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Kapitel 1 Das Haus des Krieges und das Haus des Islams

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Möglicherweise hatte sich Harun ibn Yahya verirrt oder war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort; jedenfalls hätte er womöglich nicht die geringste Spur in den historischen Aufzeichnungen hinterlassen, wäre er nicht irgendwann gegen Ende des 9. Jahrhunderts von der griechischen Marine vor der Küste von Palästina gefangen genommen worden. Offenbar war er Muslim; Indizien zufolge könnte er aber auch ein östlicher Christ gewesen sein. Seine Begeisterung für Zahlen lässt auf kaufmännisches Denken schließen; möglicherweise war er Forscher oder Spion, vielleicht auch lediglich ein Bürokrat. Was wir wissen, ist, dass er seine Gefangennahme durch byzantinische Griechen überlebte und seine Geschichte erzählte. Und er verfasste die erste arabischsprachige Beschreibung von Teilen Europas aus erster Hand.1

Anders als die meisten solchen Gefangenen kehrte Harun nach seiner Freilassung nicht sofort in seine Heimat zurück, die manche Muslime Dar al-Islam nannten, „Haus des Islams“, sondern beschloss (vielleicht auch gezwungenermaßen), seine Zeit in den Gefilden der Ungläubigen zuzubringen, der Dar al-Harb oder dem „Haus des Krieges“. Haruns byzantinische Kidnapper hatten ihn mit anderen Gefangenen nach Konstantinopel (in das heutige Istanbul) gebracht, die Hauptstadt des Byzantinischen Reichs, des griechisch-christlichen Nachbarn und traditionellen Feindes der Dar al-Islam. Nachdem er freigekommen war, erkundete er ausführlich, wenn auch bisweilen blauäugig, die Stadt des Gegners, ihre Größe, ihren Wohlstand, die erstaunlichen Monumente, den Prunk des Kaiserpalasts sowie Zeremonien und religiöse Bräuche. Dann ging er auf eine Art umgekehrte Kavalierstour und reiste von Konstantinopel aus westwärts über den Balkan, durch Makedonien, vorbei an „einem Dorf, Venedig genannt“ und schließlich nach Rom, das er ähnlich wie zuvor Konstantinopel in einer Mixtur aus Fakten und Legenden beschrieb. So spricht er etwa vom Petersdom als gewaltiger Kirche, die die Gräber der Apostel Petrus und Paulus beherberge. Dann fügt Harun hinzu, zur Kirche gehöre ein hoher Turm mit einer Bleikuppel, die einen bronzenen Vogel trage. Zur Zeit der Olivenernte blase der Wind durch die Statue und erzeuge dabei einen Ruf, der alle Vögel der Umgebung in Scharen in die Stadt locke; jeder einzelne trage eine Olive, wodurch die Kirche bis zum nächsten Jahr mit Öl versorgt sei. Obwohl Harun offenbar nicht weiter als bis nach Rom kam, weiß er von einem Land jenseits der Alpen im Westen zu berichten, in dem das christliche Volk der Franken lebe; noch ferner liege das Land Britannien, das er „das fernste der römischen Territorien“ nennt; „jenseits davon gibt es keine Zivilisation“.

Die Aufmerksamkeit nachfolgender Generationen von arabischen Geografen galt jedoch Haruns Beschreibung der beiden Hauptstädte des Christentums – Konstantinopel und Rom. Seine Aufzeichnungen sind verschollen; wir kennen sie nur aus Zitaten späterer Geografen als Fragmente eines verlorenen Buchs. Mit Byzanz kamen die Muslime schließlich als Rivalen und Nachbarn einigermaßen zurecht. Rom und die Länder des Westens hingegen blieben weitgehend ein Mysterium. Um 1070, nur eine Generation vor dem Ersten Kreuzzug, zitierte ein Geograf aus der Region des heutigen Spanien und Portugal, die damaligen Muslimen unter dem Namen al-Andalus bekannt war und so in seinem Buch auch durchgehend genannt wird, ausgiebig Haruns Beschreibung. Dass dieser andalusische Geograf namens al-Bakri zwei Jahrhunderte nach Haruns Besuch dort immer noch auf dessen alte Darstellung als Quelle zu Rom und seinen Einwohnern vertrauen konnte, legt die Vermutung nahe, dass das Wissen um die Länder und Menschen, die Ursprung und Urheber der Kreuzzüge waren, mittlerweile erstarrt und verkrustet war, und das ist nicht ganz falsch. Die muslimischen Kenntnisse von Europa und seinen Völkern wie auch anderen Teilen der Welt waren eine Mischung aus Fakten und Fantasie. Zum Ende des 11. Jahrhunderts wurden sie jedoch präziser.2

