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„Humanistische“ Spiritualität
ОглавлениеAuch der (atheistische) Humanismus kennt eine Spiritualität. Joachim Kahl, Mitglied im Humanistischen Verband Deutschlands, vertritt die Ansicht, dass „ein Humanismus, der keine spirituelle Dimension entfaltet, armselig und steril, verkürzt auf Rationalismus“ ist. Denn „spirituelle Bedürfnisse sind gemüthafte Bedürfnisse: das Verlangen nach Sinn, Ziel, Halt, Ordnung, Trost, Mut im Leben. Wie alle geistigen Bedürfnisse, die zur Natur des Menschen gehören, können sie eine religiöse und eine nicht-religiöse Antwort finden.“ Kahl hält es für „intellektuell unredlich, bereits diese Bedürfnisse selbst religiös zu vereinnahmen und mit Hilfe eines weitgefassten, funktionalistischen Religionsbegriffs jeden Sinnsucher zum Gottsucher zu mystifizieren. […] Entscheidend sind Inhalte – nicht die Form. Die unterscheidende Trennlinie zwischen einer weltlich-humanistischen und einer religiösen Spiritualität wird durch deren Inhalte, nicht durch Formen gezogen. Kerzenlicht, Wohlgerüche, sanfte Musik, Rotwein und Lyrik können ganz verschiedene Botschaften begleiten und befördern. Auch Yoga, Fasten und Meditation sind keine Domäne irgendeiner Religion, sondern können sich von ihren ideellen (etwaig religiösen) Ursprüngen lösen, verselbständigen und auch einen Stellenwert in einem atheistischen Lebensentwurf finden.“
Kahl bringt als Beispiel für eine weltlich-humanistische Spiritualität eine Erschließung des Yin-Yang-Symbols, das er als ein „geistiges Geschenk Asiens an die Menschheit“ bezeichnet: „Das Yin-Yang-Symbol ist ein Weltsymbol, hervorgegangen aus der unmittelbaren Anschauung und Deutung der Natur. Es beruft sich nicht auf göttliche Offenbarung, es knüpft nicht an irgendeinen legendären Vorgang mit angeblicher Heilsbedeutung an, sondern es ist gebildet aus allgemein nachvollziehbaren sinnlichen Erfahrungen von Licht und Schatten an einem Bergabhang. Das Yin-Yang-Symbol ist ein einzigartiges Beispiel dafür, wie aus naturalistischen Wurzeln die Höhen ästhetischer und philosophischer Abstraktion erreicht werden können – in einem langen anonymen Prozess der Sublimierung, Vergeistigung, Verallgemeinerung. Als chinesischer Inbegriff dessen, was in Europa als Dialektik bezeichnet wird, stellt es das Grundgesetz von Polarität und Komplementarität der Gegensätze dar. Es setzt stilisiert ins Bild, was als erster der Grieche Heraklit auf Begriffe gebracht hat: dass alles im Fluss ist und die Gegensätze an ihren Extrempunkten ineinander übergehen.“18
Vor 50 Jahren bekannte der sich selbst als „Nichtchrist“ bezeichnende Gerhard Szczesny in der Weihnachtsausgabe der ZEIT, dass auch er Weihnachten feiere:
„Gerade die pluralistische Gesellschaft muss, um nicht auseinander zu fallen, durch alle Lebensbereiche hindurch für den Bestand einer optimalen Summe von allgemeinverbindlichen Prinzipien und Gewohnheiten sorgen. Es versteht sich von selbst, dass eine Vielzahl dieser Prinzipien und Gewohnheiten in unserer Hemisphäre christlichen Charakter tragen. Aber auch bei diesen handelt es sich teilweise um vorchristliche Kulturelemente, die mit einem christlichen Akzent versehen wurden. […] Auch der Sinn der Weihnachtsgeschichte liegt diesseits der Grenze, von der ab das Christentum für Nichtchristen unannehmbar wird. […] Die Weihnachtszeit hat ihren universalen Zauber nur entfalten können, weil es den Theologen nicht gelungen ist, daraus eine Prinzipienfrage zu machen. […] Zu Weihnachten ist man lieb zueinander, betont die kommunikativen Elemente und macht sich Freude. Die Gegensätze, die sich hart im Raume stoßen, werden für Augenblicke durch Luftkissen abgefedert, und vorübergehend herrscht das sanfte Gesetz der ‚weichen Welle‘. […] Für Augenblicke bekümmert es uns, dass irgend jemand die heilige Nacht ohne Leuchtfeuer auf einsamer See verbringen, dass irgend jemand sich allein auf der Straße herumtreiben und niemanden und nichts – nicht einmal mehr eine Zukunft – haben könnte.“19