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Friedrich Schleiermacher: Anschauen des Universums

Einer der Ersten, die sich mit der grundsätzlichen Frage nach dem Wesen der Religion befassen, ist Friedrich Schleiermacher (1768–1834). Er vertritt die Ansicht, dass „Anschauen des Universums […] die allgemeinste und höchste Formel der Religion (ist), woraus Ihr jeden Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Grenzen aufs genaueste bestimmen lassen.“3 Sie ist das Bewusstsein unserer Einheit mit dem Unendlichen. Im „Anschauen“ geschieht eine Einflussnahme des Angeschauten auf den Anschauenden. Zum „Anschauen“ sind wir auf die ganze Welt verwiesen, überall spiegelt sich in ihr ein Teil des Ganzen. Aus dem „Anschauen“ erwächst das Bewusstsein unserer Einheit mit dem Unendlichen.

Schleiermacher wendet sich damit gegen die Auffassung von Religion als Metaphysik oder Moral und stellt ihr ein subjektives und vor-reflexives Zentrum entgegen. Religion „an sich“ ist kein objektives und universales Denken, sondern lebendige Erfahrung und kosmische Wirklichkeit. Er siedelt Religion und Religiosität nicht vorzugsweise im Bereich der Begriffe oder der ethischen Praxis an, sondern in persönlicher Innerlichkeit und Ergriffenheit. Religion ist eine Weise der Weltbetrachtung, eine mentale Disposition oder eine innere Haltung.

In der zweiten Auflage seines Werkes ersetzt Schleiermacher den Begriff „Anschauen“ durch den Begriff „Gefühl“. Religion ist „eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewusstseins“, deren „Wesen“ darin besteht, „dass wir unserer selbst als schlechthin abhängig oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewusst sind.“4 Von daher rührt wohl die häufig zitierte, aber nicht ganz richtige Kennzeichnung des Schleiermacher’schen Religionsbegriffs als „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“. Denn er versteht – gleich wie das „Anschauen“ – auch das „Gefühl“ nicht als einseitiges, subjektives Fühlen, sondern als ein von „allen anderen Gefühlen“ unterschiedenes Gefühl.

Rudolf Otto: Das Heilige

Ziemlich genau 100 Jahre später veröffentlicht Rudolf Otto (1869–1937) sein noch heute viel zitiertes Werk „Das Heilige“5. Im Untertitel präzisiert er genauer, was er darunter versteht: „Das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“. Otto führt darin Gedanken weiter und baut sie aus, die er bei Immanuel Kant (1724–1804) und Jakob Friedrich Fries (1773–1843) gefunden hatte.6 Kant folgt er in der Annahme, dass es im Bewusstsein „unaussprechliche Gegenstände“ gibt, Fries in dem Begriff der „Ahndung“ als Ausdruck für das religiöse Gefühl, welches ein intuitives Wissen vom Ewigen im Endlichen ist. „Otto konnte damit die ausschließliche Verortung der Religion in der praktischen Vernunft umgehen, aber auch eine rein idealistische, spekulative Konzeption von Religion zugunsten einer erfahrungsgesättigten Theorie aufgeben.“7 Religion ist „Erleben des Geheimnisses schlechthin; […] das fühlbare Geheimnis alles zeitlichen Daseins überhaupt und das Durchscheinen der ewigen Wirklichkeit durch den Schleier der Zeitlichkeit für das aufgeschlossene Gemüt.“8