Nunmehr konnte al-Bakri Haruns antiken Bericht um neuere und verlässlichere Informationen ergänzen; wie er sich diese verschaffte, wissen wir jedoch nicht. „Die Stadt Rom“, erzählt al-Bakri, nachdem er ausgiebig Harun zitiert hat (vielleicht als eine Art Aktualisierung), „liegt auf einer Ebene, in einiger Entfernung von Bergen umgeben … Sie misst vierzig Meilen im Umfang und zwölf Meilen im Durchmesser; ein Fluss namens Tiber [Tibrus] fließt durch sie hindurch.“ Nach Aufzählung weiterer trockener topografischer Einzelheiten widmet er sich der Stadt selbst und ihren Bauwerken:

Die Geschicke der Menschen in Rom bestimmt der Papst [al-baba]. Es obliegt jedem christlichen König, wann immer er dem Papst begegnet, sich vor ihm zu Boden zu werfen. Dann küsst er die Füße des Papstes und erhebt nicht den Kopf, bis ihm der Papst aufzustehen befiehlt.

Das antike Rom wurde Roma Vecchia [Ruma Bakiya] genannt, das heißt „alt“. Der Fluss engte die Stadt ein, und so erbaute der Bischof Johannes auf der anderen Seite des Flusstals eine weitere Stadt, weshalb der Fluss nun durch die Stadt fließt … Im Inneren der Stadt Rom steht die Kirche des Heiligen Petrus [kanisat Shanta Patar], in der sich ein Bild von Karl dem Großen [Qarulah] befindet, auf dem der Bart und sämtliche Insignien vergoldet sind. Er steht inmitten einer streng blickenden Menge, auf einem Balken erhoben, wie ein Kruzifix … Alle Wände dieser Kirche bestehen aus gelbem römischem Kupfer, die Säulen und Stützpfeiler stammen aus Jerusalem. Sie ist über die Maßen gelungen und schön … Im Inneren der Kirche gibt es eine Kapelle, die den Aposteln Petrus und Paulus gewidmet ist.

Trotz Irrtümern in einigen Details ist diese Beschreibung von Rom und dem Petersdom einigermaßen zutreffend und nachvollziehbar; offenbar bezieht sich al-Bakri auf Augenzeugen, möglicherweise einen Mönch oder Pilger, der seine spanische Heimat besuchte. Ein verzerrtes, aber dennoch wiedererkennbares Porträt ist auch al-Bakris Anthropologie des lateinischen Christentums, wie es in Rom praktiziert wurde. Da sein Bezugspunkt der Islam mit seinen religiösen Gesetzen und Ritualen ist, kann man Objektivität vielleicht nicht erwarten. Er fährt fort:

Der Sonntag ist den Christen deshalb ein besonderer Tag, weil sie glauben, der Messias sei am Sonntagabend auferstanden und am Sonntagabend nach seiner Begegnung mit den Aposteln zum Himmel aufgefahren. Sie reinigen ihre Verstorbenen nicht und führen auch keine rituellen Waschungen vor dem Gebet durch … Das heilige Abendmahl empfangen sie erst, nachdem sie gesprochen haben: „Dies ist dein (das heißt: des Messias’) Fleisch und Blut, nicht Wein und nicht Brot …“ Nicht einer von ihnen heiratet mehr als eine Frau, noch nimmt er jemals eine zur Konkubine. Wenn sie Ehebruch begeht, kann er sie verkaufen – eine normale Scheidung kennen sie nicht. Frauen erben zwei Anteile, Männer einen …

