Читать книгу Im Bann der Traumfänger - Olaf Falley - Страница 13

2.

Оглавление

Irgendwie hatte sich Baldur das alles ganz anders vorgestellt. Er hatte geglaubt, seine Mutter würde ihn zu einem großen Krieger bringen, der sich dann um Baldurs Ausbildung kümmern würde. In seinen Träumen sah er sich prächtig gekleidet mit einem funkelnden Schwert an seiner Seite. Er ritt auf einem weißen Schimmel und die Leute jubelten ihm zu.

Stattdessen saß er auf einem störrischen alten Esel und wurde von zwei mächtig alten Frauen begleitet. Es regnete unaufhörlich und seine wunderschönen schulterlangen Haare hingen ihm strähnig in das Gesicht, ein wenig beeindruckender, geschweige denn prächtiger Aufzug und kein eventuell vorbeiziehender Mitmensch käme auf die Idee, ihm zuzujubeln.

Baldur fühlte sich verlassen. Es war alles so trostlos! Sein Zuhause war abgebrannt, sein Vater tot, seine Schwester von einem Monster entführt und seine Mutter hatte ihn der Obhut von Rosa und Hilda überantwortet, um sich selbst auf die Suche nach ihrer Tochter zu begeben. Das Wetter leistete seinen eigenen Beitrag, um den Riss in Baldurs Seele noch zu vertiefen.

Die Reise verlief bisher ohne Zwischenfälle, allerdings auch ohne Pause. Schweigend zog die kleine Gruppe durch den Regen der heraufziehenden Morgendämmerung. Sie waren in den frühen Abendstunden des vergangenen Tages aufgebrochen und hatten seitdem kaum ein Wort miteinander gewechselt.

Deshalb schrak Baldur auch heftig zusammen und meinte, Hildas Stimme müsse über Meilen zu hören sein, als diese ihn unvermittelt ansprach.

„Wir müssen uns langsam einen Rastplatz suchen. Du kannst dich ja kaum noch auf dem Esel halten. Außerdem glaube ich, dass etwas Wärme dir sicher gut tun würde.“

Beschämt brachte Baldur lediglich ein zaghaftes Nicken zu Stande. Er erging sich die ganze lange Nacht in Selbstmitleid, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er als Einziger in ihrer kleinen Gruppe nicht zu Fuß gehen musste, obwohl er doch der Jüngste war. Und jetzt würden sie rasten, weil er vor Müdigkeit fast vom Rücken seines Lasttieres fiel. Die alten Frauen schlugen sich da um Längen besser. Aber schließlich waren sie ja auch Hexen.

Da konnte man wohl erwarten, dass sie über Mittel und Wege verfügten, ihrer Müdigkeit Herr zu werden. Sie hätten doch sicherlich auch eine Möglichkeit gefunden, um die Reise angenehmer verlaufen zu lassen. Warum konnten sie nicht fliegen?

„Alle Hexen können fliegen. Warum müssen wir durch den blöden Regen laufen? Was seit ihr eigentlich für Hexen?“

Baldur schwieg erschrocken, als er Rosas bleiches Gesicht sah. Ihm wurde bewusst, dass er sie gerade angeschrien hatte. Doch bevor er eine Entschuldigung stammeln konnte, fauchte die Alte ihn auch schon an.

„ Hexen können nicht fliegen! Das ist ein Märchen für dumme Kinder, denen ihre Mütter Angst machen wollen. Wir sind Geschöpfe der Natur. Wir verstehen die Sprache der Tiere und Pflanzen, weil wir mit ihnen leben. Wenn die Menschen uns zaubern sehen, bedienen wir uns lediglich der Kräfte der Natur“

Rosa war wütend, ganz eindeutig wütend.

„ Es ist gut. Du weißt doch, wie die Jugend ist. Vorlaut und frech, das sind nun mal die Sonderrechte der Kinder. Du solltest das doch noch wissen, schließlich warst auch du ein ungezogenes Mädchen, als du jung warst“

„ Ich war nie jung, in meinem ganzen Leben nicht“ schnaubte Rosa.

Verblüfft sah Hilda ihre Gefährtin an, während Baldur, der den Unsinn dieser Worte bereits verarbeitet hatte nur mit größter Mühe ein Lachen unterdrücken konnte.

„ Oh natürlich, du warst nie jung. Deine Mutter hat einer alten Frau mit langen zotteligen, grauen Haaren das Leben geschenkt. Als sie gesehen hat, dass ihr Kind älter aussah, als sie selber und auch viel mehr Warzen im Gesicht hatte, warf sie es angeekelt in den nächsten Fluss und suchte nie wieder die Nähe eines Mannes.“

Der Bann war gebrochen. Nun standen alle drei im strömenden Regen, Hilda, Rosa und Baldur, und lachten laut und herzhaft.