Das schon bei Schleiermacher als grundlegendes religiöses Phänomen beschriebene „Gefühl“ bestimmt Otto etwas präziser als „Begeisterung, Ergebung und Andacht“. „Begeisterung“ schafft die Unterscheidung zum Profanen, „Ergebung“ ist ein innerreligiöses Gefühl, das die Abhängigkeit anerkennt und die Sehnsucht nach Erlösung weckt, „Andacht“ schließlich ist das positive Gefühl des Vertrauens und Hoffens. Otto fasst alle drei im Gefühl des „Numinosen“ zusammen und definiert dieses als Erfahrung eines Geheimnisses, das zugleich „tremendum“ und „fascinans“ ist, beunruhigend-erschreckend und faszinierend-anziehend. Es handelt sich hierbei um ein Gefühl, das letztlich allen Religionen zugrunde liegt, das den Kern für die Entwicklung und Entfaltung des Wesens einer Religion darstellt. Die Herkunft bleibt geheimnisvoll und unzugänglich. Deswegen wird es als Mysterium, als Geheimnis, erfahren. Dieses „Irrationale in der Idee des Göttlichen“ (vgl. Untertitel von „Das Heilige“) verunmöglicht eine konsequente Beschreibung in rationalen Begriffen. Darum müssen Symbole und Analogien an deren Stelle treten, wie es ja auch die Bibel bereits vormacht.

Carl Gustav Jung: Beziehung zu dem höchsten und stärksten Wert

Carl Gustav Jung (1875–1961) übernimmt den von Rudolf Otto geprägten Begriff des Numinosen. Religion ist „eine sorgfältige und gewissenhafte Beobachtung dessen, was Rudolf Otto treffend das ‚Numinosum‘ genannt hat, nämlich eine dynamische Existenz oder Wirkung, […] die Wirkung ergreift und beherrscht das menschliche Subjekt, welches immer viel eher ihr Opfer denn ihr Schöpfer ist.“ Jung verknüpft den Begriff mit seiner Theorie von den Archetypen des kollektiven Unbewussten: „Religion ist eine Beziehung zu dem höchsten und stärksten Wert, sei er nun positiv oder negativ. […] Diejenige Tatsache, welche die größte Macht in einem Menschen besitzt, wirkt als ‚Gott‘, weil es immer der überwältigende psychische Faktor ist, der ‚Gott‘ genannt wird.“9

Sigmund Freud: In die Außenwelt projizierte Psychologie

Sigmund Freud (1856–1939) wirft der Religion vor, die Werte des Lebens und der Vernunft gering zu schätzen. Darüber hinaus belasse sie den Menschen in einem psychischen Infantilismus, ja sie verleite ihn sogar zu Unaufrichtigkeit und Heuchelei: „Wenn es sich um Fragen der Religion handelt, machen sich die Menschen aller möglichen Unaufrichtigkeiten und intellektuellen Unarten schuldig.“10 Religion ist nichts anderes „als in die Außenwelt projizierte Psychologie.“11 Andererseits sieht Freud in der Religion durchaus einen wichtigen Faktor der Erziehung. In Bezug auf die „Geschichte eines infantilen Jungen“ gesteht er zu: „Die Religion hat in diesem Falle alles das geleistet, wofür sie in der Erziehung des Individuums eingesetzt wird. Sie hat seine Sexualstrebungen gebändigt, indem sie ihnen eine Sublimierung und feste Verankerung bot, seine familiären Beziehungen entwertet und damit einer drohenden Isolierung vorgebeugt, dadurch, daß sie ihm den Anschluß an die große Gemeinschaft der Menschen eröffnete. Das wilde, verängstigte Kind wurde sozial, gesittet und erziehbar. […] So tat die Religion ihr Werk bei dem kleinen Entgleisten durch Mischung von Befriedigung, Sublimierung, Ablenkung vom Sinnlichen auf rein geistige Prozesse, und die Eröffnung sozialer Beziehungen, die sie dem Gläubigen bietet.“12

