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Der Durst nach al-Andalus

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Lange bevor in Sizilien und anderen fatimidischen Ländern der Zerfall begann, hatte sich die Einheit des Kalifats auch in al-Andalus aufgelöst, der Domäne der alten Rivalen der Fatimiden, der Umayyadenkalifen von Córdoba. Um das Jahr 1010 war der Bürgerkrieg in vollem Gange. Mit den Einzelheiten der diversen Feldzüge, Staatsstreiche und Gegenputsche, die die umayyadische Politik bis 1031 beherrschten, wollen wir uns nicht belasten. Wo einst ein einziger Umayyadenkalif in Córdoba das politische Leben dominiert und die winzigen christlichen Königreiche im Norden regelmäßig in Bedrängnis gebracht hatte, waren die Umayyaden von Córdoba nun nur noch eine – und oft die kleinste – rivalisierende Partei, umschwirrt von überängstlichen Höflingen, ehrgeizigen Generalen und Splittergruppen des Berberheeres, die alle um ein Stück vom Kuchen rangen. 1031 wurde Hischam III., der letzte Umayyade, der sich Kalif nannte, aus Córdoba vertrieben; er starb wenige Jahre später im Exil, und mit ihm starb die Zukunft seiner Dynastie.23

Ohne die von den Umayyadenkalifen von Córdoba garantierte politische Einheit trat eine Reihe kleinerer Nachfolgestaaten auf den Plan, die wie in Ibn al-Thumnas Sizilien meist auf eine oder zwei Städte und ihre Gebiete konzentriert waren. Auf Arabisch heißt das Herrscherhaus eines solchen regionalen Fürstentums taʾifa – „Schar“ oder „Partei“ –, weshalb die Herrscher auch als „Taifakönige“ bezeichnet werden. Die Geschichte der Taifakönige in al-Andalus unmittelbar nach 1031 ist kompliziert, weil viele dieser Staaten äußerst kurzlebig waren und ihre Grenzen sich ständig verschoben. Eine detaillierte Geschichte sämtlicher Taifas ist für unser Thema nicht von Bedeutung.24 Aus dem anfänglichen Durcheinander kristallisierte sich eine Handvoll größerer, stabiler und einander misstrauisch beäugender muslimischer Königreiche heraus: im Süden Sevilla und Granada, im Westen Badajoz, im Osten Valencia, nicht zu reden von den Balearen vor der Küste; Saragossa im Nordosten grenzte an die christlichen Königreiche in den Ausläufern der Pyrenäen, Toledo stand im Zentrum des Ganzen (Karte 4).


Karte 4 Das mittelalterliche al-Andalus; nach: O. R. Constable (Hrsg.), Medieval Iberia: Readings from Muslim, Christian, and Jewish Sources, 2. Aufl. (Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2012)

Eine derartig zersplitterte politische Landkarte mit all den daraus folgenden Konflikten war sicherlich nicht günstig für die Lebenserwartung der andalusischen Könige. Wie im Italien der Renaissance wirkte sie jedoch höchst förderlich auf die Kultur. Die Taifakönigreiche zogen einen unablässigen Strom von Dichtern, Musikern, Kunsthandwerkern, Philosophen, Theologen und Gelehrten an, da die rivalisierenden Herrscher um den Glanz wetteiferten, den die kulturelle Kreativität ihren Höfen verlieh. Der Theologe, Jurist, Philosoph und Schriftgelehrte Ibn Hazm aus Córdoba ist wohl der bekannteste Repräsentant der Hochkultur der Taifakönigreiche. Der legendär scharfzüngige, unverbrüchliche (wenn auch nostalgische) Loyalist der Umayyaden und große Gelehrte soll um die vierhundert Werke verfasst haben, von denen einige Dutzend überliefert sind; das berühmteste ist Das Halsband der Taube, eine lebhafte, raffinierte Abhandlung über die Kunst des Liebens, die in den letzten Tagen des umayyadischen al-Andalus entstand.25

Ein weiteres Beispiel für die wandernden Universalgelehrten, die in diesem Umfeld aufblüten – und das Desinteresse der kulturellen Elite gegenüber den drohenden Gefahren – ist Saʿid al-Andalusi.26 Der 1029 in Almería geborene Sohn einer prominenten Familie war Philologe, Historiker, Naturphilosoph und muslimischer Richter (Qadi). Sein Vater wurde später hochrangiger Regierungsbeamter in Córdoba, wo Saʿid zur Schule ging. Als Teenager bereiste er al-Andalus, um sich zu bilden, und ließ sich schließlich im „hohen Alter“ von siebzehn Jahren in Toledo nieder. Der dortige Lokalfürst hatte seinen Hof zum beliebten Ziel für Intellektuelle gemacht, etwa Juristen, Religionsgelehrte, Mathematiker, Astronomen, Geometer, Mediziner und Literaten. In Toledo schuf Saʿid Werke auf einer Reihe von Gebieten, beispielsweise Astronomie, Geschichte und vergleichende Religionswissenschaft.

