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Wellnesskultur
ОглавлениеDie Menschen sehnen sich nach Tempeln
„Wellnesstempel“ schießen wie Pilze aus dem Boden, vor allem in den neuen Bundesländern. Das Wirtschaftsforschungsunternehmen Global Insight (Deutschland) hat Ende 2003 die Zahlen zur Entwicklung der Wellnessbranche in Deutschland errechnet. Danach belief sich der Umsatz des deutschen Wellnessmarktes im Jahre 2002 auf 61,5 Mrd. Euro. Die Erwartungen für die zukünftige Entwicklung der gesamten Wellnessbranche sah Global Insight sehr positiv. Geschätzt wurden bei Erstellung der Studie: 2004: 68,8 Mrd. Euro Umsatz, Wachstumsrate 5,7 Prozent; 2005: 72,9 Mrd. Euro Umsatz, Wachstumsrate 6,0 Prozent.11 Schätzungsweise eine Milliarde Euro Steuergelder sind seit der Wiedervereinigung in neue öffentliche Wellnessbäder Ostdeutschlands geflossen. Das Tourismusbarometer prognostiziert den Erlebnisbädern im Osten eine „steigende Nachfrage“. „Nach Export- und Reiseweltmeister sind die Deutschen auf dem besten Weg, sich einen dritten Titel zu erobern“, beobachtet der Hamburger Freizeitforscher Horst Opaschowski: „Die Wohlstandsgesellschaft mutiert zur Wohlfühlgesellschaft.“
Lutz Hertel, Diplom-Psychologe und seit 20 Jahren Vorsitzender des Deutschen Wellness-Verbandes, konstatiert bei den Bundesbürgern einen „Mangel an kulturellen oder religiösen Leitplanken“. Offenbar finden sie diese nicht in den etablierten Kirchen und den dort angebotenen Gottesdiensten. Wenn die Seele droht, sich zu verlieren, entsprechen viele ihrem Bedürfnis nach Einkehr und innerer Ausgeglichenheit, indem sie ihren Körper verwöhnen. Und da hilft die „Wellnesskultur“.
Psychosoziale Gesundheit – die Balance zwischen Körper, Geist und Seele – ist für Heinz Georg Rupp das wichtigste Thema der Zukunft. „Die Menschen sind extremen Belastungen ausgesetzt und haben nicht gelernt, damit umzugehen“, sagt der Architekturpsychologe. Nur wer die Frage nach dem Sinn beantworten könne, „hat für die Zukunft ausgesorgt“. Früher hatten die Leute Halt im Glauben gefunden. Das sei heute vielfach nicht mehr der Fall. Und trotzdem: „Die Menschen sehnen sich nach Tempeln.“ Im Zeitalter der Kinetik, der immer schnelleren Beschleunigung von Prozessen, gingen die Menschen immer mehr den Weg „nach innen“.12
Auch Philosophen und Theologen beschäftigen sich inzwischen mit dem Wellnessboom. Willigis Jäger, Benediktinermönch und Zen-Meister, und Christoph Quarch, Studienleiter des Evangelischen Kirchentags, sehen darin einen „Ort der Sinnsuche“.13 Wellness, Selfness und Mindness seien nicht nur Konzepte gegen den anstrengenden Alltag. Sie seien vor allem auch ein Zeichen für die aktive Suche der heutigen Gesellschaft nach einem Lebenssinn. Das bringe Wellness und seine Weiterentwicklungen in die Nähe des Religiösen.