In seinem letzten, 1939 erschienenen Werk „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“13 reflektiert Freud noch einmal die bereits in „Totem und Tabu“14 vorgetragene Auffassung zur Entstehung der Religion und ihrer Funktion: „Wir haben aus den Psychoanalysen von Einzelpersonen erfahren, daß ihre frühesten Eindrücke, zu einer Zeit aufgenommen, da das Kind noch kaum sprachfähig war, irgend einmal Wirkungen von Zwangscharakter äußern, ohne selbst bewußt erinnert zu werden. Wir halten uns für berechtigt, dasselbe von den frühesten Erlebnissen der ganzen Menschheit anzunehmen. Eine dieser Wirkungen wäre das Auftauchen der Idee eines einzigen großen Gottes, die man als zwar entstellte, aber durchaus berechtigte Erinnerung anerkennen muß. Eine solche Idee hat Zwangscharakter, sie muß Glauben finden. Soweit ihre Entstellung reicht, darf man sie als Wahn bezeichnen. Insofern sie die Wiederkehr des Vergangenen bringt, muß man sie Wahrheit heißen. Auch der psychiatrische Wahn enthält ein Stückchen Wahrheit, und die Überzeugung des Kranken greift von dieser Wahrheit aus auf die wahnhafte Umhüllung über.“15

Mircea Eliade: Die Wirklichkeit auf eine bestimmte Art und Weise erleben

Mircea Eliade (1907–1986) macht darauf aufmerksam, dass jedes Ding zu etwas Heiligem werden kann. Religion bedeutet, die Wirklichkeit auf eine bestimmte Art und Weise zu erleben. „Für den religiösen Menschen ist die Natur niemals nur ‚natürlich‘: Sie ist immer von religiöser Bedeutung erfüllt. […] Die Welt ist so beschaffen, daß der religiöse Mensch, indem er sie betrachtet, die vielfachen Formen des Heiligen und damit des Seins entdeckt.“16 So erscheint der gesamte Kosmos als eine Manifestation des Heiligen, als „Hierophanie“. Die kosmischen Symbole weihen ihn in die Grundwirklichkeit der Existenz ein – denn Sonne und Erde, Wasser, Berg, Wald und Quelle offenbaren ihm das Göttliche. In den Erscheinungen und Gestalten der Welt offenbart sich ihm das Transzendente. Es ließ sich in Dingen nieder, um ihren Kultur- oder Naturcharakter zu verwandeln. Für Eliade schließt die Religion immer den Gegensatz von heilig und profan mit ein. „Eine Hierophanie setzt eine mehr oder minder deutliche Auswahl, eine Besonderung voraus.“17 Wie der Gegenstand einer Hierophanie verkörpert auch der religiöse Ritus das Heilige. Er wiederholt eine „archetypische Handlung, die von den Ahnen oder den Göttern in illo tempore [am Anfang der Geschichte, N. S.] ausgeführt wurde. […] In der Wiederholung koinzidiert der Ritus mit seinem ‚Archetyp‘, die profane Zeit wird aufgehoben. Wir wohnen gleichsam jenem in illo tempore, in der kosmischen Frühzeit vollzogenen Vorgang, noch einmal bei.“18 Auch die räumliche Struktur des Universums wie seine zeitliche Entfaltung haben heiligen Charakter.19 Die Gegenwart des Heiligen schafft im irdischen Raum ein Verweisungszentrum, einen festen Punkt, an dem der Raum festgemacht ist, einen Ort, auf den er sich gründet. Es handelt sich hier aber zunächst keineswegs um eine kosmische Theorie. Das Heilige kann sich nämlich an jedem beliebigen Ort niederlassen. Aber der Gegenstand oder Ort, an dem es sich ansiedelt, wird symbolisch zu der Stelle, an der sich das Diesseitige mit dem Jenseitigen verbindet. Diese symbolische Gegenwart des Heiligen ist es, die die Naturreligionen in ihrem Wesen charakterisiert. Das Heilige bildet den allgegenwärtigen Horizont der menschlichen Welt.