Im Jahr 1070, kurz vor seinem Tod, verfasste er eine elegante Abhandlung mit dem bescheidenen Vorsatz, das gesamte Wissen der Menschheit detailliert zu prüfen und zu kategorisieren (tatsächlich ein recht gängiges Genre der arabischen Literatur; Ibn Hazm lieferte ebenfalls ein solches Werk ab). Dieses Buch von der Bildung der Nationen bietet einen Überblick über die intellektuelle Welt, in der Leute wie Saʿid lebten, das darin enthaltene Erbe der Antike und die breite Palette an Forschungsinteressen seiner Zeitgenossen. Es enthält sogar, aus Gründen der Vollständigkeit, ein Kapitel, das sich den Nationen widmet, die kein Interesse an Bildung haben. Angesichts der damals üblichen klimatischen Interpretation von Kultur überrascht es nicht, dass er die meisten europäischen und afrikanischen Völker aufgrund ihrer Entfernung von den temperierten Klimata den Bereichen von Dunkelheit und Ignoranz zurechnet. Ein Problem waren jedoch die analphabetischen Berber und spanischen Christen („Galizier“, wie er sie nennt), weil sie dem zivilisierten Klima von al-Andalus so nahe waren. Für Saʿid waren das Nationen, bei denen sich Gott besondere Mühe gegeben hatte, um sie trotz ihrer günstigen geografischen Lage mit „Despotismus, Ignoranz, Feindseligkeit und Gewalttätigkeit“ auszustatten.

Was Saʿid nicht ahnen konnte, ist, dass genau diese beiden Gruppen – spanische Christen und Berber – Toledo und den Rest seines geliebten al-Andalus in den Jahrzehnten nach seinem Tod vollkommen verwandeln würden. So wie die zersplitterte politische Landschaft von al-Andalus ehrgeizigen Dichtern und Gelehrten gestattete, die Rivalität wetteifernder königlicher Patrone zu ihren Gunsten auszunutzen, so bot sie auch den christlichen Feinden der Taifastaaten eine entscheidende Blöße und leitete ein neues Verhältnis zwischen dem muslimischen Süden und dem christlichen Norden ein, das für al-Andalus schreckliche Früchte tragen sollte. Im Lauf des 11. Jahrhunderts bürgerte es sich nämlich ein, dass sich Taifaherrscher den militärischen Beistand christlicher Könige sicherten; als Gegenleistung mussten sie Tribute in Form immer ruinöserer Geldsummen, von Landbesitz oder Plünderungen leisten, auch Sklaven zählten dazu, die der muslimischen Bevölkerung ihrer Rivalen entstammten. Es war, wie ein moderner Historiker formuliert hat, „nicht mehr und nicht weniger als Schutzgelderpressung“.27 Dass leicht verdientes muslimisches Gold eine christliche Expansion auf muslimisches Land finanzierte, das von muslimischen Sklaven bewirtschaftet wurde, weckte die Gier der christlichen Könige im Norden und ihrer Untergebenen. Sie stritten um die Tribute der reichsten Königreiche und erpressten sie rücksichtslos mit Drohungen und Plünderungen bei Zahlungsverzug. Einsichtige muslimische Zeitgenossen reagierten empört auf diese Entwicklung, so etwa Ibn Hazm, der seine Herrscher beschimpfte und sie Tyrannen nannte: „Bei Gott, ich schwöre, wenn die Tyrannen einsähen, dass sie ihre Ziele leichter erreichen würden, wenn sie die Religion des Kreuzes annähmen, würden sie sich eilends dazu bekennen! Fürwahr müssen wir mit ansehen, wie sie die Christen um Hilfe bitten und ihnen erlauben, muslimische Männer, Frauen und Kinder als Gefangene in ihre Länder zu bringen. Immer wieder schützen sie ihre Attacken gegen das heiligste der Länder und verbünden sich mit ihnen, um Sicherheit zu erlangen.“28 Vorläufig jedoch stieß der Zorn auf taube Ohren. Tributbeziehungen schufen Abhängigkeiten und ermöglichten es muslimischen Herrschern, ihre Rivalen in der Jeder-gegen-jeden-Welt der Taifapolitik in Schach zu halten; dabei zogen sie allerdings die christlichen Königreiche des Nordens immer tiefer in die Belange von al-Andalus hinein und befeuerten deren Interesse an den zerrütteten, geschwächten Taifastaaten. Einem anderen muslimischen Zeitgenossen zufolge wurde zu dieser Zeit „der Durst der Christen nach al-Andalus ganz offenkundig“.29

