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Die Ursprünge der fränkischen Aggression

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Der erste muslimische Autor, der die Kreuzzüge erwähnt, betont ausdrücklich den Zusammenhang mit früheren fränkischen Aktivitäten anderswo im Mittelmeerraum, angefangen mit Sizilien. Im frühen 12. Jahrhundert stellte der syrische Prediger ʿAli ibn Tahir al-Sulami das Buch des Dschihad zusammen und predigte daraus in Damaskus und Umgebung, als sich der aufgewirbelte Staub des Ersten Kreuzzugs gerade legte und die Franken ihre Eroberungen in Syrien und Palästina festigten. Al-Sulami rief die Muslime der Region auf, sich gegen die Eindringlinge zu verbünden, und verglich die frühen, glorreichen Jahrhunderte der islamischen Geschichte mit der düsteren Lage seiner Zeit:

Nach dem [Tod des] Propheten (Gottes Segen und Friede sei mit ihm) waren sich die vier Kalifen und alle Gefährten einig, dass der Dschihad einem jeden obliege. Nicht einer von ihnen vernachlässigte ihn während seines Kalifats, und jene, die später zu Kalifen erkoren wurden oder ihre eigene Dynastie regierten, folgten ihnen darin, einer nach dem anderen. Jedes Jahr unternahm der Herrscher persönlich einen Feldzug oder entsandte jemanden an seiner Stelle. Und so war es Brauch, bis einer der Kalifen aufgrund seiner Schwäche und Unfähigkeit [diese Pflicht] vernachlässigte.2

Der Geist des Dschihad im Goldenen Zeitalter der frühen Kalifen scheint hier unanfechtbar. Dann geht etwas schief, und al-Sulami beschuldigt einen bestimmten Kalifen – wir wissen nicht, welchen –, die Pflicht zum Dschihad aus den Augen verloren zu haben. Da viele der früheren Abbasiden-Kalifen legendäre Dschihadkrieger waren, kann er nur einen späteren Abbasiden-Kalifen meinen. Als al-Sulami seine Anklagen verbreitete, saß somit noch immer ein Nachfahre dieses namenlosen Kalifen auf dem Thron in Bagdad. Seine kleine Geschichtsstunde war also ein Stück Zeitkritik. Er war nicht der erste Prediger, der den Geist des Dschihad früherer Zeiten mit dem zeitgenössischer Politiker verglich, um deren Defizite aufzuzeigen, und auch nicht der letzte. Er sah darin das Zeichen eines umfassenderen göttlichen Willens. Die „Preisgabe des Dschihad“ habe Gott veranlasst, die Muslime einander zu entfremden, um „Feindschaft und Hass zwischen ihnen zu stiften und so ihre Gegner zu ermutigen, ihre Länder an sich zu reißen, und ihre Herzen mit Kummer zu erfüllen“. Der Feind habe Syrien angegriffen, weil er Nachricht erhalten habe, „Uneinigkeit zwischen seinen Herren und die Ignoranz seiner Herrscher“ hätten es verwundbar gemacht. „Und deshalb wuchs ihr Ehrgeiz und erstreckte sich auf alles in ihrer Reichweite. Sie halten nicht inne und kämpfen stetig im Dschihad gegen die Muslime.“

In den Augen von al-Sulami, der von Damaskus aus auf die islamische Geschichte zurückblickte, betrafen die Ereignisse des Ersten Kreuzzugs nicht nur Syrien und Palästina, sondern das gesamte Haus des Islams. Die fränkischen Invasionen waren eine von Gott gesandte Prüfung, eine Strafe für alle Muslime, weil sie die Pflicht zum Dschihad nicht mehr achteten. Der unmittelbare Grund war die Schwäche und Spaltung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft, die sowohl spirituell als auch politisch zersplittert war. Zwietracht und innere Querelen machten die islamischen Länder zur leichten Beute für die Franken, die an ihren nördlichen Grenzen lebten, und so fielen sie darüber her und stürzten sich zuerst auf Sizilien, dann al-Andalus, später Syrien und Palästina. Was das eigentliche „Herzensziel“ des levantinischen Flügels der fränkischen Invasionen war, wusste dieser früheste muslimische Chronist der Kreuzzüge ganz genau: Jerusalem. Auch was einen Heiligen Krieg ausmachte, war ihm durchaus klar, und so beschrieb er die fränkischen Feldzüge gegen die Welt des Islams nicht einfach als Angriffe, sondern als Dschihad und unterstellte den – samt und sonders ungläubigen – Feinden somit ostentativ, eifrig jener spirituellen Pflicht nachzugehen, die seine muslimischen Glaubensgenossen längst vernachlässigten.