Als sie sich wieder beruhigt hatten, ergriff Hilda das Wort.

„Wie ich schon sagte, es wird Zeit zum Rasten. Es hat Gerda unsägliche Mühen gekostet, ihren Spross aus der Dunkelheit des ewigen Vergessens zurückzuholen, umso tragischer wäre es, wenn wir ihn jetzt an Erschöpfung sterben lassen würden“

Verschmitzt lächelte sie zu dem Jungen hinüber.

„Es gibt ganz in der Nähe eine alte Höhle. Nicht sehr groß, auch nicht gerade gemütlich, aber ausreichend für unsere Zwecke. Dorthin sollten wir uns wenden.“

„Meinst du etwa die ehemalige Heimstatt der wilden Ursula? Ich glaube, in diesem Falle wäre mir der Regen lieber.“

„Seit wann bist du denn abergläubisch, Rosa? Und bevor du fragst, Baldur, denn dass du fragen wirst, sehe ich dir an der Nasenspitze an, Ursula ist oder war eine aus unserer Mitte. Uns droht nichts Böses in ihrer Höhle. Ich erzähle dir ihre Geschichte auf dem Weg dorthin.“

Hilda sah Rosa drohend an.

„Denn wenn ich Rosa erzählen lasse, bleibst du am Ende auch lieber im Regen stehen. Sie hat eine lebhafte Begabung darin, immer das Böse hervorzuheben.“

Rosa murmelte etwas vor sich hin, protestierte jedoch nicht.

„ Also, wo soll ich beginnen? Ursula war, wie ich bereits erwähnte, ein Kind der Natur. Sie war größer und stärker, als ihre Mitschwestern. Es wird erzählt, dass sie eine ganz besondere Begabung besaß.“

„Einen Fluch nenne ich es, keine Begabung. Sie war verflucht“ Missbilligend sah Hilda zu Rosa hinüber und schüttelte den Kopf.

„Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, dass ich die Geschichte erzähle.

Rosa nennt es also einen Fluch, ich bezeichne es als Segen. Ursula konnte wirklich verstehen, was die Tiere sagten. Nicht nur auf gefühlsbetonter Ebene, wie wir , sondern Wort für Wort. Sie sprach mit ihnen. Das fanden viele Schwestern seltsam und da wir damals noch die Diener der Traumfänger waren, die alle unsere Schritte überwachten und nichts duldeten, was ihrer Macht auch nur annähernd nahe kam, musste Ursula bald fliehen. Sie flüchtete in die Wildnis, wo sie nur überleben konnte, weil die Tiere ihr halfen. Sie sprach mit den Eichhörnchen und diese führten sie zu vergrabenen Eicheln und Nüssen, sie bat die wilden Ziegen um etwas Milch und die Bären um ihren wärmenden Schutz bei Nacht. Irgendwann traf sie einen alten Fuchs, der ihr etwas von einer Höhle und einem einsamen Mann erzählte. So kam es, dass Ursula eines Tages auf den stolzen, aber liebenswerten Widukind traf. Er lebte, genau wie Ursula mit der Bürde des Andersseins. Auch er war ein Kind des Waldes, auch er verstand die Sprache der Tiere, doch musste er einen hohen Preis dafür zahlen.

Die Menschen mieden ihn, die Hexen mieden ihn, die Traumfänger jagten ihn.

Ähnlich einem Werwolf, musste er den Mond fürchten. Zwar blieb er immer und vollständig der Mensch Widukind, doch war er bei bestimmten Mondphasen nicht mehr Herr seiner Gedanken. Immer, wenn der Mondwagen sich dem Wagen der Sonne zu sehr näherte, verfiel Widukind in Raserei. Er wütete wie ein Besessener und die Tiere gingen im aus dem Weg, sogar die wildesten unter ihnen. Wie dem auch sei, Ursula traf Widukind und sie verliebten sich ineinander, zwei Ausgestoßene, die froh waren, einen Leidensgenossen gefunden zu haben. So lebten sie viele Jahre glücklich in der Abgeschiedenheit des Waldes und es gelang Ursula immer besser, die Besessenheit Widukinds zu kontrollieren, bis ihnen die Traumfänger auf die Spur kamen. Es war ausgerechnet einer jener Momente, in denen der Mondwagen über den Sonnenwagen hinweg zu fahren schien. Die Welt war trüb und dämmrig, der Wahnsinn in Widukind riss an seinem Gefängnis, als die Traumfänger über die Höhle herfielen. Um sich selbst wehren zu können, musste Ursula ihren Geliebten allein den Kampf gegen seine Besessenheit führen lassen, und Widukind verlor diesen Kampf. Wie ein Wüterich kam er über die Eindringlinge. Er kämpfte tapfer und erschlug wohl auch den Einen oder Anderen, doch als sein Blick sich wieder klärte, die Reinheit in seinen Kopf zurückkehrte, sah er das Ausmaß der Tragödie. In seiner Raserei hatte er den einzigen Menschen erschlagen, der ihm etwas bedeutet und den er über alle Maßen geliebt hatte, Ursula. Als er seine Geliebte in einer großen Lache ihres eigenen Blutes liegen sah, verließ der Verstand für immer seine Heimstatt hinter Widukinds Stirn und überließ dem Wahnsinn das Feld. Es heißt, er hätte für den Rest seines Lebens in seiner Höhle gehaust und ununterbrochen Ursulas Namen in den Wald geschrien. Als er gestorben war, kam ein riesiger Bär und trug seinen Leichnam fort. Niemand weiß, ob er begraben oder zu guter Letzt von den Tieren, zu denen er ein so inniges Verhältnis gehabt hatte, gefressen wurde.“

