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Römischer Realismus

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Der Römer ist diesen Grundsätzen entsprechend kein philosophischer Mensch, der eine Theorie für sein Handeln suchen würde. Es reicht ihm, die Realität mit Gesetzen und Richtersprüchen zum Wohle des Ganzen regeln zu können. Er schafft Recht, so wie es ihm die Notwendigkeit aufträgt, von Fall zu Fall. Diese Herangehensweise gilt auch für die Wirtschaft. Für den täglichen geschäftlichen Umgang miteinander ist das wohl ein taugliches Modell, aber es führt immer dann zu Schwierigkeiten, wenn sich ökonomische Probleme ergeben, die das gesamte Reich betreffen und deren Bekämpfung eine tief greifende Analyse voraussetzen würde, wie das etwa bei inflationären Preisentwicklungen der Fall ist. Deshalb hatten die Kaiser bis herauf zu Diokletian, also bis zur Wende vom 3. zum 4. Jh. n. Chr., solchen Ereignissen oft nicht viel mehr entgegenzusetzen als untaugliche Höchstpreisedikte.

Aus heutigem Blickwinkel betrachtet war das Römische Reich eine gigantische Verteilungs- und Umverteilungsmaschinerie: eine globalisierte Ökonomie, freilich nicht in dem Sinne, dass die Warenströme frei gewesen wären, sondern dass sie von der Peripherie zum Herzen des Reiches flossen, nach Rom und in die anderen Metropolen des Reiches.

Rom ist das Zentrum von Handel und Finanzen. Auf dem Forum Romanum gibt es schon im 4. Jh. v. Chr. einen eigenen Gebäudekomplex für die Geldwechsler und Verleiher (faeneratores). In diesem macellum besorgen sich vor allem Händler Geld für ihre Geschäfte und zahlen dabei je nach Risiko einen Zinssatz von bis zu 33 Prozent. Der Zins auf reine Konsumkredite ist zu dieser Zeit gesetzlich mit 12,5 Prozent gedeckelt. Der Bankier, der argentarius, ist schon ab dem 2. Jh. v. Chr. nicht nur ein Wechsler, sondern auch ein Depositenhändler.

Das Geld schmiert den Welthandel. Ostia, der größte Hafen der Antike, kann 200 Schiffen gleichzeitig als Umschlagplatz für die geladenen Reichtümer aus aller Welt dienen. Ein tausende Kilometer umfassendes Straßennetz verbindet die Provinzen mit den großen Hafenstädten. Die Flüsse Europas werden intensiv als Verkehrswege benutzt, und zwar vom Nil im Osten bis zum Quadalquivir in Hispanien im Westen. Bis nach Indien und China reichen die römischen Handelsbeziehungen zu Wasser und zu Land. Das Bruttonationalprodukt des Römischen Reiches ist von zahlreichen Historikern unterschiedlich berechnet worden. Die jüngsten Studien dazu stammen aus dem Jahr 2009 und ergeben für das Jahr 14 n. Chr. bei 60 Millionen Einwohnern ein Einkommen (Äquivalent 1990) von 620 US-Dollar pro Kopf und Jahr.37

Dieser Betrag entspricht nach heutigem Äquivalent also weniger als zwei US-Dollar pro Tag. So wenig erwirtschaften aktuell nur die Bewohner der ärmsten Staaten der Welt (Eritrea, Mosambik etc.).

Sogar das reiche Zentrum des Imperiums bietet zur Kaiserzeit ein Bild des Elends: Von den 7,5 Millionen Einwohnern der italischen Provinzen dürften drei Millionen recht- und eigentumslose Sklaven gewesen sein und über vier Millionen der armutsgefährdeten Plebs angehört haben. Lediglich die 200 bis 1.000 Senatoren (je nach Kaiser variierte ihre Zahl), die 20.000 Ritter und einige tausend Dekurionen dürften nach heutigen Maßstäben als „reich“ gelten, mit einem Vermögen jenseits der 100.000 Sesterzen (nach heutigem Äquivalent 600.000 Euro). Der reichste Senator der Kaiserzeit, Cornelius Lentulus, besaß 400 Millionen Sesterzen (2,4 Mrd. Euro). Vermögen ist auch die wichtigste Voraussetzung für die dignitas, welche die Würde, die als Voraussetzung für die Bekleidung eines öffentlichen Amtes gilt. Juvenal, der Satiriker, bringt die Verhältnisse mit beißendem Humor auf den Punkt: „So viel Geld einer im Kasten hat, so viel an Wertschätzung genießt er.“ Rom ist also mehr oder weniger eine Plutokratie: Die Reichen schaffen an.