Unter den Königen des Nordens war Ferdinand I. von León-Kastilien einer der durstigsten. Im Jahr 1043 beispielsweise half er mit, al-Maʿmun, den muslimischen Herrscher von Toledo, wieder an die Macht zu bringen, nachdem dieser von einem Rivalen gestürzt worden war; als Gegenleistung erhielt er einen jährlichen Tribut. Als die Zahlungen ausblieben, plünderte Ferdinand die ländlichen Gebiete des Königreichs und belagerte zwei Städte, bis wieder Geld floss. Währenddessen (um 1060) besetzte er Burgen im Nachbarstaat Saragossa und forderte von diesen Tributzahlungen. Badajoz und Sevilla sahen sich ebenfalls zur Großzügigkeit gezwungen. Besonders hatte es Ferdinand auf Badajoz abgesehen, wo er Kleinstädte wie Lamego (1057), Viseu (1058), Coimbra (1064) und Coria (1065) besetzte. 1066 starb er auf einem Feldzug gegen den muslimischen König von Valencia.

Die kulturelle Blüte der Taifa-Epoche brachte Männer wie Ibn Hazm und Saʿid al-Andalusi hervor, und die politische Unstetigkeit jener Zeit hatte ebenfalls ihre repräsentativen Figuren. Unter ihnen ragt Rodrigo Díaz de Vivar heraus, besser bekannt als El Cid. Der Abkömmling einer Familie niederer kastilischer Beamter diente seinem König Sancho II. und dessen etwas zwielichtigem Nachfolger Alfons VI. als Beamter, Diplomat und äußerst erfolgreicher General. Mit seinem neuen Herrn geriet er jedoch in Streit und musste sich nach 1080 ins Exil begeben. Da seine Fähigkeiten gefragt waren, fand er seinen neuen Dienstherrn in naheliegenden Kreisen: Fünf Jahre lang diente er dem muslimischen König von Saragossa (und dessen Nachfolger), wobei er unter anderem den Grafen von Barcelona gefangen nahm und den König von Aragon besiegte. In den 1090er-Jahren stand er wieder auf dem Schlachtfeld – rittlings auf einem Pferd aus Sevilla, ein Schwert aus Córdoba schwingend, wenn man dem Heldenepos glauben darf. Diesmal kämpfte er in Diensten seines ehemaligen Herrn Alfons IV., sicherte sich aber letztlich ein eigenes unabhängiges Fürstentum – ein persönliches Taifakönigreich – um die Stadt Valencia, wo er 1099 starb.

Ähnlich „freiberufliche“ Karrieren finden sich auch unter den Christen, die unter muslimischer Herrschaft lebten. Von dieser anderen Seite des konfessionellen Grabens in al-Andalus kam Sisnando Davídiz, ein weniger besungener Zeitgenosse von El Cid. Sisnando wurde in der Gegend um Coimbra geboren und in Córdoba von dem muslimischen König von Sevilla gefangen genommen, der ihn als Verwalter und Diplomat beschäftigte. Später verließ er Sevilla, trat in die Dienste Ferdinands von León und spielte eine aktive Rolle in den vielen Feldzügen des Königs gegen die Muslime des Südwestens. Anders als El Cid diente er dem Sohn Ferdinands I., Alfons VI., recht pflichtbewusst, unter anderem in den Feldzügen gegen Granada und seine frühere Heimat Sevilla, und wurde von seinem Herrn mit einem Teil der neu eroberten Länder reich belohnt. Er starb 1091 nach fast zwei Jahrzehnten als teilunabhängiger Herrscher von Coimbra.30

Dass sich die verschlungenen Pfade von El Cid und Sisnando schließlich am Hof von Alfons VI. kreuzten, war kein Zufall. Unter all den Söhnen und Erben von Alfons IV. war er die führende Figur. Er regierte letztlich die Gesamtheit des Reichs seines Vaters mit allen damit verbundenen Tributen und setzte dessen unablässigen Sturm auf die Taifakönigreiche fort. Das machte sein Reich zum Anziehungspunkt für kulturell bewanderte Krieger wie diese beiden. Alfons’ Erfolge und die seiner Bundesgenossen erwiesen sich auch für andere als attraktiv, und so erhielten die spanischen Herrscher bei ihren Feldzügen gegen muslimische Nachbarn unversehens Unterstützung von Kämpfern und Kirchenmännern aus Franken, die unter dem Eindruck von Berichten über die Reichtümer und frommen Meriten, die es in Spanien zu erlangen gab, über die Pyrenäen strömten und radikal neue Vorstellungen über die Macht der Kirche und die Segnungen eines christlichen Heiligen Krieges mit sich führten.

Der Kampf ums Paradies

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