Читать книгу Im Bann der Traumfänger - Olaf Falley - Страница 12

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Eigentlich hätte sie es wissen müssen! Sie hätte Baldur nichts von ihrem Alptraum erzählen dürfen. Es war typisch für ihn, dass er sich einen Spaß daraus machte, sie zu ängstigen. Natürlich war es nicht böse gemeint von ihm, er würde sich auch ganz bestimmt bei ihr entschuldigen, aber trotzdem musste er sie erst einmal ärgern. Freya liebte ihren Zwillingsbruder abgöttisch, sie verehrte ihn geradezu. Er war ihr Beschützer, ihr bester Freund aber auch ein Schelm, dem es Freude bereitete, sie zu foppen.

Während Freya die Bäume und Blumen betrachtete spürte sie, dass Baldur sich ihr näherte. Es war schon immer so gewesen. Freya konnte die Anwesenheit ihres Bruders fühlen, sobald die Entfernung zwischen ihnen einen gewissen Abstand unterschritt. Sie wusste auch immer in welchem Gemütszustand er sich gerade befand. Im Moment suchte er zerknirscht ihre Nähe, um sich bei ihr zu entschuldigen. Durch die Bäume sah sie ihn näher kommen, einen schlanken Jungen mit schulterlangem schwarzen Haar und braunen Augen.

Ohne Mühe gelang es Freya, einen Regenguss salziger Tränen aus ihren Augen hervorbrechen zu lassen, schließlich war sie eine Frau, wenn auch noch eine junge. Als Baldur sah, dass seine Schwester noch immer weinte, überkam ihn ein Schamgefühl. Er hatte sie nicht erschrecken wollen, jedenfalls nicht so sehr!

Reumütig legte er seine Arme um sie. Es war eigenartig. Immer, wenn er seine Schwester weinen sah, schien sein Denken auszusetzen. Sein ganzes Sinnen und Trachten war in diesen Momenten nur darauf gerichtet, Freya wieder glücklich zu sehen. Insgeheim glaubte er, dass Freya um diese Tatsache wusste, und sie gezielt ausnutzte, indem sie spontan zu weinen begann, wenn ihr etwas nicht behagte. Doch sei’s drum, er würde sie immer beschützen und ihre Tränen trocknen.

„Ich werde dir den schönsten Blumenstrauß des ganzen Waldes pflücken, damit du nicht mehr traurig bist.“

„Aber Baldur“ schniefte Freya „ willst du mir tote Pflanzen schenken, um mich glücklich zu machen? Müssen die armen Blumen sterben, weil du mich geärgert hast? Die schönsten Blumen sind die, die ihre Wurzeln noch in der Erde vergraben haben und lebendig sind. Ich kann es fühlen, wie glücklich sie sind. Wenn sie in einer Vase stehen, sind sie tot und ich kann nichts mehr in ihnen spüren.“

Baldur bekam rote Ohren, schon wieder. Gleichzeitig fiel ihm jedoch etwas Hervorragendes ein.

“Dann lass uns doch so tun, als ob wir Blumen pflücken. Immer, wenn wir eine schöne Blume sehen, stellen wir sie in eine Vase, die wir uns ausgedacht haben. Das wird bestimmt ein toller Strauß.“

Nun konnte Freya nicht länger das verletzte, weinende Mädchen spielen. Sie küsste ihren Bruder auf die Stirn.

“Das ist die beste Idee, die du in der letzten Zeit hattest. Das wird bestimmt mein Lieblingsspiel.“

Und so zogen sie durch den Wald, auf der Suche nach den schönsten Blumen. Immer, wenn Baldur eine neue Blüte entdeckte, die eine Bereicherung für den imaginären Traumstrauß war, konnte man Freyas helles Lachen hören. Es vergingen einige Stunden und die Kinder waren schon wieder auf dem Nachhauseweg, als Freya plötzlich stehen blieb.

„Kannst du das hören, Baldur?“

„Ich höre nichts. Es ist ganz still.“

Irritiert sah Baldur seine Schwester an.

