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Der sogenannte Aberglaube

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Der Begriff „Aberglaube“ ist belastet, weil er meist in abwertendem Sinn verwendet wird – zur disqualifizierenden Beurteilung und polemischen Ausgrenzung religiöser, pseudoreligiöser, unwissenschaftlicher, infantiler, ja neurotischer Einstellungen. Nicht selten wird auch das im Volksglauben verankerte religiöse Brauchtum als „Aberglaube“ abgestempelt. Von daher und auch wegen seiner begrifflichen Unschärfen ist zu fragen, ob der Begriff überhaupt noch als tauglich für die Bezeichnung bestimmter Erscheinungsformen von „Religion“ und „Religiosität“ zu betrachten ist. Ich verwende das Wort deswegen hier grundsätzlich in Anführungszeichen.

Einige Erscheinungsformen von „Aberglauben“ möchte ich nennen, ohne näher darauf einzugehen:

 Es finden sich Äußerungen der Leichtgläubigkeit (Haschen nach Wundern, Sucht nach Visionen oder Privatoffenbarungen), Beschäftigung mit Geister- und Dämonenspuk, Satanismus. Nicht wenige der heutigen Formen des „Aberglaubens“ geben sich als solide begründet aus und spekulieren mit der verbreiteten Wissenschaftsgläubigkeit. Mancher Trend mag der Mode, dem Werben der Medien (z. B. die Horoskop-Leidenschaft) oder dem Sensationsbedürfnis zuzuschreiben sein.

 Verbreitet anzutreffen sind heute der Okkultismus (Hellsehen, Telepathie, Verkehr mit den Geistern durch „Medien“ wie Pendeln, Gläserrücken und Tonbandstimmen von Verstorbenen).

 Der Spiritismus bietet Erklärungshilfen an für Vorgänge, die anscheinend aus den gewohnten Gesetzmäßigkeiten menschlicher Erkenntnis herausfallen (vgl. auch die Esoterik-Welle in all ihren trivialen Spielarten).

 Quasirituelle Vollzüge versuchen, mit Hilfe von Worten, Gesten, Gegenständen, bestimmten Orten oder Zeiten durch Inanspruchnahme übernatürlicher Kräfte und Mächte auf Umwelt oder Personen zwingend einzuwirken.

Die Wurzeln alter wie neuer „abergläubischer“ Haltungen oder Handlungen liegen in tief sitzenden Ängsten, in der Furcht vor Dämonen, im Wunsch nach Abwehr von Unheil oder Unglück, im Streben nach Enträtselung der Zukunft und verborgener Sachverhalte, in Krisenzeiten und nicht zuletzt im Bedürfnis nach Sicherheit. Vornehmlich bei Menschen ohne kirchliche Bindung, aber auch bei kirchlich Gebundenen finden sich derartige Praktiken häufig in den Grenzsituationen des Lebens, bei Geburt, Liebe, Krankheit, Tod, in Situationen gesteigerter Angst oder schicksalsschwerer Entscheidungen, neuerdings auch bei drohender oder eingetretener Arbeitslosigkeit. Man könnte vielleicht sagen: „Aberglaube“ ist einer der verzweifelten Versuche des Menschen zur Erklärung des als bedrückend empfundenen Daseins, zur Bewältigung der Ausweglosigkeit der aktuellen schlimmen Situation, der Lebensunsicherheit und Lebensangst. Darin kann sich ein latentes Wissen um die numinosen Tiefen des Daseins und die Verwiesenheit des Menschen an das Transzendente offenbaren.

Die Welt ist für den Einzelnen in ihren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Verflechtungen unüberschaubar geworden. Diese Undurchsichtigkeit erzeugt das Gefühl des Ausgeliefertseins, das Bewusstsein, im großen Prozess der mit scheinbarer Notwendigkeit ablaufenden gesellschaftlichen Vorgänge nur ein austauschbarer Faktor zu sein. „Aberglaube“ lebt aus der Meinung, durch eigenes rituelles, beschwörendes Reden und Tun die (göttlichen) Mächte und jenseitigen Kräfte, von denen das undurchschaubare Dasein als abhängig erfahren wird, günstig stimmen zu können. Er kann so eine gewisse Scheinsicherheit vermitteln, bei der aber die eigentlichen Lebensfragen zum Schweigen gebracht werden, bevor sie überhaupt richtig aufgebrochen und wahrgenommen sind. Diese Haltung erspart die intellektuelle Anstrengung wie auch das Engagement der Freiheit und Verantwortung. „Aberglaube“ ist so einer der Faktoren, die die Bildung zur religiösen, sittlichen und gesellschaftlichen Persönlichkeit eines Menschen erschweren oder gar unmöglich machen. Er ist immer Symptom einer Existenzkrise.

Religiös ohne Gott

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