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Problematische Gottesvorstellungen

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Ein dritter und vielleicht wichtigster Grund für die schwindende Akzeptanz tradierter Ausdrucksformen von Religion liegt in der Gottesfrage. Für die Kirchenführer scheint es diese Frage gar nicht zu geben. Für sie ist Gott scheinbar die selbstverständlichste und unbezweifelbarste Sache der Welt. Noch nie habe ich von irgendeinem höher gestellten Repräsentanten der Kirche gehört, dass er von Zweifeln angefochten sei. Unbekümmert wird von Gott so geredet, wie das vor 100, 200 oder mehr Jahren geschehen ist. Papst Benedikt schreibt eine Enzyklika „Gott ist die Liebe“ und erwähnt darin mit keiner Silbe, dass es wohl auch viele Menschen – Gläubige, „praktizierende“ Katholiken – gibt, die nicht nur die Liebe, sondern auch die Rätselhaftigkeit und die Frag-Würdigkeit Gottes erfahren haben und die sich mit ihren Zweifeln herumplagen.

Und wenn einer der Kirchenführer einmal eine neue Sprache probiert, dann wirkt sie nicht selten peinlich. So offenbarte der Münchner Erzbischof Reinhard Marx eine völlig neue Facette des Gottesbildes. Der Bischof verriet nämlich der „Münchner Abendzeitung“ exklusiv und allen Ernstes: „Gott hat Freude am schönen Spiel; wenn gut gespielt wird und schöne Tore fallen.“13 So redet ein Bischof, der demnächst vermutlich Kardinal werden wird und damit den nächsten Papst wählen darf.

Ein beeindruckendes und sehr ehrliches Geständnis für die verbreitete Unfähigkeit, den Glauben an die tradierten Gottesvorstellungen zu bewahren, machte der bekannte bayerische Dirigent und Liebhaber geistlicher Musik Enoch zu Guttenberg auf die Frage, was man darunter zu verstehen habe, wenn man ihn als einen Rom-treuen Agnostiker bezeichne: „Ich gehe jeden Sonntag mit meinen Kindern in die Kirche, und wir beten jeden Abend mit ihnen, weil ich finde, sie können erst für oder gegen etwas entscheiden, wenn sie es kennen. Ich liebe die alte, tridentinische Kirchenliturgie, und ich liebe das Evangelium. Es gibt keine schönere Religion als das Christentum mit seinem Gesetz der Liebe. […] Doch mein Gehirn ist absolut atheistisch, ich müsste wirklich lügen, wenn ich sagen würde, ich könnte glauben.“14

Im Wesentlichen sind es fünf Grundtypen, fünf „Bestimmungen des göttlichen Wesens“, die in vielfachen Abwandlungen und individuellen Ausprägungen das Gottesbild der Kirchen prägen und die in den Köpfen der meisten religiös sozialisierten Menschen (noch) vorhanden sind.

Der Herrscher-Gott

Am häufigsten war wohl das Bild des Herrscher-Gottes anzutreffen. Viele stellten (und stellen?) sich Gott vor als absoluten Herrscher, der alles kann, was er will, und der alles regiert und beherrscht, wie es ihm gefällt; Gott ist „allmächtig“ – so steht es gleich zweimal im christlichen Credo. Gott bestimmt das Schicksal jedes einzelnen Menschen im Voraus: er verdammt, wen er verdammen will, und er beruft zu sich, wen er zu sich berufen möchte. Gott weiß alles voraus, alles, was ich tun und lassen werde; er ist allwissend. Gott verlangt von mir totale Unterwerfung wie ein Herrscher von seinen Untertanen. Er erwartet blinden Gehorsam. Auflehnung gegen seinen Willen zieht ewige Verdammnis nach sich. Zweifel ist Sünde, Rebellion bedeutet Schuld und damit Untergang. Gott sitzt auf einem Thron. Vor ihm in wortloser Anbetung und Unterwerfung liegt auf dem Boden die Schar der (wenigen?) Auserwählten und Heiligen.

Dieses herrschaftliche Gottesbild trägt unverkennbar Züge, die frühere Generationen ihrem eigenen Erfahrungsbereich über den Umgang mit Kaisern und Königen entlehnt haben. Heute, unter anderen politischen Umständen und in einer anderen, demokratischen Gesellschaftsordnung ist diese Gottesvorstellung im Verschwinden begriffen. Solange es noch Könige und Kaiser, Despoten und Monarchen jeder Art gab, forderten diese Herren eine Projektion ihres Herrschergebarens auf Gott geradezu heraus. Wenn Menschen einen (absolutistischen) Monarchen erlebten, der ihr Leben bis ins Detail bestimmte und nahezu uneingeschränkte Verfügungsmacht, ja sogar Leibeigenschaft über sie besaß, so konnten sie sich den obersten aller Herren, den Herrn der Herren, nur unter jenem Bild vorstellen, nun aber nochmals gesteigert als „allmächtiger“ Herrscher. Ängste und Hoffnungen, Befürchtungen und Erwartungen, die Menschen gegenüber weltlichen Alleinherrschern hegten, übertrugen sie auf den „Allerhöchsten“.