Erich Fromm: Orientierungssystem des Denkens und Tuns, das von einer Gruppe geteilt wird

Der Psychoanalytiker und Religionsphilosoph Erich Fromm (1900–1980) weitet den Religions-Begriff noch mehr aus. Er versteht unter Religion „jedes System des Denkens und Tuns, das von einer Gruppe geteilt wird und dem Individuum einen Orientierungsmaßstab und einen Gegenstand der Hingebung bietet.“ Und er vertritt die Ansicht, dass es „keine geschichtliche Kultur (gibt) – noch kann es eine künftige geben –, die nicht Religion in diesem weiten Sinne mit einschlösse. Doch brauchen wir nicht bei dieser bloß beschreibenden Feststellung stehen zu bleiben. Das Studium des Menschen führt uns zu der Erkenntnis, daß das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Orientierungssystem und einem Gegenstand der Hingebung in den Grundlagen des menschlichen Daseins tief verwurzelt ist.“ Jeder Mensch habe ein Bedürfnis nach einem Orientierungssystem und einem Objekt der Hingabe. Aber diese Feststellung besagt noch nichts über den besonderen Rahmen, in dem dieses religiöse Bedürfnis sich äußert. Der Mensch könne einen unsichtbaren Gott, einen Heiligen oder einen diabolischen Führer anbeten; er könne seine Vorfahren, seine Nation, seine Klasse oder Partei, das Geld oder den Erfolg vergöttern; seine Religion könne dem Zerstörungsgeist oder der Liebe, der Unterdrückung oder der Brüderlichkeit förderlich sein, könne die Kraft seiner Vernunft stärken oder lahmlegen, der Mensch könne sich seines Systems als einer Religion bewusst sein oder glauben, er habe keine Religion, und seine Hingabe an angeblich weltliche Ziele, wie Macht, Geld oder Erfolg, für nichts weiter halten als seinen Wunsch nach etwas Nützlichem und Praktischem. „Die Frage lautet nicht: irgendeine Religion oder keine?, sondern: welche Art Religion? Fördert sie die Entwicklung des Menschen, die Entfaltung der spezifisch menschlichen Kräfte, oder unterbindet sie sie?“20

Hermann Lübbe: Dienlichkeit für das menschliche Leben

Ein eher „funktionaler“ Religionsbegriff richtet das Augenmerk vor allem auf die Bedeutung der Religion im Hinblick auf die „Dienlichkeit“ für das menschliche Leben. Der Begriff beschreibt, wie Religion in und auf Gesellschaft und Person wirkt. Aus dieser Perspektive versucht Hermann Lübbe (geb. 1926) eine analytische Rechtfertigung der Religion als „Verhalten zum Unverfügbaren“.21 Kant definierte Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. In dieser erkannte er „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Warum sollte der Mensch nicht versuchen, in freier Selbstbestimmung, das heißt unabhängig von der Autorität religiöser Tradition, sein Leben einzurichten? Hat durch den europäischen Aufklärungsprozess die Wissenschaft die Religion ersetzt? Oder zeigt sich die Widerstandsfähigkeit der Religion nach der Aufklärung gerade darin, dass sie sich im Zeitalter totalitärer Ideologien als Anwalt des Menschen erweist? Lübbe erinnert daran, dass sich die politische, kulturelle und soziale Stellung der Religion durch die Aufklärung folgenreich gewandelt hat. Die Aufklärung verfolgte ja keineswegs eine Abschaffung der Religion. Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts waren in ihrer großen Mehrheit keine Ungläubigen. Was sich nicht geändert hat, sind die uralten Fragen nach dem Sinn des Lebens, des Leidens, der Geschichte überhaupt. In einer religiös bestimmten Kultur werden sie wachgehalten und beantwortet, indem in ihr gelernt wird, das Geschick der Sterblichkeit anzunehmen, ohne zu resignieren. Daraus ergibt sich die geschichtskritische Bedeutung der Religion, vor allem in ihrer jüdisch-christlichen Ausprägung. Nach Lübbe ist Religion nicht ersetzbar, ja sie gehört heute „zu den Erhaltungsbedingungen aufgeklärter Kultur“. Die Diskussion um die Grundwerte und die Menschenrechte zeigt, dass die Frage nach ihrer Begründung in einer säkularisierten Welt letzten Endes auf die religiöse Wurzel von Begriffen wie Menschenwürde, Freiheit und Verantwortung führt.