„Was hörst du denn?“

„Nichts! Gar nichts! Das ist doch seltsam, oder nicht? Eigentlich hört man im Wald doch immer irgendetwas.“

Jetzt fiel es auch Baldur auf. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, vernahm er ein Zischen und Rauschen über den Bäumen, welches immer lauter wurde.

Die Geschwister sahen einander an und ohne ein Wort zu sagen, rannten sie los.

Gerade, als sie den Waldrand erreichten, flog eine Feuerkugel über ihre Köpfe hinweg und krachte durch das Dach ihres Hauses, worauf dieses sofort in Flammen aufging. Die Kinder liefen weiter. Durch ein Fenster konnte Baldur von weitem erkennen, dass der Feuerball die komplette Rückwand des Hauses hinweggefegt hatte. Als er näher kam, sah er durch dasselbe Fenster seinen Vater auf der Wiese liegen. Er erschrak. Arnulf lag da, als wäre er tot. Seine Kleider standen in Flammen. Voller Panik ergriff er Freyas Hand und wollte an der Scheune vorbei zu seinem Vater rennen, als sich plötzlich ein riesiger Schatten in den Flammen bewegte. Baldur konnte regelrecht spüren, wie eine eisige Hand über seinen Rücken strich und seine Beine sich ganz langsam in Baumstämme verwandelten. Vor Entsetzen war er zu keiner Bewegung mehr fähig. Und der Schatten nahm Gestalt an.

Als erstes erkannte Baldur einen Körper, kleiner, als ihm seine Fantasie vorgegaukelt hatte, aber dennoch groß. Der Körper schien zu glühen. Auf dem Rücken der Kreatur befanden sich zwei Flügel, die das Ungeheuer in diesem Moment ausbreitete. Das Feuer leckte an diesen beinahe durchsichtigen Hautlappen, ohne ihnen etwas anhaben zu können. So gewaltig waren die Flügel, dass sie das ganze Haus verdeckten, als das Wesen die Flammen verließ.

Und dann endlich konnte der Junge das Gesicht erkennen und im stockte der Atem. Er hatte sich innerlich auf einiges vorbereitet, darauf jedoch nicht.

Das Gesicht war wunderschön. Die Kreatur hatte ebenmäßige Gesichtszüge, eine kleine Nase, volle Lippen und große, strahlend blaue Augen. Durch die blonden Haare auf seinem Kopf bekam es sogar Ähnlichkeit mit Gerda, der Mutter der Zwillinge. Das Wesen neigte den Kopf zur Seite und betrachtete die Kinder, ganz besonders Freya. Es öffnete seinen Mund und plötzlich war ein melodisches Singen zu vernehmen. Baldur begriff, dass das Wesen zu ihnen gesprochen hatte. Er wollte gerade etwas sagen, als die Kreatur unvermittelt beide Arme ausstreckte. Mit ihrem linken Arm stieß sie den Jungen zur Seite.

Die langen, feingliedrigen Finger der rechten Hand umschlossen Freyas Hüfte und hoben das entsetzte Mädchen hoch. Ohne auf die laut um Hilfe schreiende Freya zu achten, lief das Wesen in Richtung des Waldes davon.

Baldur schüttelte seine Benommenheit ab und rannte hinterher. Mit einem Satz sprang er das Geschöpf von hinten an und klammerte sich an seinem linken Arm fest.

„Lass meine Schwester los, du Monster.“

Baldur schrie und schlug auf den Rücken der Kreatur ein. Wie nebenbei, so, als wäre der Junge eine Mücke, die kaum der Beachtung wert ist, solange sie sich friedlich verhält, jedoch zerquetscht werden muss, sobald sie sticht, hob der Traumfänger seinen Arm und betrachtete den Störenfried.

Da er keine Hand frei hatte, um diese Plage zu beseitigen, biss er im kurzerhand den Daumen ab, wodurch der Junge den Halt verlor. Mit einem Schlenker seines Armes schleuderte er Baldur weit in den Wald hinein. Die Schmerzen in seiner Hand missachtend, rappelte sich der Junge auf und rannte dem Entführer seiner Schwester nach. Dieser bewegte sich leicht und anmutig, fast tanzend durch das Gestrüpp. Störendes Gebüsch übersprang er einfach.