Die Orte der Sinnsuche haben sich verschoben
Jäger und Quarch bewerten das nicht als Zufall. Das Ganze habe geschichtliche Wurzeln. Die Orte der Sinnsuche haben sich heute lediglich ein wenig verschoben. Immer weniger Menschen glauben an den christlichen Gott, gehen zur Kirche oder fühlen sich in einer Religion gehalten. Wenn sie nun ersatzweise am Sonntag eher in den Wellnesstempel gehen, hoffen sie, dort dieses „Etwas“ zu finden. Umspült von der weichen Wärme im Dampfbad oder im Whirlpool oder zutiefst entspannt von einer Massage, kann einen das Gefühl des Einsseins und einer innigen Verbundenheit mit allem erfüllen. „Warum sollten wir die Präsenz Gottes nicht dort erfahren dürfen, wo wir glücklich sind?“, fragen Jäger und Quarch und geben gleich im nächsten Satz selbst die Antwort: „Mehr Sinn dürfte es machen, gerade unsere Glückszustände – unsere wirklichen Glückszustände – als Auswirkungen einer Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes zu deuten.“
Besorgniserregend sei, so Willigis Jäger, dass die angestammten religiösen Einrichtungen mit der Sehnsucht nach Spiritualität, nach individueller Erfüllung und Glück offenbar wenig anfangen können. Im Gegensatz zu der vorwiegend kirchlich verankerten und geförderten Spiritualität setzt sich diese „populäre Spiritualität“ (H. Knoblauch) über diese Grenze hinweg. Jäger sieht diese Entwicklung nicht nur negativ, denn sie bietet die Chance, „sich im Wellnessbad zu sammeln, in seine Sinne zu spüren, sich von diesen leiten zu lassen, weiter in den Körper einzudringen, immer tiefer zu spüren und am Ende eine beglückende Erfahrung unseres wahren Seins zu machen.“
Neuerdings haben sich einige Kirchen den Wellnessboom zunutze gemacht und bieten Meditationszeiten in den Wellnesstempeln an.
„An der Tür hängt ein Schild: ‚Meditation. Bitte nicht stören‘. Karin Herrmann spricht mit sanfter Stimme: ‚Schließen Sie die Augen und entspannen Sie sich.‘ In den Ruheraum der Aachener Carolus-Thermen kehrt Stille ein.
15 Frauen und Männer haben sich in den eleganten Liegestühlen ausgestreckt. Ihre Gesichter sind rosig vom Thermalbad oder vom Saunagang. ‚Willkommen zur Meditation‘, setzt Herrmann an. So beginnt eine 20-minütige Reise durch den eigenen Körper, eine Reise weg vom Alltäglichen, hin zum eigenen Ich. Die ‚Meditation in den Thermen‘ ist ein Angebot der katholischen Kirche im Bistum Aachen und in Deutschland bislang einzigartig.
Kirche mitten in einem ‚Wohlfühlparadies der Extraklasse‘, wie sich die Thermen nennen. Kirche zwischen dampfenden Thermalbädern und exotischen Ruheräumen. Für Barbara Baumann (43), Leiterin des Fachbereichs ‚Kirche in der Gesellschaft‘ in der Diözese, ist es nicht fremd, Menschen auch an Freizeitorte zu begleiten: ob Sportplatz oder Wellness-Tempel. Bis zu 1000 Menschen zwischen acht und 88 Jahren zieht es täglich in die Carolus-Welt der Sinne und Sinnlichkeiten.
Hier sieht die Initiatorin der Therme-Meditation Berührungspunkte zum Religiösen und Spirituellen. ‚War es früher der sonntägliche Gottesdienst, der Menschen eine Stunde des Zu-sich-selber-Findens ermöglichte, erfüllt heute wohl auch der Saunabesuch diese Funktion‘, meint Baumann. ‚Nur dass die Beziehungspflege zu Gott verloren gegangen scheint.‘ Sie legt die Betonung auf ‚scheint‘, denn auch bei Wellness gehe es um die Einheit von Körper, Geist und Seele. Speziell bei älteren Menschen außerdem um Heil und Heilung. ‚Für mich ist das durchaus ein pastorales Feld‘, sagt die Theologin.
Auf ihrer Reise durch den Körper sind Karin Herrmann und ihre Gäste inzwischen beim Unterkiefer angelangt. Die Entspannung hat sich sichtlich in den Körpern der Teilnehmer breitgemacht.
‚Stellen Sie sich vor‘, spricht die Theologin weiter, ‚Sie befinden sich an einem Meeresstrand. Die Luft riecht nach Salz. Die Sonne glitzert auf dem Wasser.‘ In dem kostenlosen Meditationsangebot geht es um Themen, die in den Thermen naheliegen: Wasser, Wärme, Stille. Und jeder der mittlerweile 14 ehrenamtlichen Mitglieder im Meditationsteam hat seine eigene Methode. Einige arbeiten mit Phantasiereisen und Textmeditationen, andere setzen Aufmerksamkeitsübungen ein, experimentieren mit Klängen oder Mantras.