Thomas Luckmann: Unsichtbarkeit

Der Religionssoziologe Thomas Luckmann (geb. 1927) vertritt in seinem vor vierzig Jahren zunächst in englischer Sprache verfassten Buch „Die Unsichtbarkeit der Religion“22 die These, dass religiöses Verhalten in zunehmendem Maße nicht mehr institutionell gebunden oder bedingt sein wird. Die Religion verlagert sich ins Private und wird damit zunehmend „unsichtbar“. Denn, so meint Luckmann, jedem Menschen eignet eine gewisse Religiosität, gleichgültig wie er eine institutionalisierte Religion bewertet. Der Soziologe glaubt, dass die Fähigkeit zu religiösem Verhalten den Unterschied zwischen Mensch und Tier ausmacht, weil es Tieren nicht möglich sei, ihr Verhalten zu reflektieren und es in einem zeitlichen und räumlichen Sinnzusammenhang zu sehen.23 Dieser Prozess entwickelt sich im Laufe der Evolution von einer rein biologisch-unreflektierten auf eine menschlich-reflektierte, bewusste Ebene. In der subjektiven Ausformung und Aneignung wird er durch den Einzelnen zu einer „Weltansicht“.24 Innerhalb dieser „Weltansicht“ kann sich ein Sinnbereich herauskristallisieren, „der ‚religiös‘ genannt wird. Dieser Bereich enthält Symbole, die eine wesentliche, ‚strukturelle‘ Eigenschaft der ganzen Weltansicht widerspiegeln: ihre innere Bedeutungshierarchie. Allein der Umstand, dass dieser Bereich stellvertretend für die religiöse Funktion der gesamten Weltansicht steht, berechtigt uns, ihn religiös zu nennen.“25 Luckmann bezeichnet an anderer Stelle diesen Sinnbereich als einen „heiligen Kosmos“.26 Denn dieser Kosmos transzendiert die alltägliche Welt und wird darum als „geheimnisvoll und andersartig erfahren. Wenn das tägliche Leben ‚profan‘ ist, so erscheint die transzendente Welt als ‚heilig‘.“27 Erfahrungen dieses „heiligen Kosmos“ „reichen von der Hilflosigkeit im Angesicht unkontrollierbarer Ereignisse bis zum Wissen um den Tod. Sie werden regelmäßig von Angst oder Ekstase (oder einer Mischung aus beidem) begleitet. Erfahrungen dieser Art werden in aller Regel als unmittelbare Äußerungen der Wirklichkeit des sakralen Bereichs aufgefasst. Sowohl der ‚letzte Sinn‘ des Alltagslebens wie auch der Sinn außergewöhnlicher Erfahrungen haben also ihren Ort in diesem ‚anderen‘, ‚heiligen‘ Wirklichkeitsbereich.“28

Mit dem Begriff „unsichtbare Religion“ gelingt es Luckmann, deutlich zu machen, dass der ständig schrumpfende Geltungsbereich der von religiösen Institutionen getragenen offiziellen Darstellung von „Religion“ keineswegs ein religiöses Vakuum hinterlässt. Denn Religion ist eine anthropologische Grundgegebenheit; der Mensch bleibt religiös. Wohl aber verschwinden zunehmend jene Formen, die von den traditionellen religiösen Institutionen repräsentiert wurden. Basis einer neu entstehenden Religion bildet die „Privatsphäre“. Die Folge ist eine Vielfalt höchst unterschiedlicher Modelle von „privater“ (und darum für die Öffentlichkeit unsichtbarer) Religion, die häufig in Konkurrenz zu den „Restbeständen“ des offiziellen Modells der Religion treten und auf Dauer deren Mitgliedszahlen reduzieren, wenn nicht gar ihren Bestand gefährden.

