Читать книгу Der Kampf ums Paradies - Paul M. Cobb - Страница 10
Der Islam und die Völker des christlichen Europas
ОглавлениеWie Idrisis Karte zeigt, waren muslimische Autoren des Mittelalters relativ gut über Europa informiert (etwa im Vergleich mit China und Afrika jenseits der Sahara); eine detailliertere Kenntnis von den Völkern, die dort lebten, hielt man jedoch nicht für wichtig.4
Die Umstände, unter denen sich Muslime und christliche Europäer begegneten, waren einem Interesse, mehr übereinander zu erfahren, nicht eben förderlich. Die frühesten muslimischen Interaktionen mit Europäern waren militärischer Natur, da muslimische Streitkräfte den größten Teil von Spanien und Portugal eroberten und im frühen 8. Jahrhundert bis weit nach Südfrankreich vordrangen. Schließlich gelang es ihnen mit der Unterstützung von Piraten und Räubern, in den französischen Pyrenäen Fuß zu fassen, etwa durch die kurzzeitige Eroberung von Narbonne (719–59) und, im frühen 10. Jahrhundert, durch den Stützpunkt in Fraxinetum am Golf von Saint-Tropez, von wo aus Muslime Plünderungszüge in die Alpen unternahmen. Das waren jedoch kleine militärische Stellungen, bewohnt von Gruppen, die hauptsächlich auf Raubzüge und Eroberungen aus waren, nicht auf Ethnografie oder Beziehungen zwischen unterschiedlichen Glaubensrichtungen.
Wenn andererseits überhaupt jemand eine genauere Ahnung von den Franken hatte, waren das die Kaufleute. Mitte des 9. Jahrhunderts lieferte der in Persien geborene Geograf Ibn Khurradadhbih eine der frühesten muslimischen Darstellungen von Europa, das er Urufa nannte. Seine kaufmännischen Interessen in der Region treten klar zutage: Er stellt fest, aus diesem Erdteil kämen diverse rare Güter, etwa slawische, griechische, fränkische und lombardische Sklaven, Parfüm, Mastix, Korallen und andere exotische und gesuchte Waren, teils importiert von jüdischen Kaufleuten, die, wie er berichtet, „zu Land und zur See von Westen nach Osten und von Osten nach Westen reisen“. Mit der Zeit identifizierten Muslime unterschiedliche ethnische Gruppen, die den europäischen Kontinent bevölkerten, so etwa, unter anderen, Galizier und Basken in al-Andalus sowie Slawen, Magyaren und Bulgaren im Osten. Im Norden gab es Russen (Rus) und die Wikinger, die als erschreckend heidnische „Feueranbeter“ beschrieben und als Madschus (zoroastrische und andere nichtchristliche Magier) bezeichnet werden. Im Westen traf man auf Lombarden und vor allem Franken, die „fernsten der Feinde von al-Andalus“, wie sie ein früher muslimischer Historiker nannte. Der Name Franken (arabisch Ifrandsch oder Firandsch) wurde bald zum Überbegriff für alle christlichen Völker des kontinentalen Europas und der britischen Inseln, ebenso wie christliche Kommentatoren Muslime unterschiedlichster Herkunft schlicht als Sarazenen bezeichneten. Zur Zeit der Kreuzzüge betrachteten sich diese Franken als unterschiedliche Völker, als Deutsche, Normannen, Provençalen und so weiter, und dem schlossen sich schließlich auch muslimische Beobachter an, indem sie von Engländern (Inkitar), Deutschen (Alman), Venezianern (Banadiqa) und anderen sprachen.