Geschichtskundige Menschen erinnern sich noch, dass in einer noch gar nicht so lange zurückliegenden Vergangenheit manche weltlichen und geistlichen Herrscher ihre Stellung als „gott-gegeben“ betrachteten, dass sie sich unter dem besonderen Schutz der (göttlichen) „Vorsehung“ wähnten. Gottesbild und Herrscherbild samt den daraus abgeleiteten Praktiken beeinflussten und verstärkten sich gegenseitig.

Der Gesetzes-Gott

Auch ein dem Herrscher-Gott verwandtes Gottesbild hat erheblich an Boden verloren: der Gesetzes-Gott, der Paragraphenreiter, der überdimensionale Buchhalter, dem nichts entgeht, der alles aufzeichnet, der ein genaues Konto über unser Tun und Lassen führt. Nach dem Tod des Menschen, beim „Jüngsten Gericht“, kommt dann die große Abrechnung, die unerbittliche Offenlegung von Soll und Haben. Wehe dem, dessen Konto nicht zumindest ausgeglichen ist!

Die Vorstellung vom Gesetzes-Gott war (und ist) noch immer bei jüngeren Kindern in manchen christlichen Elternhäusern anzutreffen. Das hängt wohl damit zusammen, dass eine falsche „christliche“ Erziehung Gott als pädagogisches Druckmittel und als Verstärker elterlicher Gebote und Verbote eingesetzt hat. Nicht selten wurde als Wille Gottes ausgegeben, was schlicht und einfach Wille der Eltern war, der mit einem göttlichen Gebot nicht unbedingt etwas zu tun haben musste, bei dem die Berufung auf Gott nur zur überdimensionalen Autoritäts-Verstärkung missbraucht wurde.

Der strafende Gott

In engem Zusammenhang mit dem Gesetzes-Gott steht die Vorstellung eines strafenden Gottes. Wenn einem „bösen“ oder „sündigen“ Menschen Unglück zustößt oder er von einer schweren Krankheit befallen wird, sehen nicht wenige „strenggläubige Christen“ dies als die (verdiente) „Strafe Gottes“ an. Bekanntlich rang der junge Martin Luther verzweifelt mit der Frage: Wie finde ich einen gnädigen Gott?

Jedem Erzieher, jedem Vater und jeder Mutter dürfte längst die Problematik des Strafens bewusst geworden sein. Selbst im staatlichen Strafvollzug wird man sich immer stärker der Tatsache bewusst, dass Strafe nur selten zur erhofften und beabsichtigten Besserung führt. „Repressive Systeme bessern den Schuldigen nicht, im Gegenteil, sie erwecken die niedrigsten Instinkte des Menschen: Aggression und Zorn, Hass und Rache, Verrat und Betrug, Gewalt und Unbarmherzigkeit. Strafe, durch Gewalt auferlegt – auch wenn sie legal ist –, kann kaum einen Menschen bessern.“15

Ein Gott, der es nötig hat zu strafen, ist ein pädagogischer Versager. Die „Strafe Gottes“ ist nichts anderes als eine Projektion der Strafpraxis der Menschen. Weil sie glauben, strafen zu müssen, meinen sie, auch Gott müsse strafen (und legitimieren damit wieder ihre eigene schlechte Praxis). Weil sie schlechte Pädagogen sind, sehen sie auch in Gott einen schlechten Pädagogen (und waschen sich die Hände in Unschuld).

Der kosmologische Gott

Weniger neurotisierend, sondern wohl eher die intellektuelle Redlichkeit in Frage stellend ist das Bild des kosmologischen Gottes. Sein Zustandekommen hängt mit unserem Naturerleben zusammen. Die Natur gibt dem Menschen Rätsel auf, die er nicht zu lösen vermag. In Naturkatastrophen, aber auch in weniger spektakulären Ereignissen (Missernten, Gewitter, Frost, Erdbeben, Überflutungen u. a.) erfährt der Mensch sein Unvermögen trotz aller technischen Fortschritte. Um sich die Natur wenigstens einigermaßen griffig zu machen, begannen die Menschen in früheren Zeiten, menschliche Eigenschaften in sie hineinzuprojizieren, die sie aber gleichzeitig so überhöhten, dass der Natur übermenschliche (= göttliche) Kräfte zukamen.

Die moderne Naturwissenschaft hat den Menschen heute ein anderes Verhältnis zur Natur gegeben. Die fortschreitende Technisierung hat manche Probleme bewältigt und sie befähigt, die Naturkräfte zu zähmen und sich dienstbar zu machen. Die kosmologische Gottesvorstellung verliert innerhalb der christlichen Kirchen mehr und mehr an Bedeutung – wenigstens theoretisch. Denn noch immer halten sich, von den Kirchen durchaus gefördert, Reste von Brauchtümern, die auf diesem Gottesbild beruhen.