Baldur fröstelte. Das war genau die Art Geschichte, die garantiert einen Platz in seinem Kopf finden und sich immer dann in Erinnerung bringen würde, wenn er irgendwo einsam versuchte einzuschlafen.

„Dort vorn ist der Eingang“

Durch den Regenvorhang konnte Baldur nichts erkennen. Erst einige Dutzend Schritte später begann sich ein dunkler Umriss zwischen den Bäumen abzuzeichnen. Allerdings war dies nicht etwa der Eingang zu Ursulas Höhle, denn in diesem Fall hätte man kaum von einem Versteck sprechen können, vielmehr handelte es sich um einen Felsbrocken, der am Rande einer tiefen Schlucht lag. Baldur musste sofort an die Donnerschlucht denken, die um ein Haar sein Grab geworden wäre, nur brauste am Grunde dieser Schlucht kein Fluss zwischen den Felswänden dahin.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht änderte sich das Aussehen der Landschaft. Waren sie bisher unter den Ästen von Eichen und Buchen, Ulmen und vereinzelten Birken unterwegs gewesen, so begann dort drüben die düstere Herrschaft der Nadelbäume. Es kam Baldur vor, als ständen sich zwei Heere gegenüber, der freundliche, lichtdurchflutete Laubwald auf der einen Seite, der finstere, abweisende Nadelwald auf der anderen Seite, getrennt durch eine tiefe Schlucht, die einzig und allein den Zweck zu erfüllen schien, das Zusammentreffen der verschiedenen Bäume zu verhindern.

„Nun, junger Mann, kannst du die Höhle entdecken?“

Fragend sah Rosa zu Baldur herüber.

„ Was glaubst du, wäre an solch einem Ort das sicherste Versteck?“

„ Der Nadelwald dort drüben. Der wirkt so abweisend, dass sich bestimmt niemand hineinwagt. Das wäre ein sicheres Versteck“

„Du findest den Nadelwald abweisend? Seltsam! Die Tannen und Kiefern zählen zu den freundlichsten Geschöpfen auf der Erde. Sie sind alt und weise. Nein dort ist die Höhle nicht. Schau nach unten. Siehst du den schmalen Pfad, der dort vorn nach unten führt? Ihm müssen wir uns anvertrauen.“

Und so machte sich die kleine Reisegruppe auf den Weg nach unten. Auf dem Grunde der Schlucht angekommen, stellte Baldur fest, dass kaum ein Sonnenstrahl seinen Weg hier herunter fand. Es herrschte ein trübes Zwielicht, wodurch die Umrisse aller Dinge irgendwie zu verschwimmen schienen. In dieser Dämmerung gingen sie etwa zweihundert Schritte nach Osten, wo sie auf den nächsten Pfad trafen, der scheinbar wieder aus der Schlucht hinausführte. Diesem Weg folgten sie, die Steilwand wieder nach oben, bis sie wieder in das Licht der Sonne kamen. Dort, auf halbem Wege, endete der Pfad vor einem finsteren Loch. Sie hatten den Höhleneingang erreicht. Da der Weg von hier aus nicht weiter nach oben führte, konnte sich von dort auch niemand der Höhle nähern. Jeder Besucher, geladen oder nicht, musste durch die Schlucht kommen.

Allerdings war man in der Höhle gefangen, sollte der Weg nach unten je versperrt sein. Baldur sprach seine Bedenken an.

„ Ich sehe, dass du ein helles Köpfchen bist.“

Hilda nickte ihm anerkennend zu.

