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Aglauros, Mercur und Herse
ОглавлениеVon hier hatte sich auf seinem Flügelpaar der stabtragende Gott emporgeschwungen, und im Fluge blickte er auf die Felder von Munychia hinab, auf das Land, das der Minerva lieb ist, [710] und auf die Büsche des gepflegten Lyceum. An jenem Tage trugen gerade, wie es dort Brauch ist, keusche Jungfrauen die heiligen Geräte in bekränzten Körben auf dem Scheitel zur festlich geschmückten Burg der Pallas. Während sie von dort zurückkommen, erblickt sie der geflügelte Gott [715] und fliegt nicht mehr geradeaus weiter, sondern zieht einen Kreis am Himmel. Wie wenn der räuberische Vogel, der Weih, geopferte Eingeweide erspäht hat und, solange er noch scheu ist und die Opferdiener sich dicht um das Heilige drängen, rundherum schwebt und es nicht über sich bringt, sich weiter zu entfernen, und gierig das Erhoffte auf flatternden Schwingen umfliegt, [720] so krümmt der Cyllener über der Burg von Athen begehrlich seine Flugbahn und kreist unablässig an Ort und Stelle. Wie der Morgenstern die übrigen Sterne und wie die goldene Phoebe den Morgenstern überstrahlt, so viel herrlicher als alle übrigen Jungfrauen schritt Herse einher. [725] Sie war der Stolz des Festzugs und ihrer Gefährtinnen. Von ihrer Schönheit war Iuppiters Sohn gebannt, und während er im Äther schwebte, entbrannte er in Liebe: nicht anders, als wenn eine balearische Schleuder eine Bleikugel wirft; sie fliegt, erglüht im Fluge und findet das Feuer, das sie nicht hatte, unter den Wolken. [730] Er kehrt um, verläßt den Himmel und trachtet nach Irdischem. Nicht verleugnet er seine Gestalt; so stolz ist er auf sie. Zwar ist sie in Ordnung, doch hilft er ihr noch durch Pflege auf, streicht sich das Haar zurecht, legt den Mantel richtig in Falten, daß er falle, wie es sich gehört, daß der Besatz und die ganze Goldstickerei zur Geltung komme, [735] daß der Stab in seiner rechten Hand, mit dem er den Schlaf herbeizwingt und fernhält, schön blank sei und daß die Flügelschuhe an sauberen Füßen glänzen.
Der verborgene Teil des Hauses hatte drei Gemächer, die Elfenbein und Schildpatt schmückten. Davon gehörte dir, Pandrosos, das rechte, Aglauros das linke, das mittlere besaß Herse. [740] Die Bewohnerin der linken Kammer bemerkte als erste Mercurs Kommen und wagte den Gott zu fragen, wie er heiße und warum er komme. Er entgegnete ihr: »Ich bin der Enkel des Atlas und der Pleione und trage Worte, die mein Vater mir aufträgt, durch die Lüfte; mein Vater ist Iuppiter selbst. [745] Und ich will keine Ausreden ersinnen: Sei du nur bitte deiner Schwester treu ergeben und sei bereit, die Tante meiner Nachkommenschaft zu heißen! Herse ist das Ziel meiner Fahrt; ich bitte dich, steh mir in meiner Liebe bei!«
Ihn blickt Aglauros mit denselben Augen an, mit denen sie vor kurzem das Geheimnis der blonden Minerva gesehen hatte. [750] Und sie verlangt schweres Gold als Lohn für ihren Dienst; vorerst nötigt sie ihn, das Haus zu verlassen. Ihr wendet die kriegerische Göttin das Auge mit finsterem Blick zu. Dabei seufzte sie so tief und heftig, daß sie zugleich die Brust [755] und die Ägide erschütterte, die ihr die tapfere Brust umschloß. Es fällt ihr ein, daß Aglauros ihr Geheimnis mit unheiliger Hand aufdeckte, als sie entgegen der Vereinbarung das ohne Mutter entstandene Kind des Gottes von Lemnos sah; jetzt würde sie obendrein einem Gotte und zugleich ihrer Schwester lieb sein und auch noch reich, wenn sie das Gold empfing, das sie in ihrer Habgier gefordert hatte.
