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Utopias blühender Sozialismus

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Man kann sich die Zeit des Thomas Morus als eine Epoche extremer Armut und extremen Reichtums vorstellen. Es ist die Zeit der Textilmanufakturen, welche die Regionen Südenglands und Flanderns in einen bis dahin nicht gekannten Wohlstand taucht, besser gesagt einige wenige seiner Bewohner. Die Textilindustrie braucht vor allem eines: Wolle. England verfügt über satte grüne Weiden und bald auch über Schafe, hunderttausende davon. Denn die Grundbesitzer, ob adeliger oder kirchlicher Natur, allesamt satt und übersättigt, wollen ebenso reich sein wie die italienischen Bankiers in London und die Brüsseler Tuchhändler. Was aber tun, wenn einem nicht technische Erfindungen helfen? Man stellt bereit, was da ist: Land für Schafe. Zehntausende an Bauern verpachtete Grundstücke werden nun als Weiden eingehegt, ganze Dorfschaften vertrieben und die Gebäude geschleift. Nun wächst kein Getreide mehr auf den Feldern. Die Vertriebenen hungern und bringen sich mit Betteln und Stehlen durchs Leben oder – wie Karl Marx nachzuweisen versucht – fallen den ersten Manufakturen Englands als leibeigene Arbeiter zum Opfer.64

Aus wirtschaftlicher Perspektive weist dieses Unternehmertum das Gegenteil von dem auf, was der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter als tendenziell „heroisch“ im Sinne des Fortschritts beschreibt. Es schafft keinen Mehrwert durch Risiko und Investition, sondern bloß den Rückschritt der Allgemeinheit durch die Konzentration von Boden und Kapital in den Händen weniger. England wird auf diese Weise einem Prozess unterworfen, den wir heute aus Entwicklungsländern kennen: Es hat die Rolle des Rohstofflieferanten.

Diese Fährnisse also umgeben den jungen Thomas Morus, der 1477 in London geboren wird. Morus ist nicht nur Jurist und Theologe, sondern bald auch Universalist – ein Gelehrter, der in ganz Europa von sich reden macht und mit den berühmtesten Professoren seiner Zeit in Verbindung steht. Dabei soll er nach einer Schilderung des Erasmus von Rotterdam ganz bescheiden geblieben sein. Nichts sei ihm so sehr verhasst gewesen als Schmuck und Luxus, sein Habit sei stets der schlichte Mantel gewesen und auch sonst trank er Wasser, wo andere Wein nahmen, und zog ein Stück Brot lukullischen Genüssen vor. Solche Eigenschaften riechen förmlich nach einem menschenfeindlichen Asketen, doch das Gegenteil scheint der Fall gewesen zu sein. Erasmus schwärmt von der natürlichen Heiterkeit und Freundlichkeit seines Kollegen, die sich in Witz und Charme niederschlugen.

Im Alter von 18 Jahren hält Morus Vorlesungen über den „Gottesstaat“ des Augustinus, so glänzend und beredt, dass die Fama des Unterhausabgeordneten bis zum Hof des Königs vordringt. Heinrich VIII., ein impulsiver, aber höchst begabter und interessierter König, hält viel auf Wissen. Für die Humanisten seiner Zeit ist Heinrich der Hoffnungsträger unter Europas Herrschern. Und so kommt es, dass Thomas Morus, der Bescheidene mit dem genialen Kopf, an den Hof berufen wird, wo er dank seiner Umsicht 1529 zum Lordkanzler, dem einflussreichsten Ratgeber des Königs, bestellt wird. Das Glück hält allerdings nur so lange wie Heinrichs eheliche Treue zu Katharina von Aragon: exakt drei Jahre. Der König will die Ehe annullieren lassen, doch Morus verweigert die Zustimmung – und später auch die Unterzeichnung der Suprematsakte, mit der Heinrich die Loslösung von der englischen katholischen Kirche beschließt, um eine neue Buhle ehelichen zu können. Nach Kerker und Schauprozess wird Morus am 1. Juli 1535 enthauptet.

Schon 1516 ist Morus’ Erzählung über eine ideale menschliche Gesellschaft erschienen: De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia (kurz: Utopia). Auf dieser erdachten Insel ist so ziemlich alles verboten, was die soziale Umwelt von Thomas Morus für primäre Erfolgsmerkmale hält. Sie ist frei von aller „Raffsucht und Stolz“, denen die Übel der Menschheit entspringen, wie Morus seinen Erzähler Raphael Hythlodaeus berichten lässt.