Firandscha, das Land der Franken, war nur ein kleiner Teil des Hauses des Krieges, aber mit einigen herausragenden Kennzeichen. Eines davon war, wie wir an den islamischen Karten gesehen haben, seine Ferne. (Man sollte der Tatsache, dass muslimische Geografen Europa am Rand ihrer „Welt“ situierten, nicht zu viel Bedeutung beimessen: Auch auf den „Mappae mundi“ der europäischen Kollegen war nicht Europa, sondern Jerusalem der buchstäbliche Nabel der Welt, das heilsgeschichtliche Zentrum). In der Terminologie eher wissenschaftlicher muslimischer Geografen umfasste das Land der Franken Teile des fünften und sechsten der sieben Klimata – weitab vom bevorzugten, gemäßigten vierten Klima, dem Haus des Islams. Muslimische Gelehrte glaubten, die Ansiedlung in einem bestimmten Klima sei Schicksal und beeinflusse den Charakter der Menschen. Als Bewohner nördlicher Klimazonen entstammten die Franken ihrer Ansicht nach einer Region nahezu durchgehender Dunkelheit und Kälte. Masʿudi, ein Schriftgelehrter des 10. Jahrhunderts aus Bagdad, beschrieb die Bewohner dieser nördlichen Klimazonen als Menschen, „für die die Sonne weit vom Zenit entfernt ist und die in den Norden vordringen, wie die Slawen, die Franken und die Nationen, die ihnen benachbart sind“. Es war ein trostloser Teil der Welt: „Die Kraft der Sonne ist schwach bei ihnen, weil sie so fern ist; Kälte und Nässe herrschen in ihren Gegenden vor, und Schnee und Eis folgen endlos aufeinander.“ Gott habe die angenehmste Klimazone für die zivilisierten Völker des Hauses des Islams auserwählt. Das Klima bei den Franken, fährt Masʿudi fort, sorge dafür, dass sie zu Unvernunft und Dummheit neigten und im Allgemeinen begriffsstutzig, phlegmatisch und beleibt seien. Aufgrund ihrer eisigen Heimat seien sie blass und blond. Andere muslimische Autoren griffen diese Schlussfolgerungen auf; nicht wenige zählten die Einwohner dieser Regionen eher zu den Tieren als zu den menschlichen Wesen.
Unter derartigen klimatischen Bedingungen fehlte es der fränkischen Religion zwangsläufig an Stabilität. Masʿudi stellt fest, religiöser Fanatismus sei für alle Bewohner des westlichen Weltquadranten, darunter auch die Franken, ebenso charakteristisch wie ein Hang zur Häresie (und, seltsamerweise, die Fähigkeit, Geheimnisse zu wahren). Diese Charakterzüge betrachtete man als weiblich, da der Westen von weiblichen Planeten und dem Mond geprägt sei. Im Osten, dem Reich der Sonne, zeichneten sich die Völker durch maskuline Wesenszüge wie langes Leben, Gedächtnis, kluge Herrschaft, Wissenschaft und – interessanterweise – Eitelkeit aus.5 Kurz gesagt wurden die Franken in al-Bakris Bericht über das lateinische Christentum Opfer der klassischen Strategie, dass ein Volk sich selbst im Unterschied zu einem anderen definiert, dem alle Eigenschaften zugeschrieben werden, die das genaue Gegenteil der Eigenheiten sind, die Muslime für sich selbst reklamierten. Ihre geografische Lage schien nur zu unterstreichen, dass die Franken zur Barbarei neigten; lediglich ihre offenbarte Religion und, wie manche meinten, ihre Staatskunst bewahrten sie vor dem Stigma tatsächlicher Barbarei. Trotzdem waren sie ein kaltes und umnachtetes Volk, lebten weit entfernt und dienten allenfalls als Folie muslimischer Größe.
In diesem Sinne stellten die Franken für muslimische Beobachter eine doppelte Gefahr dar. Muslime waren seit Anbeginn der islamischen Geschichte mit Christen vertraut, aber die Christen der islamischen Welt hatten sich damit abgefunden, Untertanen eines islamischen Herrschers zu sein. Im Gegenzug gestand das islamische Recht ihnen den Status von dhimmis zu, einer „geschützten“ (wenn auch zweitrangigen) Minderheit, und so waren sie keine große Bedrohung. Ebenso hatten Muslime lange Erfahrung mit nichtmuslimischen Kriegern von den Rändern ihres Imperiums, etwa Berbern und Türken, aber diese Völker waren schließlich zur Erkenntnis gelangt und konvertiert und hatten sich der islamischen Zivilisation willig angepasst. Anders die starrköpfigen Bewohner des finsteren Firandscha: Als Christen und Außenseiter zugleich waren die Franken der wahren Religion und echten Zivilisation so nahegekommen und lehnten doch beide mit einer hartnäckigen Entschlossenheit ab, die muslimische Beobachter sowohl verblüffte als auch entmutigte.