[760] Alsbald macht Minerva sich auf zum Hause der Mißgunst, das von schwarzem Geifer starrt. Ihr Heim ist an der tiefsten Stelle eines Tales versteckt. Kein Sonnenstrahl findet dorthin den Weg, kein Wind bläst hindurch. Finster ist’s und voll lähmenden Frostes, nie brennt dort ein Feuer, doch Nebelschwaden brauen stets in reicher Fülle. [765] Hier angekommen, bleibt die Heldenjungfrau, die sonst im Kriege Furcht verbreitet, vor dem Hause stehen – denn die Weltordnung verbietet ihr, unter das Dach zu treten –, und sie stößt mit der Lanzenspitze an die Türpfosten. Von dem Schlag sprangen die Türflügel auf. Drinnen sieht sie die Mißgunst Vipernfleisch essen – das gibt ihrem Laster Nahrung. [770] Von dem Anblick muß Minerva die Augen abwenden. Jene aber erhebt sich schwerfällig vom Boden, läßt die halbverzehrten Schlangenleiber liegen und geht mit trägem Schritt einher. Kaum hatte sie die Göttin im Schmuck ihrer Schönheit und ihrer Waffen gesehen, seufzte sie auf und verzog mit tiefem Stöhnen die Miene. [775] Bleich ist ihr Gesicht, mager der ganze Leib, der Blick in keiner Richtung gerade, die Zähne sind dunkel vor Fäulnis, die Brust ist grünlich von Galle, die Zunge von Gift unterlaufen. Lachen liegt ihr fern, außer schadenfrohem Gelächter beim Anblick von Schmerzen. Nie kommt sie in den Genuß des Schlafes, da aufregende Sorgen sie wachhalten; [780] vielmehr sieht sie nur die ihr unwillkommenen Erfolge der Menschen und verzehrt sich bei deren Anblick. So zerfleischt sie zugleich andere und sich selbst und ist ihre eigene Strafe. Trotz allem Abscheu redet Tritonia sie kurz mit solchen Worten an: »Vergifte mit deinem Geifer eine der Töchter des Cecrops. [785] So muß es sein. Es ist Aglauros.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, flüchtete sie und stieß sich mit der Lanze von der Erde ab.
Jene sah der forteilenden Göttin mit schiefem Blick nach, murrte ein wenig, und es tat ihr weh, daß Minerva Erfolg haben würde. Dann nimmt sie den Stab, [790] den dichte Dornenranken umgaben. Von schwarzen Wolken bedeckt, verwüstet sie auf ihrem Wege überall die blühenden Lande, verbrennt das Gras, rupft die Mohnköpfe ab und vergiftet Völker, Städte und Häuser mit ihrem Anhauch. Endlich erblickt sie die Burg der Tritonia, [795] reich gesegnet mit Begabungen und mit Schätzen und blühend in festlichem Frieden. Kaum kann sie die Tränen zurückhalten, weil sie nichts Beweinenswertes sieht. Doch nachdem sie die Kammer der Cecropstochter betreten hat, führt sie den Befehl aus, berührt ihr die Brust mit ihrer rostgefärbten Hand, erfüllt ihr das Herz mit hakigen Dornen, [800] haucht ihr schädlichen Geifer ein und verstreut in ihrem Gebein und mitten in der Lunge pechschwarzes Gift. Um sie die Ursachen des Übels nicht weit suchen zu lassen, stellt sie ihr die Schwester vor Augen, ihre glückliche Ehe und den Gott in all seiner Schönheit. [805] Alles läßt sie groß erscheinen. Das erregt die Cecropstochter; darum nagt verborgener Kummer an ihr, darum seufzt sie voll Sorge Tag und Nacht. So schwindet die Ärmste in langsamem Siechtum dahin, wie Eis, an dem die noch unbeständige Sonne zehrt. Nicht sanfter versengt Herses Glück ihr Herz, [810] als wenn man an dorniges Gras Feuer legt; keine Flammen schlagen hervor, doch leise schwelende Glut verbrennt es. Oft wollte sie sterben, um nichts Derartiges sehen zu müssen, oft wollte sie es wie ein Verbrechen dem strengen Vater erzählen; schließlich setzte sie sich auf die Schwelle, dem ankommenden Gott entgegen, [815] um ihn auszusperren. Als er ihr mit schmeichelnden Bitten und gar sanften Worten zuredete, sprach sie: »Hör auf; ich will mich von hier erst fortbewegen, wenn du vertrieben bist.« – »Bei diesem Vertrag soll es bleiben«, sprach der flinke Cyllener. Er öffnete die Türflügel mit seinem himmlischen Stab. [820] Aglauros versucht aufzustehen, kann aber die Körperteile, die man beim Sitzen abbiegt, vor lauter träger Schwere nicht mehr bewegen. Sie ringt zwar darum, sich mit aufgerichtetem Rumpf zu erheben, aber das Kniegelenk ist steif, Kälte schleicht durch die Zehennägel, die Adern verlieren ihr Blut und erbleichen. [825] Und wie der Krebs, das unheilbare Übel, im Körper immer weiter kriecht und bisher unangegriffene Teile in die Zerstörung einbezieht, so kam tödlicher Winter allmählich in die Brust, verschloß die lebenswichtigen Bahnen und die Atemwege. Sie versuchte nicht zu sprechen, und hätte sie es versucht, [830] so hätte ihre Stimme keinen Weg mehr gefunden. Schon hatte der Stein den Hals erreicht, der Mund war hart geworden, und sie saß als lebloses Denkmal da. Der Stein war nicht weiß; die Seele hatte auf ihn abgefärbt.