Da wird in katholischen Kirchen noch immer der Wettersegen erteilt und gebetet: „Halte Sturm, Hagel, Flut, Frost, Dürre, Schädlinge und jedes (!) Unheil von uns fern! Bewahre alle (!) Landstriche unserer Erde (!) vor Katastrophen, damit jeder (!) Mensch das zum Leben Notwendige hat.“16 Man darf sich fragen: Sind nicht auch „Schädlinge“ wie Wühlmäuse, Engerlinge, Kartoffelkäfer, Läuse usw. Geschöpfe Gottes? Wenn Gott diese „Schädlinge“ geschaffen hat, dürfen wir ihn dann bitten, sie – also Teile seiner Schöpfung! – von uns fernzuhalten? Wohin mit ihnen? Auf die Äcker jener (protestantischen?) Pfarreien, in denen der Wettersegen nicht erteilt wurde?

Da wird in beiden christlichen Kirchen lauthals Gott besungen, „der alles so herrlich regieret“, ohne dass sich diese Aussage mit der bedrückenden Realität versöhnen lässt. Der sachliche Grund solcher Informationen scheint in den Gegebenheiten unerfindlich. Kann man dieses Lied noch singen angesichts des verheerenden Tsunamis in Indonesien an Weihnachten 2004 oder des Erdbebens in Haiti im Januar 2010? Geschieht das dennoch ohne Anstoß und Widerspruch, bestätigt das nur ihren phrasenhaften Gebrauch. Die Sätze leben dann aus sich selbst und benötigen gar nicht mehr die Beziehung zur übrigen Wirklichkeit. Sie werden unreflektiert verwendet, verraten eine „erstaunliche Naivität“ und einen beachtlichen „Mangel an kritischem Sinn“, begleitet von „der nahezu völligen Sinn- und Bedeutungsleere der grundlegenden religiösen Aussagen des Christentums.“17

Der liebe Gott

In der oben schon kurz erwähnten Enzyklika Benedikts XVI. „Gott ist die Liebe“18 spricht der Papst unter anderem „von der Liebe, mit der Gott uns beschenkt“ und die „Gott dem Menschen in geheimnisvoller Weise und völlig vorleistungsfrei anbietet.“19 Benedikt unternimmt einen Streifzug durch die Bibel und zitiert Texte, die von dieser Liebe sprechen. Er kommt zu dem Schluss: „In der Geschichte der Liebe [Gottes zu den Menschen, N. S.], die uns die Bibel erzählt, geht er uns entgegen, wirbt um uns. […] Und in der weiteren Geschichte der Kirche ist der Herr nicht abwesend geblieben: Immer neu geht er auf uns zu. […] Er liebt uns, lässt uns seine Liebe sehen und spüren, und aus diesem ‚Zuerst‘ Gottes kann als Antwort auch in uns die Liebe aufkeimen.“20 Sicher werden sich zahlreiche Menschen in diesen Gedanken und in dieser Erfahrung wiederfinden. Aber es dürfte auch viele geben – und sie sind wohl zahlreicher –, denen eine derart exklusiv und undifferenziert vorgetragene Aussage unerträglich erscheint. Lässt sich das so einfach und uneingeschränkt sagen – „Gott ist die Liebe“? Sonst nichts? Müsste nicht hinzugefügt werden: Viele erfahren ihn aber auch anders – als „den“ Apathischen, „den“ Anstößigen, „den“ Widersprüchlichen, „die“ Anfechtung, das „Fascinans und Tremendum“? Ist nicht die „Brauchbarkeit Gottes“ für die eigene Existenz „gerade nach christlicher Lehre doch viel dunkler und schwieriger“?21

Benedikt geht in seinem Schreiben mit keiner Silbe auf das anstößige, verwirrende Schweigen Gottes ein, von dem auch in der Bibel wiederholt die Rede ist. Er differenziert nicht. Er bringt die dunklen und rätselhaften Erfahrungen, die Menschen mit Gott gemacht haben, nicht zur Sprache. Er stellt nicht die für den Glauben an Gott bedrückendste aller Fragen: „Wo war (der liebe) Gott in Auschwitz?“ Er blendet sie einfach aus. Seine Rede von Gott wirkt eindimensional und monoperspektivisch. Damit aber werden seine Worte bei vielen nachdenklichen und angefochtenen Menschen kaum auf eine positive Resonanz stoßen.

Der oben schon einmal zitierte Dirigent Enoch zu Guttenberg gehört zu ihnen: „Sollte es wirklich einen Gott geben, der liebend in die Welt eingreift und Gebete erhört, wäre der Umkehrschluss doch irre: Hat sich denn bitte die Mutter im Kosovo, die dafür betet, dass wenigstens einer ihrer fünf Söhne lebendig nach Hause kommt, und ertragen muss, dass er trotzdem stirbt, hat die sich denn mit Gott weniger gut gestellt als andere? Nein, ich kann nicht glauben.“22

Die drei hier kurz behandelten Themenkreise machen deutlich, dass es für Menschen, die nach „Religion“ hungern, durchaus gute Gründe gibt zu versuchen, ihren Hunger und Durst anderwärts zu stillen, weil ihnen die Kirchen kaum noch verdauliche Kost anbieten. Immer mehr Menschen machen sich auf die Suche nach Alternativen.

Religiös ohne Gott

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