Die meisten muslimischen Quellen des Mittelalters versuchen gar nicht erst, die Motive der fränkischen Kreuzfahrer zu verstehen, sondern schreiben sie der Kampflust und Gier zu, die ihnen natürlicherweise angeboren seien.3 Die Quellen, die näher auf die Frage eingehen, teilen zumeist al-Sulamis umfassendere Sichtweise und betonen den breiteren mediterranen Hintergrund der fränkischen Expansion. So etwa der im 12. Jahrhundert lebende Historiker al-ʿAzimi, dessen Geschichte von Aleppo das Vordringen der Franken zumindest indirekt mit ihren früheren Eroberungen in Spanien und Nordafrika (sowie Sizilien) in Zusammenhang bringt.4 Und der Chronist Ibn al-Athir, der mit seinem ganz unbescheiden Die vollständige Geschichte betitelten Werk im 13. Jahrhundert eine mehr oder weniger definitive Darstellung der islamischen Historie vorlegte, die das gesamte Spätmittelalter über in Gebrauch blieb, bescheinigt den Franken die Gründung einer dawla, meist übersetzt als „Staat“ beziehungsweise „Macht“ mit der zusätzlichen Bedeutung eines gewissen Maßes an göttlicher Planung; der Begriff legt nahe, die Franken seien (ob im Guten oder Schlechten) vom Schicksal dazu bestimmt, sich als Könige zu versuchen, wie das die Abbasiden, Fatimiden und alle anderen getan hatten. In seinen Augen umfasst die fränkische Dawla Spanien, Sizilien, Nordafrika und Syrien; er verweist in seinem Werk auf die relevanten Schritte: Nach der Einnahme von Toledo und anderen Städten in al-Andalus vollendeten sie 1091 die Eroberung von Sizilien, die 1061 begonnen hatte; danach „stiegen sie herab an die Küsten von Nordafrika und eroberten einen Teil, der ihnen wieder abgenommen wurde. Später nahmen sie andere Teile ein, wie ihr noch sehen werdet. Als man das Jahr 1096 schrieb, drangen sie in Syrien ein.“5

Dann erzählt Ibn al-Athir eine Anekdote, die zu erläutern sucht, weshalb die Franken ausgerechnet Syrien als ihr Endziel wählten, und stellt dabei fränkische Geopolitik über andere Motive. In seiner Darstellung ist es Roger, der fränkische (d.h. normannische) König von Sizilien, der einen seiner Verwandten zur Invasion in Syrien überredet, weil dieser Verwandte zunächst darauf aus war, Nordafrika zu erobern, das jedoch für Rogers Geschmack unangenehm nahe bei Sizilien lag. Als seine Berater einwandten, Muslime in Nordafrika zu bekämpfen könne für das Christentum segensreich sein, gab Roger seiner Geringschätzung Ausdruck, indem er ein Bein hob und furzte. „Bei der Wahrheit meiner Religion“, sagte er, „das ist segensreicher als was ihr zu sagen habt!“ Offenbar erklärte Roger dann, eine Invasion in Nordafrika, ob sie gelinge oder nicht, werde teuer sein und mit Sicherheit den dortigen muslimischen Herrscher verprellen, mit dem er gute Beziehungen pflege. „Das Land Nordafrika kann auf uns warten. Wenn wir die nötige Kraft dazu aufbringen, werden wir es uns nehmen“, schloss er und drängte seinen Verwandten nach Osten, um „in den Dschihad gegen die Muslime“ zu ziehen, Jerusalem zu erobern und „es aus ihren Händen zu befreien“.6