Der Blutverlust machte dem Jungen zu schaffen. Taumelnd erreichte er die Stelle, an der er die Kreatur zuletzt gesehen hatte. Als er aus dem Unterholz kam, erkannte er, dass er sich am Rande der Donnerschlucht befand. Seine Kräfte verließen ihn, seine Sinne schwanden. Wie durch einen Nebel sah er das Wesen auf der anderen Seite der Schlucht verschwinden, bevor ihn das Dunkel der Bewusstlosigkeit umfing und er kopfüber in die Schlucht stürzte.

Er fiel nicht tief und war auch noch am Leben, doch für seine Schwester die, mittlerweile stumm weinend, die Szene beobachtete schien es, als wäre Baldur in den Tod gestürzt.

Freya konnte sich später nicht mehr an die Einzelheiten ihrer Reise erinnern.

Teilnahmslos hing sie in den Fängen der Kreatur. Alle Tränen waren geweint, aller Schmerz in die Welt hinaus geschrien. Geblieben waren ein Gefühl der Leere und eine tiefe Hoffnungslosigkeit. Das Ungeheuer hatte ihren Vater und ihren Bruder getötet. War es da ein Wunder, dass kein Vogel sang, keine Grille ihr Zirpen ertönen ließ und all die kleinen Alltagsgeräusche des Waldes fehlten?

Die Welt trauerte und alles Leben verkroch sich vor der Bösartigkeit des Traumfängers.

Freya dachte an die Blumenvase in ihrem Kopf, die sie mit ihrem Bruder mit den schönsten und farbenprächtigsten Blumen gefüllt hatte und ein Gefühl der Wärme überkam sie. Sie begann, sich eine Welt um diese Blumenvase zu bauen.

Zuerst ein behagliches Wohnzimmer mit einem Tisch, vier Stühlen und einem großen Kamin. Auf den Stühlen saßen ihre Eltern und ihr Bruder. Sie unterhielten sich und Baldur zwinkerte ihr zu. Es war wunderschön und das Mädchen beschloss, dass dieses Wohnzimmer die Wirklichkeit war. All der Schrecken der letzten Stunden war nichts weiter, als ein böser Traum. Sie musste nur fest genug daran glauben.

Über Berge und durch tiefe Schluchten ging die Reise. Viele Stunden lief der Traumfänger mit seiner Beute in der Hand einem unbekannten Ziel entgegen, ohne zu ahnen, dass das Kind im Begriff war, dem Wahnsinn zu verfallen. Irgendwann, nach Stunden oder Tagen lichtete sich der Wald und gab den Blick auf eine malerische Landschaft frei. Ein sanfter Abhang führte an das Ufer eines kristallklaren Baches, der sich durch einen Teppich aus saftigem Gras und Gänseblümchen schlängelte. Am jenseitigen Ufer des Baches stand eine kleine Hütte vor deren Tür ein alter Mann zufrieden seine Pfeife rauchte. Als der Traumfänger seiner gewahr wurde, stieß er ein fürchterliches Fauchen aus.

Gelassen hob der Alte seinen Kopf und blickte über den Bach zu der Kreatur, die so unvermittelt zwischen den Bäumen erschienen war. Gemächlich legte er seine Pfeife beiseite und erhob sich. Der Traumfänger breitete seine Flügel aus, um sich mitsamt seiner Beute in die Luft zu erheben. Doch gelang es ihm nicht.

Das Mädchen war zu schwer und er noch nicht im Vollbesitz seiner Kräfte, so dass ihm nichts anderes übrig blieb, als vor dem Alten zurückzuweichen.

Dieser blieb am Ufer des Baches stehen. Er sah der Kreatur in die Augen, worauf diese erneut fauchte, wie eine Katze, die in die Enge getrieben worden war.

„Was suchst du hier auf meinem Land, Dämon? Welche dunklen Pläne führen dich in diesen Teil der Welt? Wer ist das Mädchen in deinen Klauen?“

Die Stimme des Alten war sanft, wie das Murmeln des Baches, doch gleichzeitig wohnte ihr eine spürbare Stärke inne.