Gleich zu Beginn des Werkes hält Hythlodaeus moralisches Gericht über die Missstände der Zeit: „Was anderes züchtet ihr, als Diebe, um sie dann zu hängen?“ Die europäischen Staaten seien eine „Verschwörung der Reichen, die unter dem Namen und dem Rechtstitel des Staates für ihren eigenen Vorteil sorgen“. „Es genügt ihnen nicht, der Allgemeinheit bei ihrem müßigen und üppigen Leben nichts zu nützen; nein, jetzt nehmen sie dem Pflug alles Land weg, hegen alles als Weide ein, tragen Gehöfte ab und zerstören Dörfer. […] Damit also ein einziger Prasser, vergleichbar einem unersättlichen Vampir, einige tausend Joch Land aneinanderreihen und mit einer ununterbrochenen Einfriedigung absperren kann, werden die Pächter verjagt; andern raubt man sogar noch ihre Habseligkeiten, indem man sie übers Ohr haut oder kurzerhand beraubt.“65

Die Hoffart, so der Erzähler, wirke immer durch das Privateigentum, die Sucht nach Reichtum habe massenhafte Armut und Arbeitslosigkeit geschaffen, die durch willkürlich steigende Preise noch geschürt werden. Die Preise aber würden durch Absprache unter einzelnen Produzenten zum Nachteil der Gesellschaft hoch gehalten. Morus nennt das ein Oligopol und beschreibt damit einen bis heute wunden Punkt jeder Marktwirtschaft: „So hat die skrupellose Gewinnsucht einiger weniger in Unheil verwandelt, was uns bisher ein besonderes Glück schien.“66

Dabei fehlt eine wichtige psychologische Begründung für die Missstände nicht: „Habsucht und Raubgier stammt bei allen Lebewesen aus der Angst vor der Entbehrung, beim Menschen allein auch noch aus der Großmannssucht, die sich darauf etwas einbildet, durch Schaustellung überflüssigen Besitzes andere auszustechen.67

Ganz anders ist da Utopia – eine riesige Haus- und Tauschwirtschaft, die sich in ideal-platonischer Weise weder vorwärts noch krisenhaft rückwärts entwickelt, eine vollkommen statische Ökonomie. Die Utopier leben vom Ertrag ihrer Felder und ihrer Hände Arbeit – und nur davon. Es gibt kaum Außenhandel (und wenn doch, so ist die Bilanz stets positiv), keine technische Weiterentwicklung (alle Werkzeuge werden nach alter Tradition hergestellt). Wo aber alles stabil und selbst der Fortschritt ausgeschlossen ist, dort bedarf man auch des wichtigsten Tauschmittels nicht: des Geldes.

Gold und andere Edelmetalle haben auf Utopia allein die Funktion, den Überschuss, den die Gesellschaft erwirtschaftet, zu horten und damit im Bedarfsfall die Söldnertruppen für einen eventuellen Krieg zu bezahlen. Der Staatsgoldschatz ist nicht zentral untergebracht, sondern wird zu täglichen Gebrauchsgegenständen gegossen und an die Haushalte verteilt – beispielsweise in Form güldener Nachttöpfe. Was man als Pissoir verwendet, erfreut sich folgerichtig auch sonst keiner gesteigerten Wertschätzung: „Die Utopier sorgen auf jede Art dafür, dass bei ihnen Gold und Silber im Verruf stehen, und während bei anderen Völkern der Verlust dieser Metalle nicht weniger weh tut, als wenn man einem die Eingeweide herausrisse, würde bei den Utopiern kein Mensch auch nur einen Heller einzubüßen glauben, wenn einmal die Umstände erfordern, alles Gold außer Landes zu geben.“68

Diese rigide Erziehung zur Prunkverachtung zeigt Wirkung in diplomatischen Eklats. Als Gesandte aus fremden Staaten kommen, um den Utopiern zu beweisen, wie reich ihre Heimatländer seien, ernten sie mit ihren prachtvollen Gewändern nur Hohn und Verachtung. Die Utopier verstehen nämlich nicht, „wie ein Mensch, der doch einen Stern oder auch die Sonne selbst anzusehen Gelegenheit hat, an dem stumpfen Schimmer eines kleinen Edelsteins Gefallen finden mag, oder wie einer so verrückt sein kann, sich wegen eines feiner gesponnenen Wollfadens vornehmer zu dünken, wenn doch diese Wolle vorher ein Schaf getragen hat, das dabei gar nichts anderes war als ein echtes, dummes Schaf“.69