Trotz gelegentlicher Anspielungen auf die christliche Identität der Franken (wie oben) befasst sich keine muslimische Quelle in irgendeiner Weise detailliert mit den religiösen Motiven der Franken. Ungeachtet aktueller Debatten über die Verbindungen zwischen Pilgerfahrten, Reform des Papsttums, gerechten und heiligen Kriegen unter Chronisten der Kreuzzüge aus europäischer Perspektive waren solche Themen für muslimische Autoren nicht von Bedeutung. Die Verknüpfung von christlicher Frömmigkeit und militärischer Kultur, die in der Kreuzzugsidee von Papst Urban II. ihren Höhepunkt fand, spielt bei ihren Versuchen, die Ursprünge der fränkischen Aggression zu ergründen, keine Rolle. Auch die päpstliche Beteiligung oder Führung in den Feldzügen findet in keiner muslimischen Quelle Erwähnung. Die Franken waren immer schon aggressive Halbbarbaren gewesen. Die Feinheiten der Frage, wie sie diese Aggression rechtfertigten, waren daher nicht von Interesse. Was die Angriffe der Franken im mittleren 11. Jahrhundert kennzeichnete, war nicht ihre Ideologie, sondern dass sie häufiger, bedrohlicher und – zum ersten Mal in der gesamten muslimischen Historie – erfolgreich waren. Im Christentum prägte das Konzept des Heiligen Krieges ganz klar die fränkischen Vorstöße des 11. Jahrhunderts, aber für die islamische Welt änderte das nichts an dem Schicksal, das Muslime in Sizilien, Spanien und dem Orient durch fränkische Schwerter erlitten.

Einige muslimische Autoren erwähnen andere Motive, die hinter dem fränkischen Interesse am Nahen Osten stehen mochten, aber sie waren in der Minderheit.7 Al-ʿAzimi etwa deutet an, es könne sich dabei um eine Reaktion darauf handeln, dass Muslime fränkische Pilger daran hinderten, nach Jerusalem zu gelangen. Genau das soll einer der Beweggründe gewesen sein, die Papst Urban II. in seinem Aufruf zum Ersten Kreuzzug anführte. Es ist sicher wahr, dass christliche Jerusalempilger auf dem Weg nach Palästina mancherlei Mühsal erdulden mussten. Ein häufiges Problem waren bereits in vorislamischer Zeit Überfälle durch Nomaden und Banditen. Der berühmteste solche Fall ist die sogenannte „große deutsche Pilgerfahrt“ von 1064/65, bei der Banditen nur ein paar Tagesritte vor Jerusalem eine große Gruppe von Wallfahrern angriffen und ausraubten, wobei viele getötet oder gefangen genommen wurde. Hätte die muslimische Obrigkeit nicht umgehend eingegriffen, wären die deutschen Reisenden wohl samt und sonders ermordet worden. Der fatimidische Statthalter in Palästina persönlich vertrieb die Räuber und ließ die Pilger nach Ramla bringen, wo sie, wie der deutsche Geschichtsschreiber, der das Ereignis überlieferte, berichtet, „auf Einladung des Statthalters und der Stadtbewohner zwei Wochen lang verweilten“ und dann die heilige Stadt aufsuchten.8 Es ist sehr wahrscheinlich, dass al-ʿAzimi, der sein Werk lange nach dem Erfolg des Ersten Kreuzzugs verfasste, lediglich übernahm, was zu seiner Zeit längst fränkisches Allgemeingut war. Wie auch immer – wenn es eine vorherrschende muslimische Argumentation zur Begründung der Kreuzzüge gibt, dann jene, der zufolge der fränkische Dschihad gegen die Muslime in den 1060er-Jahren seinen Anfang nahm, an vielen Fronten im Mittelmeerraum geführt wurde und dass sein Erfolg einzig und allein der Spaltung der muslimischen Gemeinschaft anzulasten ist.

Der Kampf ums Paradies

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