Jürgen Habermas: Funktion, soziale Integration zu generieren

Jürgen Habermas, der im Jahre 2009 seinen 80. Geburtstag feierte und aus diesem Anlass weltweit als „Großphilosoph“ (DIE ZEIT) geehrt wurde, schien als prominenter Vertreter der Frankfurter Schule anfangs der Religion keineswegs nahezustehen. In den 40 Jahren, die seitdem vergangen sind, hat sich seine Einstellung offensichtlich geändert. So trat er in der Friedenspreisrede von 2001 verstärkt für ein konstruktives Miteinander von Glauben und Vernunft ein. Drei Jahre später diskutierte er mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger über die vorpolitischen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates. In der Aufsatzsammlung „Zwischen Naturalismus und Religion“ von 2005 plädiert er für die Akzeptanz von Religionen als Sinnressource der Demokratie. Er verlangt, die demokratische Öffentlichkeit müsse auch für religiöse Beiträge offenbleiben und dürfe sich nicht von diesen Ressourcen der Identitäts- und Sinnstiftung abschneiden.29

Im Februar 2007 nahm Habermas an einer Podiumsdiskussion mit Vertretern der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in München teil.30 Gleich zu Anfang seines Gesprächsimpulses erinnert Habermas an die Totenfeier für Max Frisch, die 1991 nach dem Willen des Verstorbenen zwar in der Stiftskirche St. Peter in Zürich stattfand, aber ohne jeden Anklang an ein religiöses Ritual: „Kein Priester, kein Segen.“ – „Damals habe ich die Veranstaltung nicht für merkwürdig gehalten. Aber deren Form, Ort und Verlauf sind merkwürdig. […] Max Frisch – ein Agnostiker, der jedes Glaubensbekenntnis verweigerte – hat offenbar die Peinlichkeit nichtreligiöser Bestattungsformen empfunden und durch die Wahl des Ortes öffentlich die Tatsache dokumentiert, dass die aufgeklärte Moderne kein angemessenes Äquivalent für eine religiöse Bewältigung des letzten, eine Lebensgeschichte abschließenden rite de passage gefunden hat.“

Das langsam erwachte Interesse an der Religion hängt wohl damit zusammen, dass Habermas die funktionale Dienlichkeit der Religion erkannt hat. Trotz des wachsenden Abstands zu religiösen Überlieferungen ist deren normativer Gehalt für praktische Lebensbewältigung zu beachten. Der Religion komme so lange eine Bedeutung zu, wie die Funktion, soziale Integration zu generieren, nicht von der kommunikativen Vernunft selbst geleistet werden kann. Die „moderne Vernunft wird sich selbst nur verstehen lernen, wenn sie ihre Stellung zum zeitgenössischen, reflexiv gewordenen religiösen Bewusstsein klärt, indem sie den gemeinsamen Ursprung der beiden komplementären Gestalten des Geistes aus jenem Schub der Achsenzeit begreift.“31

Habermas plädiert dafür, dass Religion auch in einer säkularisierten Gesellschaft nicht an den Rand gedrängt und aus dem öffentlichen Bewusstsein gleichsam ausgeschlossen werden darf. Denn sie bleibt nach seiner Überzeugung relevant, solange die Gesellschaft einen „Sinn von Humanität“32 bewahren möchte, wie er ursprünglich in der Religion zur Geltung gebracht worden ist. Um in einer säkularen Gesellschaft verstanden und akzeptiert zu werden, muss sich die Religion dazu allerdings einer säkularen Sprache und säkularer Begründungen bedienen: „Ohne eine gelingende Übersetzung besteht keine Aussicht, dass der Gehalt religiöser Stimmen in die Agenden und Verhandlungen staatlicher Institutionen Eingang findet und im weiteren politischen Prozess ‚zählt‘.“33 Solche Übersetzungsprozesse erfordern ein Reflexwerden religiöser Überzeugungen. Religiöse Menschen können nicht nur in der Innenperspektive ihrer Glaubensüberzeugungen verbleiben. Sie müssen ihre Glaubensüberzeugung auch aus der „Außenperspektive“, also aus der Perspektive der Nichtglaubenden, reflektieren und sich von ihnen befragen lassen. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, religiöse Überzeugungen in nichtreligiöse Sprach- und Denkzusammenhänge hineinzuübersetzen und sie durch Gründe zu untermauern. Hier sind Bereitschaft und Fähigkeit zu einem Perspektivenwechsel gefordert.

