte blindwütig mit dem Gewehr an seiner Hüfte.
Ohne lange zu überlegen, griff der Offizier zu seiner Pistole. Als er sie mit etwas ungeschickt wirkenden Handbewegungen aus dem Futteral zog, verfing sich die Waffe ein wenig am Kinnband seines Helms, den er am Koppel trug, bevor er mehrere Schüsse abgab auf den panisch schreienden Mann, der koboldartig über den Asphalt tanzte. Jedoch traf keine einzige Kugel. Darauf schoss jemand anders und verfehlte ebenfalls das Ziel.
Die Reporterin begriff, dass dieser Mensch jetzt mit Sicherheit getötet würde, ja getötet werden musste, wo er doch so entsetzenerregende, Panik auslösende Worte schrie. Anica wollte ihn retten. In diesem Augenblick dachte sie an nichts anderes und lief, sich die Kamera auf den Rücken werfend, auf den Legionär zu. Doch als der die auf ihn zustürzende Reporterin bemerkte, machte er kehrt, hielt das Gewehr vor und rannte ihr entgegen. Seine wahnerfüllten Augen, dicht vor ihr, hasslodernd aus ihren Höhlen tretend, stierten sie an. Ihr Blick widerstand, und das Polizistengemüt in der Reporterin gewann die Oberhand; sie sprang zur Seite, der Bajonettstoß ging ins Leere, und sie packte mit beiden Händen zu: mit der rechten den Lauf und mit der linken den Gewehrschaft. Niemand schoss jetzt mehr, man fürchtete, die Journalistin zu treffen. Sie und der wahnwitzige Legionär versuchten sekundenlang verbissen sich gegenseitig die Waffe zu entwinden. In diesem Ringen bekam Anica allmählich das Gewehr mit beiden Händen am Schaft zu fassen, während der Legionär es am Lauf festhielt. Die Frau biss sich auf die Lippen, nahm all ihre Kraft zusammen und riss die Waffe an sich. Wie gelähmt begriff sie nur allmählich, was geschehen war: Der junge Mann hatte den Lauf losgelassen, seine Hände fuhren in die Luft, als wollte er sich an den Kopf fassen, und ehe sie noch das Gesicht erreichten, fiel er rücklings auf den Asphalt.
Langsam nur wurde der Journalistin bewusst, dass der Schuss, den sie Sekundenbruchteile zuvor gehört hatte, von ihr selbst ausgelöst worden war. Beim Zurückzerren des Gewehrs musste sie an den Abzug gekommen sein, und jetzt lag der Legionär, den sie getötet hatte, vor ihr auf der Straße.
Dass er nicht nur verwundet, sondern wirklich tot war, erfasste sie noch, bevor sie die Waffe beiseite warf und sich neben den jungen Menschen hinhockte. Er lag auf dem Rücken, sein geschorener Kinderkopf war unnatürlich und jämmerlich auf die Seite gedreht. Sein stierer Blick starrte leer und über seinen Hals lief ein Blutrinnsal auf die verstaubte Straße. Die Kugel hatte seinen Adamsapfel durchschlagen.
„Hat beinahe eine Panik ausgelöst, dieser Bastard!“ rief der Offizier und beugte sich über den Toten. „Dieser tschetschenische Köter von einem Panikmacher hat nun mal nichts anderes verdient als einen Hundetod!“
Doch obgleich er grob und überzeugt sprach, lag in seinen Augen ein teils schuldbewusster, teils vorwurfsvoller Blick, als wolle er, der als erster geschossen hatte, sich selbst und den Umstehenden einreden, richtig gehandelt zu haben, als man auf den Legionär gefeuert hatte. Die Reporterin sah dem jugendlich und sehnig wirkenden Offizier im Hauptmannsrang in die zusammengekniffenen Augen. Mit der sich weit aus dem faltenlosen Gesicht lehnenden Erkernase und fast vornehm zu nennenden grauen Schläfen, die unter dem Mützenrand sichtbar wurden, sah er recht verwegen und eigentlich attraktiv aus, doch seine täppischen Bewegungen machten diesen Eindruck sogleich wieder zunichte.
„Sie hauen jetzt besser ab!“ forderte er die Reporterin mit einer abschätzigen, linkischen Handbewegung auf. „Auch wenn Sie in Notwehr gehandelt haben.“
Anica war wie vor den Kopf geschlagen. Trotzdem zögerte sie keinen Augenblick, dem Befehl Folge zu leisten. Ihr Kinn sackte ihr auf die Brust, tief atmete sie ein, stieß ihren heftigen Atem durch prall aufgeblasene Wangen wieder aus.
Das erste, was sie in diesem Bürgerkrieg vollbracht hatte, war, dass sie einen Menschen umbrachte. Gewiss, ihre Absicht war, ihn zu retten – doch sie hatte ihn getötet! Etwas Sinnloseres, Schrecklicheres konnte sie sich nicht vorstellen.
Ob sich die Tat je wieder gutmachen ließ, fragte sie sich verzweifelt. Wie kann mir so etwas passieren? Nie hätte ich das von mir gedacht. So war sie nur wenig erleichtert, als sie die Bungalowsiedlung aus zusammengestellten Containern in einer geschützten, abgeschirmten Hanglage erreichte. Doch anmerken lassen wollte sie sich nichts.