Im Fasten sind sie nicht sehr konsequent; es muss nicht streng praktiziert werden. Ihnen zufolge geht es darauf zurück, dass der Messias fastete, wie sie behaupten, um sich gegen Satan zu wappnen. Er fastete jedoch vierzig volle Tage, auch die Nächte, so sagen sie zumindest, aber sie selbst fasten nie auch nur einen vollen Tag oder eine volle Nacht … Selbst wenn einer sein ganzes Leben lang nicht betet und keinem Gottesdienst beiwohnt, würde niemand abfällig von ihm sprechen oder ihm einen Vorwurf machen.

Das Buch der Christen – das das komplette Verzeichnis ihrer Rechtsprechung bildet … umfasst nicht mehr als 557 Punkte. Unter diesen sind, trotz ihrer geringen Zahl, einige falsche, die keinen Sinn ergeben und völlig unerklärlich sind, da sie weder in ferner noch in jüngerer Vergangenheit je wirklich vorgekommen sind. Ihre Richtlinien für untadeliges Verhalten gehen nicht auf eine Offenbarung oder die Verkündigungen eines Propheten zurück; vielmehr stammen sie alle von ihren Königen.

An diesem Bericht sind zwei Dinge bemerkenswert: Zum einen ist al-Bakris Bild des lateinischen Christentums, seiner Rituale und Gesetze, bei all seinen Irrtümern ziemlich detailliert. Das ist bei einem Muslim, der sein ganzes Leben in Spanien mit seinen vielen Christen unter muslimischer Herrschaft und nahe den Grenzen der christlichen Welt verbrachte, freilich nicht anders zu erwarten. Zum anderen verrät der Bericht einiges über das Verhältnis zwischen Christentum und Islam. In al-Bakris Augen ist das Christentum dem Islam in jeder Hinsicht unterlegen: Muslime versammeln sich am Freitag, Christen am Sonntag; Muslime sind penibel, was die strenge Einhaltung der Rituale angeht, Christen gleichgültig; für Muslime sind Heirat und Scheidung eine simple Sache – ein ehrlicher Vertrag, von Männern dominiert, nicht das unter Christen übliche monogame emotionale Gerangel; im islamischen Recht können Frauen (im Allgemeinen) halb so viel erben wie Männer, während im Christentum (al-Bakri zufolge) das genaue Gegenteil gilt. Das christliche Fasten ist ein Witz im Vergleich zu der Strenge des Ramadan und dem freiwilligen Fasten frommer Muslime, und ihr „Gesetz“ ist im Gegensatz zum Islam kein umfassendes Regelwerk für ein Leben nach dem Willen Gottes, sondern lediglich eine Sammlung königlicher Erlasse. Man glaubt fast, al-Bakris Mitleid zu spüren.

Haruns und al-Bakris Darstellungen von Rom und dem lateinischen Christentum sind ein guter Ausgangspunkt für eine islamische Geschichte der Kreuzzüge, weil sie genau die Mischung aus zutreffender Information, Missverständnissen und purer Fantasie enthalten, die für mittelalterliche (nicht nur muslimische) Berichte über andere Kulturen typisch ist. Darüber hinaus lieferte diese Mischung einen Großteil des Rohmaterials, auf das spätere Generationen von Muslimen bauten, als sie Motive und Charakter der lateinischen Christen zu begreifen versuchten, die in die islamische Welt eindrangen und sich dort ansiedelten. Gebildete Muslime des Mittelalters waren mit Europa und seinen Völkern einigermaßen vertraut, und auch wenn ihre Informationen nicht immer ganz zutrafen, sahen sie die Christen doch nicht als „wilde“ Höhlenmenschen, wie manche populäre Darstellung der Kreuzzüge behauptet. Dennoch spielten die Völker Europas in der Weltsicht der Muslime eher eine randständige Rolle. Um dies zu verstehen, mag es hilfreich sein, einige Karten anzuschauen.

Der Kampf ums Paradies

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