Feinen Stoff und Reichtum braucht es also nicht auf Utopia. Die Insel unterliegt einer umfassenden Planwirtschaft, die jedem das Notwendige gibt. Die Verteilung der Güter funktioniert über Kommunalmärkte. In riesigen Hallen werden zu bestimmten Tagen alle erwirtschafteten Güter eingebracht. Und dann regiert das Gemeineigentum: „Zunächst wird festgestellt, was ein jeder Ort im Überfluss besitzt und was umgekehrt irgendwo schlecht geraten ist; dann behebt man sofort mit dem Überschuss des einen den Mangel des anderen. Die Städte besorgen diesen Ausgleich ohne Entschädigung. So ist die ganze Insel wie eine einzige Familie.“70 Moderne Kritiker finden allerdings, Utopia gleiche mehr einem Straflager als einem Paradies: Es herrscht ein allgemeines Verbot der Diskussion über Politik, Verstöße dagegen werden streng bestraft. Dazu gibt es Arbeitszwang: Alle sind in den ihnen zugewiesenen Berufen tätig, unter den wachsamen Augen von Aufsehern, den „Syphogranten“: „Die hauptsächliche Aufgabe des Syphogranten ist es, scharf aufzupassen, dass ja kein Mensch faulenzend herumsitzt, sondern dass jeder seinem Beruf fleißig nachgeht.“ Alexander Solschenizyn nimmt darauf explizit in seinem 1973 veröffentlichten Archipel Gulag Bezug: „Arbeitslager sind nichts neues. Thomas Morus hat sie bereits erdacht.“ Eine weitere drakonisch anmutende Politik ist die erzwungene Auswanderung. Sollte eine Stadt über Gebühr wachsen, werden die Bewohner einfach in Kolonien ans Festland verschifft.

Es scheint, als habe Morus seine von Platon entlehnte Gesellschaftsfantasie trotz ihrer Strenge in vollsten Zügen genossen. An seinen Freund Erasmus schreibt er verzückt: „Ich spiegle mir unentwegt vor, meine Utopier hätten mich zu ihrem dauernden Regenten erhoben. Ja, ich sehe mich schon schreiten mit jenem Diadem aus Feldfrüchten gekrönt, Aufmerksamkeit erregend in meiner Franziskanerkutte.“

Utopia ist eines der wirkungsvollsten literarischen Werke der ökonomischen Geschichte. Selbst jene, die es verachten, zieht es am Ende noch in seinen Bann. Karl Marx und Friedrich Engels beispielsweise: Sie sind in ihren Schriften voll Häme gegen jede Form des „utopischen Sozialismus“, der sich durch mangelnde Wissenschaftlichkeit lächerlich mache. Doch am Ende stand gerade auch in ihrer Lehre der ebenso utopische, edle, solidarische Mensch.71 Tatsächlich gebar die gelebte Form des realen Sozialismus von der Sowjetunion bis China und Kambodscha gleich mehrere erschreckende Parallelen zu Utopia: Gemeinwirtschaft und kollektivistische Organisation, Abgrenzung gegen andere Staatsformen, Zwangsumsiedelungen, Zensur, Bestrafung abweichender Individuen, Einheitskleidung.

Selbst die Fantasien von Morus über die goldenen Nachttöpfe haben Eingang in die Glücksverheißungen der Architekten der Russischen Revolution gefunden. Wie heißt es doch bei Lenin: „Wenn wir gesiegt haben, dann werden wir, glaube ich, in den Straßen der größten Städte der Welt öffentliche Bedürfnisanstalten aus Gold bauen.“

Damit sind wir eigentlich schon mitten in der Betrachtung der wichtigsten idealistischen Modelle von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ihre Erfinder wollen ihre Spielarten von „Utopia“ ab dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert realisieren. Dass sich die Träume des Thomas Morus gerade 300 Jahre nach ihrer ersten Publikation so massiv Bahn brechen, hängt aber mit einer Umwälzung der Gesellschaft zusammen, die keinen Stein der alten Ordnung auf dem anderen lässt: der industriellen Revolution.

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