Читать книгу Religiös ohne Gott - Norbert Scholl - Страница 16
Patchwork-identity zieht Patchwork-Religion nach sich
ОглавлениеDer kanadische Politikwissenschaftler und Philosoph Charles Taylor glaubt, dass die Unfähigkeit zum Glauben eine anthropologische Verkümmerung und kulturelle Verarmung sei, eine Begabung, die verschenkt werde.2 Das Menschenbild des „reduktionistischen Materialismus“ lasse keinen Platz für eine „Fülle“, die nicht unbedingt nur religiös gestaltet oder fundiert sein muss. Sie sollte aber doch offenbleiben für transzendente Fragen. Aber auch für Fragen auf dem Gebiet der Ethik oder Ästhetik. Taylor tritt dafür ein, die Vieldimensionalität westlich-moderner Gesellschaften als Realität wahrzunehmen und sie fruchtbar zu machen. Er weist darauf hin, dass viele säkulare Ideale und Praktiken auf religiöse Motive zurückgehen und dass auch moderne Gesellschaften vielfältige religiöse Dynamiken mit einer Art von Minimalgläubigkeit oder frei schwebender Spiritualität enthalten. Er erhebt Einspruch gegen das agnostische Interpretationsmonopol: „Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr werden die bequemeren Gewissheiten der einen wie der anderen Ausdeutung – der transzendentalen ebenso wie der immanentistischen – untergraben. […] Das säkulare Zeitalter ist schizophren. Besser ausgedrückt: Es steht stark unter doppeltem gegenläufigen Druck. Die Leute scheinen auf sichere Distanz zur Religion zu gehen, und dennoch rührt es sie zutiefst, dass es tiefgläubige Menschen wie Mutter Teresa gibt. Die Welt der Ungläubigen war es gewohnt, Pius XII. nicht zu mögen, doch das Auftreten von Johannes XXIII. überrumpelte sie. […] Viele Menschen fanden die öffentlichen Predigten von Johannes Paul mit ihrer großen Themenvielfalt – Liebe, Weltfrieden, weltwirtschaftliche Gerechtigkeit – anregend. […] Doch unter den Bewunderern des Papstes gab es sogar viele Katholiken, die nicht glaubten, man müsse allen seinen moralischen Geboten Folge leisten.“3
Es findet eine „Transformation der Religion“ (H. Knoblauch) statt.4 Der Trend geht in Richtung einer Religion in neuer Form – losgelöst von traditionellen Bekenntnissen und Dogmen, losgelöst von Institutionen. Die soziale Patchwork-identity zieht eine Patchwork-Religion nach sich. Das religiöse Bedürfnis des Einzelnen bleibt bestehen, aber es ist privatisiert, nutzorientiert, individualisiert. Aus der öffentlichen Religion wird damit eine eher „unsichtbare Religion“ (Th. Luckmann5).
Angesichts der vielen Angebote auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten, wie sie die moderne Gesellschaft bereithält, und des hohen Maßes an Wahlfreiheit ist es nicht leicht, eine richtige Wahl und eine gut begründete Entscheidung für diese individuelle Religiosität zu treffen. Es zeichnet sich ein verstärkter Wunsch nach unmittelbarer religiöser Erfahrung ab, nach einer Erlebnisdimension, die zu vermitteln den etablierten Religionsgemeinschaften nicht oder zumindest nicht mehr in ausreichendem Maße gelingt. Bedenklich wird es freilich, wenn Religiosität ausschließlich zur Überhöhung menschlicher Sehnsüchte dient, wenn sie nur sichert, tröstet, entgegenkommt, sich wohl fühlen lässt, aber nicht mehr die Kraft findet, auch Ansprüche zu stellen und Forderungen zu erheben, die menschliche Bedürfnisse gegebenenfalls auch durchkreuzen können.
Wie eine solche Patchwork-Religiosität konkret aussehen kann, zeigt ein aufschlussreiches Beispiel in der Zeitschrift „Publik-Forum“: „Die Schweizerin Susanna Maeder hat aus buddhistischen, hinduistischen und schamanischen Bausteinen ihre persönliche Religiosität zusammengefügt. In aller Frühe vollzieht sie ein Ritual, das seinen Ursprung in der Mongolei hat: Vom Balkon wirft sie aus einem kleinen Schälchen Milch in den Himmel, ‚um den Tag zu begrüßen und zu segnen‘. Dann geht sie spazieren, zusammen mit ihrem Hund. ‚Im Gehen verbinde ich mich mit der Natur.‘ Die 39-jährige Sängerin, Chorleiterin und Stimmtrainerin aus Bubikon sagt von sich selbst: ‚Ich habe mein eigenes Glaubens-Sammelsurium.‘ Mit ihren rituellen Chören singt sie indianische Liedrufe, indische Mantras und Taizé-Gesänge. ‚Es geht mir um die Essenz, die hinter allen Religionen steht. Die Musik ist für mich eine wichtige Quelle, mich damit zu verbinden.‘ Aufgewachsen ist sie in der katholischen Kirche, die sie jedoch im Alter von zwanzig Jahren entschieden verlassen hat; das war zur Zeit des ultrakonservativen Bischofs Haas in Chur. Noch immer versteht sie sich als ‚Frau mit klar christlichen Wurzeln‘. Auch deshalb haben sie und ihr Mann, der als praktizierender Buddhist Mitglied der reformierten Landeskirche geblieben ist, ihre Töchter reformiert taufen lassen. ‚Damit sie unsere christliche Kultur kennen lernen‘, begründet Susanna Maeder. Abends betet sie mit beiden das Vaterunser, ‚in nur leicht abgewandelter Form‘.“6
Wir leben in einer Gesellschaft, die von Religiosität, Spiritualität, religiösen Erfahrungen und Kulten geradezu überschwemmt ist. Der Religionssoziologe Detlef Pollack meint, das Religiöse finde sich in Songs der Schlagersänger und Popstars, im Theater, in der Sportbegeisterung, beim Fußball, in Fernsehunterhaltungsserien, Werbeslogans, im Nervenkitzel von Extremsportarten wie Basejumping, Freiklettern, Wildwasserschwimmen, Bodybuilding, in meditativen Techniken für Selbstfindung, Gemeinschaftserfahrungen, Gruppentherapie, in sogenannter Selbsttranszendierung, in Liebe und Sexualität. Pollack bemerkt dazu ein wenig spöttisch: „Betrachtet man diesen inflationären Gebrauch des Religionsbegriffs, dann gewinnt man zuweilen den Eindruck, als ob sich alles, was manche Theologen und Religionssoziologen auch anfassen, wie von Zauberhand in Religion zu verwandeln vermag.“7
Europa stellt sich als Raum vielfältiger, differenter und mehrdeutig religiöser Situationen dar, die man begrifflich nicht ohne weiteres auf einen Nenner bringen kann. In der bunten Vielfalt alternativer Ausdrucksformen und Auswahlmöglichkeiten von „Religion“ und „Religiosität“ zeichnen sich einige Präferenzen ab, denen ich im Folgenden etwas nachgehen möchte.