So dünn die Schicht der politisch gestaltenden dives war, so variantenreich zeigte sich demgegenüber die Armut. Allein sechs abstufende Ausdrücke gibt es im Lateinischen für diesen Zustand: pauper, egens, inops, indigens, tenius, mendicus – wobei als pauper auch noch gelten kann, wer ein Stückchen Land besitzt. „Die Masse der Römer lebte von der Hand in den Mund und war von absoluter Armut besonders bei Preissteigerungen von Nahrungsmitteln betroffen“, resümiert der Historiker Marcus Prell38. Die Plebs, die Masse, das namenlose Gewühl, die turba, ist den Schriftstellern verhasst. Cicero schreibt über die sentina urbis, den „Abschaum“ Roms, als „elendes und hungriges Gesindel“ und als „Blutsauger der Staatskasse“.39 Artemidor dichtet: „Die Armen gleichen einfachen unbekannten Orten, wo man Mist und sonstigen Müll hinwirft, die Reichen aber den heiligen Bezirken der Götter.“40

Trotz der offensichtlich bedrückenden Verhältnisse, unter denen die überwiegende Mehrheit der Bewohner leben, bilden Hungeraufstände in der mehrhundertjährigen Geschichte Roms die Ausnahme. Bis zum Ende des 2. Jahrhunderts berichten die römischen Historiker von sechs Hungerrevolten. Für das gesamte 3. Jahrhundert sind nur zwei belegt. Der Grund dafür dürfte in einer täglich geübten Unterstützung liegen, welche die Reichen und der Staat den Armen und der Plebs der Stadt Rom zukommen ließen – zulasten freilich der ausgepressten Provinzen.

Vor allem die Getreideverteilungen, die frumentationes, scheinen zentraler Bestandteil staatlicher Politik gewesen zu sein. Zwischen 150.000 und 300.000 Römer waren Bezieher der Zuteilung teils verbilligter oder kostenloser Nahrungsmittel. Statt Getreide wurde ab dem 2. Jh. n. Chr. auch Brot, Olivenöl, Wein und Fleisch gereicht. Ihrer Bedeutung entsprechend waren die Lebensmitteltransporte Richtung Zentrum des Imperiums militärisch gesichert. Getreidehändler genossen unter den römischen Kaisern weitgehende Privilegien. Transporte wurden zumeist durch Eskorten geschützt (was andere Städte nicht hinderte, sich selbst ihren Anteil am Lebensnotwendigen zu sichern; von Byzanz oder Chalcedon wird berichtet, sie hätten sich ihr Getreide durch Kapern vorbeifahrender Schiffe gesichert).

Die Großzügigkeit der Herrscher gegenüber den Armen muss man sich ergänzt durch Spenden und andere Zuwendungen der Reichen vorstellen. Jeder Patrizier verfügte über eine mehr oder weniger zahlreiche Anhängerschaft von Günstlingen, clientes genannt. Ihre Funktion war es, den Herren täglich ihre Aufwartung (salutatio) zu machen und dafür mit einem Korb voll Essen (sportula) oder einem Geldbetrag (in der Regel 25 Asse oder sechs Sesterzen) entschädigt zu werden. Als Gegenleistung hatte der Klient dem Patron seine Dienste anzubieten. Das reichte von manueller Arbeit bis zum Kriegsdienst. Viele Günstlinge zu haben bedeutete gleichzeitig hohes Ansehen für die Patrizier, von denen sich manche sogar als rex, König, ansprechen ließen. Dazu gab es auch noch reiche Alimentarstiftungen, etwa jene von Kaiser Trajan (über eine Million Sesterzen), die sich um die Ernährung und Erziehung von Kindern kümmerte.

Eine ganz eigene Form der Selbsthilfe bestand in Genossenschaften, den collegia tenuorum. Durch Entrichtung eines Mitgliedsbeitrags konnte man sich da nicht nur Nahrung und die Teilnahme an gemeinschaftlichen Aktivitäten sichern, sondern auch für eine würdige Bestattung „ansparen“. Doch alle diese Einrichtungen hatten keine andere Funktion, als die Machtverhältnisse zu stabilisieren. Eine gerechtere Gesellschaft bewirkten sie nicht. Sie trugen eher dazu bei, die bestehenden schlechten Verhältnisse fortzusetzen. Versuche, tatsächlich ein sozial gerechteres System in Kraft zu setzen, scheiterten hingegen.

Das gilt einerseits für die Versuche, die Schuldknechtschaft zu bekämpfen: Die Gesetze der Kaiser Augustus und Tiberius, die den Bürgern kostenlose Darlehen geben und Wucherzinsen abschaffen sollten, hatten kaum Erfolg. Andererseits wurde aber auch der Versuch der Brüder Gracchus vereitelt, den ager publicus den Armen zur Bewirtschaftung zu überlassen. Die Lex Sempronia agraria von Tiberius Gracchus begrenzte 133 v. Chr. den Landbesitz der Patrizier auf 500 Joch, der Rest sollte den Plebejern zugute kommen. Die Begründung des Gracchen: „Sogar die wilden Tiere, welche in Italien hausen, haben ihre Höhle. Jedes weiß, wo es sich hinlegen, wo es sich verkriechen kann. Die Männer aber, die für Italien kämpfen, haben nichts außer Luft und Licht. Heimatlos, gehetzt irren sie mit Weib und Kind durch das Land. Herren der Welt werden sie genannt und haben nicht eine Scholle Landes zu eigen.“41 Die Reichen ließen sich diese dauerhafte Umverteilung nicht lange gefallen. Tiberius Gracchus wurde ebenso ermordet wie sein Bruder Gajus. Davor hatten heute hoch geschätzte Redner wie Cicero gegen die „Gleichmacherei in den Besitzverhältnissen“ gewettert. Die Landfrage blieb ungelöst.

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