Die besondere Bedeutung der Religion in dieser Situation kann vor allem darin bestehen, dass sie den Menschen auf das verweist, was in der Sprache der traditionellen Theologie mit „Geschöpflichkeit“ gemeint ist. In einem säkularen Kontext umfasst der Bedeutungsgehalt der theologischen Rede von der Geschöpflichkeit des Menschen im Wesentlichen dreierlei:

Der Mensch muss erstens davon ausgehen, dass sein Dasein unaufhebbar „zufällig“, kontingent, ist, dass es immer mitbestimmt bleibt von seiner natürlichen Abstammung wie auch von seiner soziokulturellen Herkunft.

Zum Zweiten verweist die theologische Rede von der Geschöpflichkeit auf den anthropologischen Tatbestand, dass kein Mensch sich ursprünglich sich selbst, seinem eigenen Wollen und Wirken verdankt. So gründet auch die Fähigkeit, sein Leben in autonomer Weise zu bestimmen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, nicht in einem Akt autonomer Selbstbestimmung.

Drittens lenkt die theologische Rede von der menschlichen Geschöpflichkeit den Blick darauf, dass der Mensch sich auch insofern selbst entzogen bleibt, als die Verfügbarkeit über sich selbst und das eigene Leben nicht unbegrenzt ist.

Der religiöse „Mehrwert“ der Rede von der menschlichen Geschöpflichkeit bleibt auch angesichts einer solchen Übersetzung ihres anthropologischen Gehalts in eine säkulare Sprache erhalten. Er besteht darin, dass das menschliche Dasein auch in seiner vielfältigen Gebrochenheit und Unvollkommenheit als ein im Ganzen sinnvolles begriffen und bejaht werden kann. Denn in einem religiösen Zusammenhang dürfen die Menschen sich gerade als solche unbedingt anerkannt und angenommen wissen.34

Edward Osborne Wilson: Produkt der biologischen Evolution

Neuere soziobiologische Forschungen vertreten die These, dass „Religion“ eine wichtige Rolle innerhalb der evolutionären Entwicklung gespielt habe: „Die höchsten Formen der Religionsausübung verleihen, betrachtet man sie näher, einen biologischen Vorteil.“35 So sieht es der Soziobiologe E. O. Wilson (geb. 1929). Religion sei „nichts anderes als“ eine von den Genen gesteuerte Anpassungsstrategie des Gehirns zum Zweck der Optimierung der „fittesten“ Gene der Art. Religion ist demnach ein Produkt der biologischen Evolution, das in frühen Zeiten der Kulturgeschichte einen hilfreichen Beitrag zur Bewältigung des Daseins geliefert haben mag, insbesondere dadurch, dass die Religion das (moralische) Verhalten prägte und sie so der Gemeinschaft diente. „Religion“ bot offenbar beim Kampf ums Überleben einen Selektionsvorteil und wurde darum von Generation zu Generation weitergegeben.

Paul Tillich: Dimension der Tiefe in allen Funktionen des menschlichen Geisteslebens