„Aber deine Sorge ist unbegründet. Es gibt in der Höhle einen zweiten Ausgang, einen Stollen, der weit in die Felswand hineinführt und am Ende der Schlucht an der Flanke des Berges, fünfzig Fuß über dem Fluss Nerd endet. Ein verzweifelter Mensch auf der Flucht mag den Sprung nach unten wagen, doch niemand kann von unten in diesen Gang gelangen. Niemand, außer den Traumfängern. Diese Kreaturen breiten einfach ihre Flügel aus und überwinden die Strecke von oben herabschwebend. Deshalb hatten Ursula und Widukind auch keine Chance, durch diesen Tunnel zu entkommen.“

Während Rosa den Esel vor der Höhle festband, entnahm Hilda dem Gepäck zwei Fackeln, die sie anzündete, indem sie leise einige Worte murmelte. Das Innere der Höhle erwies sich als trocken und geräumig. Nahezu rund durchmaß sie an die sechzig Fuß. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemals ein Lebewesen gewohnt haben könnte. Es gab weder Überreste noch so primitiver Möbel, noch wiesen die Wände irgendwelche Spuren künstlicher Bearbeitung auf. Falls in dieser Höhle wirklich einst zwei Menschen gelebt hatten, so hatte die Zeit alle Spuren beseitigt.

Zwei Seelen hatten an diesem Ort über viele Jahre hinweg existiert, hatten ihre Hoffnungen in die Wände geflüstert, ihre Ängste in den Wind geschrien und schließlich die vergänglichen Hüllen ihrer Körper verlassen, um woanders von vorn zu beginnen. Und doch war all ihr Handeln bedeutungslos geblieben, da sie es nicht vollbracht hatten, eine dauerhafte Spur ihrer Existenz zu hinterlassen.

Dieser Gedanke bedrückte Baldur. Welche Bedeutung hatte seine Suche, sein Schicksal für den Lauf der Zeit, wenn selbst von zwei mächtigen Menschen wie Widukind und Ursula nichts als Staub und Erinnerungen in den Köpfen uralter Hexen zurückblieb? Wenn interessierte es in hundert Jahren, ob Baldur seine Schwester Freya gerettet hatte oder nicht, wenn kümmerte es in fünfzig Jahren, dass ein Feuer Arnulf getötet hatte, wer fragte morgen noch nach dem Verbleib Gerdas? Baldur kamen die Tränen. Es war alles so hoffnungslos, denn hoffen bedeutete an ein Morgen zu glauben, an dem sich alles zum Besseren gewendet hätte. Doch was für ein Morgen sollte das sein? Bedeutungslos wie das Heute!

„Ich kann mir vorstellen, wie es in dir aussieht“

Hilda hatte sich an Baldurs Seite begeben.

„Wir fühlen das Gleiche. Alle, die hierher kommen empfinden eine tiefe Niedergeschlagenheit. Rosa ist auch zum ersten Mal hier, doch war sie vorbereitet auf die Gefühle, die an diesem Ort auf sie einströmen. Man sagt, es sei der Wahnsinn Widukinds, der noch immer in den Wänden der Höhle beheimatet wäre. Es heißt, jeder, der den Weg hierher fände, würde getestet, ob er würdig sei an diesem Platz zu verweilen. Angst, Zweifel und Hoffnungslosigkeit erobern die Herzen der Besucher. Die Schwachen verlassen die Höhle und stürzen sich über den Rand in die Tiefe des letzten Schlafes, die Starken bleiben und stellen sich ihren Ängsten.

Es mag die Wahrheit sein, oder auch nicht, in jedem Fall jedoch wird der belohnt, der trotz seiner Zweifel bleibt und gegen die Hoffnungslosigkeit ankämpft. Der Lohn besteht darin, dass bei seinem nächsten Besuch der Höhle, seine Ängste und Zweifel schon sehr viel geringer sein werden. Spätestens wenn die Zahl seiner Aufenthalte das halbe Dutzend überschritten hat, wird ihm die Höhle wie ein Ort des Friedens und der Glückseligkeit erscheinen.“

Während ihres Gesprächs hatte Rosa mit verkniffenem Gesicht und Tränen in den Augen ein wahres Festmahl angerichtet. Zumindest erschien es dem ausgehungerten Baldur, als wäre es das köstlichste, was er je zu Gesicht bekommen hätte. Dabei bestand das Mahl lediglich aus altem Brot, Obst, hartem Käse und einem letzten Rest Pferdefleisch, gepökelt um es haltbar zu machen, aber gerade deshalb ungenießbar. Baldur war es egal. Er verschlang alles, was ihm vorgesetzt wurde und als er fertig war, fühlte er sich so zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Es überkam ihn eine gewaltige Müdigkeit und im Einschlafen glaubte er eine Stimme zu hören. Sie sprach nicht zu ihm und doch konnte er verstehen, was sie sagte:

„Hab Vertrauen und ruhe jetzt, törichtes Kind“.

Im Bann der Traumfänger

Подняться наверх