„Hast du wieder einer Mutter das Kind geraubt, Aasgeier? Wirst du nie lernen? Habe ich nicht dich und deinesgleichen oft genug besiegt?“

Gefangen vom Blick des alten Mannes vermochte der Traumfänger nicht, zu fliehen und aus seinem Fauchen wurde ein Winseln.

„Nun, willst du um dein Leben kämpfen oder gibst du mir das Mädchen freiwillig?“

Langsam hob der Alte seine Arme und die Kreatur sank jammernd und sabbernd am anderen Ufer auf die Knie. Wie von selbst öffnete sich die Hand, welche Freya umklammert hatte und das Mädchen begann wie in Trance den Bach zu überqueren. Als sie den alten Mann erreicht hatte, senkte dieser ruckartig seine Arme nach unten und stieß einen kurzen, bellenden Laut aus.

Von einem Augenblick zum anderen waren sowohl der Alte, als auch das Kind verschwunden. Mit ihnen verschwanden auch die Hütte und der klare Bach.

Alles was zurückblieb war eine unansehnliche Wiese auf der keine Blume blühte und das spärliche Gras verzweifelt auf Regen hoffte. Und auf dieser Wiese lag ein Wesen, das einst zu den Mächtigsten gehört hatte, besiegt und um seine Beute betrogen von einem alten Mann.

Als Freya erwachte, glaubte sie zunächst, noch immer zu träumen. Sie lag in einem weichen Bett und konnte die Vögel den Tag besingen hören. Und es musste ein wundervoller Tag sein, wollte man dem Gesang Glauben schenken.

Doch wie könnte denn ein Tag wundervoll sein, an dem solch schreckliche Dinge geschehen waren? Ihr Vater war tot, ihr Bruder war tot, sie selbst befand sich in der Gewalt eines fürchterlichen Ungeheuers…

„ Oh, er ist nicht tot, noch nicht.

Die Stimme erklang unvermittelt vom Kopfende ihres Bettes her. Voller Panik wendete sie den Kopf, um den Urheber sehen zu können.

„ Deine Mutter hat deinen Bruder rechtzeitig gefunden. Wenn keine Entzündungen oder innere Blutungen auftreten, wird er dieses Abenteuer wohl überleben!“

Freya war sehr wohl aufgefallen, dass der alte Mann, einige Worte besonders betont hatte, noch nicht und dieses Abenteuer, doch solange sie nicht wusste, wer dieser Mann war, wo er herkam und was er von ihr wollte, würde sie erst einmal keine Fragen stellen.

„ Nun zumindest bin ich kein fürchterliches Ungeheuer, hoffe ich. Ich habe auf dich gewartet, um dich vor dem grausamen Schicksal einer Dämonenpriesterin zu retten.“

Voller Panik begriff Freya plötzlich, dass der Alte schon zum zweiten Mal auf ihre Gedanken geantwortet hatte. Sie war sicher, kein Wort gesagt zu haben.

„ Du denkst zu laut, Tochter des Waldes. Du musst lernen, leiser zu denken. Auch dabei will ich dir helfen. Doch zunächst sollst du ruhen und zu Kräften kommen. Nichts schlimmeres, als böse Träume vermag die Schwelle meines Hauses zu überqueren. Solange du hier bist, wird dir nichts geschehen.“

Auf dem Weg zur Tür blieb der alte Mann noch einmal stehen.

„Das ist übrigens ein wunderschöner Blumenstrauß, den du in deinem Kopf herumträgst. Versäume nur nicht, ihn zu pflegen.“

Mit diesen Worten schloss er die Tür hinter sich und ließ ein verblüfftes junges Mädchen zurück. Vorsichtig erhob sich Freya. Sie wollte nicht ruhen. Jetzt, da sie wusste, dass Baldur noch am Leben war, hatte sie nur das Ziel, zu ihm und ihrer Mutter zurückzukehren. Doch kaum hatten ihre nackten Füße den Boden der Hütte berührt, als sie eine tiefe Müdigkeit überkam und während sie zurück in ihr weiches Lager sank, glaubte sie eine Stimme zu hören:

„ Hab Vertrauen und ruhe jetzt, törichtes Kind“.

Im Bann der Traumfänger

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