Der Theologe Paul Tillich (1886–1965) sieht Religion als die „Tiefe des menschlichen Geisteslebens“. Unter einem besonderen Blickpunkt stelle sich der menschliche Geist als religiös dar. Es ist jener Blickpunkt, „von dem aus wir in die Tiefe des menschlichen Geisteslebens blicken können. Die Religion ist keine spezielle Funktion, sie ist die Dimension der Tiefe in allen Funktionen des menschlichen Geisteslebens. Aus dieser Behauptung ergeben sich für die Interpretation der Religion weitreichende Folgerungen, und jeder der in ihr verwandten Begriffe bedarf der Erläuterung.“36 Und an anderer Stelle schreibt er: Die Religion „ist überall zu Hause, nämlich in der Tiefe aller Funktionen des menschlichen Geisteslebens. Die Religion ist die Tiefendimension, sie ist die Dimension der Tiefe in der Totalität des menschlichen Geistes.“ Die Metapher der Tiefe bedeutet, „dass die religiöse Dimension auf dasjenige im menschlichen Geistesleben hinweist, das letztlich, unendlich, unbedingt ist. Religion ist im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes das, was uns unbedingt angeht. Und das, was uns unbedingt angeht, manifestiert sich in allen schöpferischen Funktionen des menschlichen Geistes. […] Das, was uns unbedingt angeht, wird offenbar in dem Reich des Erkennens als das leidenschaftliche Verlangen nach letzter Realität.“37

Weil die Religion Grund und Tiefe des menschlichen Geisteslebens bildet, hat sie eine doppelte Wirkung. Sie kann „der Entmenschlichung ebenso dienen wie der Rettung des Menschlichen. […] Diese Doppelwirkung fordert einen doppelseitigen Religionsbegriff. Und ohne diese Doppelseitigkeit kann niemand etwas von der Geschichte, der Religion und von den Problemen seines eigenen religiösen Lebens verstehen. Und sicherlich kann er nichts Grundsätzliches über das Verhältnis von Humanität und Religion aussagen. […] In der Religion wird die Frage nach dem Sinn unseres Seins gestellt und eine Antwort gegeben. Und darum, wo immer diese Frage mit unbedingtem Ernst und unendlicher Leidenschaft gestellt wird, da ist Religion, ganz gleich, ob in der Antwort von Gott die Rede ist oder nicht. Wo die Frage nach dem Sinn des Seins so gestellt wird, da ist heiliger Grund, selbst wenn im Heiligen das Dämonische überwiegt. Und dann müssen wir sagen, dass keine Humanität möglich ist, die nicht auf diesem Grund erwachsen ist und ihm dauernd verbunden bleibt.“ Aus diesem Grund heraus „wächst Humanität in immer neuen Formen, mit immer neuen Einsichten. Denn es gibt kein absolutes Ideal der Humanität, auch nicht das klassische. Durch die dämonischen Verzerrungen, denen die Religionen unterliegen, verzerren und verderben sie die von ihnen geschaffene Humanität. Die Religionen sind beides: Stätten der Menschwerdungen und Stätten der Menschenopfer.“38

Die hier kurz skizzierten Beschreibungsversuche zeigen: „Religion“ umfasst und erfasst den ganzen Menschen mit allen seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten. „Religion“ ist keine Randerscheinung des menschlichen Lebens – wenn auch nicht zu verkennen ist, dass an den vielfachen Grenzsituationen des menschlichen Daseins (Geburt, Leid, Tod) die religiöse Grundverfassung sich intensivieren oder aus der zeitweiligen Verdeckung oder Verkümmerung hervortreten kann. „Religion ist der wesensgemäße, sachliche, aber auch nachgewiesenermaßen zeitlich-geschichtliche Ursprung von Recht, Sittlichkeit, Ethos, Kultur. Kraft dieses Ursprungsgesetzes besitzt die Religion die Funktion einer ‚ursprünglichen‘ richterlichen Instanz und eines immer wieder geforderten Kriteriums ungeachtet der unbestrittenen Eigengesetzlichkeit all dieser Bereiche“ (H. Fries39).

Könnte es sein, dass die tradierten Ausdrucksformen von Religion, wie sie die etablierten Kirchen (nicht nur) in Deutschland anbieten und praktizieren, dem heute verbreiteten gesellschaftlichen Empfinden nicht mehr entsprechen und dass deshalb die Kirchen immer leerer werden, obwohl zwei Drittel der Deutschen sich durchaus als „religiös“ einschätzen? Ich möchte dieser Frage nun etwas nachgehen.

Religiös ohne Gott

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