In dieser Mischung aus Spekulation und Halbwahrheit, die frühe Muslime über die Franken besaßen, steckten jedoch auch einigermaßen akkurate Informationen. Einige frühe muslimische Beobachter stellten immerhin fest, sie seien kühne Krieger und Feinde sowohl der Slawen als auch der Muslime – ein Eindruck, der zweifellos durch Geschichten von den Schlachtfeldern in al-Andalus und Frankreich bestärkt wurde. Selbst Masʿudi verfügte dank einer fränkischen Quelle über eine ziemlich exakte Liste der Frankenkönige. Außerdem hielt er fest, die Hauptstadt ihrer unermesslichen Länder sei eine Stadt namens Paris (später sagt er, es sei Rom), und behauptete, alle Franken sprächen dieselbe Sprache und gehorchten einem König. Ein aus Persien stammender Zeitgenosse namens al-Istakhri kam der Sache näher: „Ihre Sprache ist unterschiedlich, obwohl sie eine Religion und ein Königreich haben, ebenso wie es im Königreich des Islam viele Sprachen und einen Herrscher gibt.“ Mitte des 10. Jahrhunderts reiste der Andalusier Ibrahim ibn Yaʿqub durch Europa und hinterließ detaillierte Berichte über die Länder, die er besuchte, vom slawischen Osten bis zum fränkischen Westen.6 In Westeuropa fielen ihm unter anderem die grünen Felder von Bordeaux auf, der schmackhafte Lachs aus Rouen, die Torfmoore um Utrecht, das ehrwürdige Kloster Fulda, heidnische Feiern in Schleswig, die Handelsbräuche in Augsburg und sogar ein wenig Lokalgeschichte, die er in Süditalien aufschnappte. Sogar für Irland nahm sich Ibrahim Zeit, aber sein Bericht über den irischen Walfang, so detailliert er ist, wird die Meinung seiner Mitbürger und Kollegen über diese Gegend kaum geändert haben.
Erschrocken zeigt sich Ibrahim über die allgemeine Schmutzigkeit der Franken, denen er begegnet war: „Ohne Rücksicht auf jeglichen Anstand nehmen sie höchstens ein oder zwei Mal im Jahr ein Bad, in kaltem Wasser. Nie waschen sie ihre Kleidung, die sie tragen, bis sie in Lumpen fällt.“ Er war überrascht, dass sie ihre Bärte abrasierten und dann einfach „in roher, zottiger Manier“ nachwachsen ließen. „Einer der Ihren wurde einst diesbezüglich befragt. Er sagte: ‚Haar ist schlicht überflüssig. Wenn ihr Leute es von eurer Scham entfernt, wieso sollten wir es dann in unseren Gesichtern stehen lassen?‘“ Insgesamt zeigt er sich von seinem Aufenthalt unter diesen bunt schillernden Ureinwohnern durchaus beeindruckt, insbesondere von ihrem „unermesslichen Königreich“. Trotz kaltem Wetter und harschem Klima sei die Region „reich an Korn, Obst und anderen Früchten, Wasserläufen, Pflanzen, Herden, Bäumen, Honig und Jagdwild jeder Art“. Es gebe Silberminen und schärfere Schwerter als in Indien. Die Franken gehorchten „einem starken und tapferen König, gestützt auf ein beträchtliches Heer“. Die Soldaten, warnte er, seien so kühn, dass sie „die Flucht niemals dem Tode vorziehen würden“.
Unter all den Stereotypen finden sich hier Anhaltspunkte, anhand deren Muslime ein Bild der Franken hätten entwerfen können, das sich von dem früher gezeichneten „klimatischen“ unterscheidet. Dass sie dies nicht taten, sondern die folgenden fünf Jahrhunderte weiterhin das Motiv der fränkischen Barbarei pflegten, ebenso wie die Lateiner an der Barbarei der „heidnischen Sarazenen“ festhielten, ist eine der am wenigsten greifbaren, aber darum nicht weniger verhängnisvollen, Konsequenzen jener Kriege im Zeichen des Kreuzes.