Die Gäste sind eher älter als jünger, eher krankheitserfahren als trainiert. Die meisten lassen sich mit großer Offenheit auf die Meditation ein – ganz gleich, ob sie kirchenfern oder kirchlich gebunden sind, ob sie zum ersten Mal meditieren oder zur wachsenden Stammklientel gehören. Gelegentlich fragen Teilnehmer nach weiterführenden Angeboten. Für sie hält Herrmann ein Faltblatt mit kirchlichen und nichtkirchlichen Adressen bereit. ‚Das hier‘, sagt sie, ‚ist Kirche am Rand, nicht im Zentrum.‘ Und das mache es spannend.
Was unterscheidet das Angebot der katholischen Kirche von anderen Anbietern moderner Entspannungstechniken? Baumann erklärt: ‚Es geht um die Begegnung von Kirche mit Menschen außerhalb des Kernfeldes Gemeinde.‘ Studien hätten gezeigt, dass ein Aspekt des Wellnesskultes die Suche nach Spiritualität, nach Lebenssinn und -orientierung ist. So kann Wellness auch zum Ort missionarischer Kirche werden. Er schafft Berührungspunkte. Losgelöst von Religionszugehörigkeit oder Konfession geht es zunächst um die offene Begegnung zwischen Menschen und Kirche.
Mittlerweile haben Karin Herrmann und ihre Gäste den gedanklichen Strandspaziergang beendet. ‚Sie atmen aus und ein, schöpfen Kraft und Energie‘, spricht die ruhige Stimme. ‚Dann öffnen Sie die Augen und kommen langsam in diesen Raum zurück.‘ Auf den Liegestühlen regt sich Leben.
Oft kommen Gäste nach der Meditation zu ihr: ‚Was haben Sie Schönes mit mir angestellt! Jetzt geht es mir richtig gut‘, hört Herrmann häufig. ‚Mit den Meditationen kommt wirklich die innere Besinnung‘, schildert eine ältere Frau ihre Empfindung. ‚Wo es sprudelt und dampft, ist das einfacher als auf knarzenden Kniebänkchen in der Kirche.‘“14
Sind nun auch die Kirchen auf dem Weg zu einer „weichgespülten Geborgenheitsreligion“ (Herbert Schnädelbach15)? Der österreichische Pastoraltheologe und Werteforscher Paul Zulehner steht diesem Trend sehr kritisch gegenüber. Wellness-Spiritualität sei letztlich schädlich. Denn in einer Kultur der Ich-Besorgnis liege es nahe, dass auch die dort gebotene Spiritualität nur der Ich-Inszenierung diene. „Wo die Wellness, die Wohl-Lust, boomt, kann Spiritualität zu deren Steigerung genützt werden. Dann dienen spirituelle Praktiken dem Abbau von Stress, der Bewältigung von Leid, der Rechtfertigung unstillbarer Bedürfnisse. Unbemerkt wird aus einem unpassenden Gott ein uns passender Gott. Spiritualität kann dann eine Art Religion ohne Gott werden: Wir richten es uns mit Gott, statt uns von ihm richten und damit herrichten und aufrichten zu lassen.“16 So gesehen verändert uns die Wellness-Spiritualität nicht, was Grundvoraussetzung wirklicher Heilung wäre, sondern übertüncht lediglich unsere Krankheit spirituell. „Sie ist Flucht aus dem Elend in ein spirituell erzeugtes Paradies, aber keine Umwandlung des Lebens und der Welt in eine menschenfreundlichere Gestalt. Als entscheidend im religiösen Erleben gilt nicht mehr der im Erleben erschlossene Inhalt, sondern das bloße Ergriffenwerden – egal wovon.“17
Gewiss, alle spirituellen Wege beginnen beim Körper. Doch können Wellnessunternehmen auch die Bedürfnisse von Sinnsuchenden befriedigen? Sind Wellness, Selfness und Mindness Religionsersatz oder auf dem Weg zu einer neuen Religion? Oder wird hier nur ein Tagtraum vom ewigen schönen Leben und Denken inszeniert, ein Wochenend-Paradies im Diesseits?