Читать книгу Perry Rhodan-Paket 62: Mythos (Teil2) - Perry Rhodan - Страница 117
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Cascard Holonder
Selten zuvor hatte sich Holonder derart hilflos gefühlt. Da halfen auch die hingekritzelten Zeichnungen nichts, die er geistesabwesend zu Papier brachte und die stets ein wenig Druck von ihm nahmen.
Noch weniger nützten die geflüsterten Unterhaltungen mit anderen Mitgliedern der Zentralebesatzung. Sie durften nichts Verfängliches sagen, denn sie standen unter der Beobachtung ANANSIS. Die Semitronik lauschte ihren Worten, analysierte ihre Gesten, achtete auf den Schriftverkehr. Sie tat dies im Auftrag Bru Shaupaards und damit im Auftrag der VECU.
Er hatte Hoffnung geschöpft, als Icho Tolot einen Fluchtversuch unternommen hatte. Sie war rasch wieder eingedämmt worden. ANANSI hatte demonstriert, dass sie das Schiff im Griff hielt.
Holonder gab dennoch nicht auf. Er wusste, dass einige prominente Bordmitglieder untergetaucht waren. ANANSI unternahm nur wenig, um ihren Spuren zu folgen. Vielleicht hing ihr Unwille damit zusammen, dass zwei der Flüchtigen, Lerva Onteren und Yüs Ghysar, eng mit der Semitronik zusammengearbeitet hatten. Womöglich fühlte sie so etwas wie eine emotionale Bindung zu ihrer Betreuerin und einem der kompetentesten Positroniker.
Ich sollte viel stärker auf Onker Dous Kompetenz vertrauen, dachte Holonder. Er mag ein sperriger, mitunter auch unangenehmer Charakter sein. Aber er wird alles geben, um die RAS TSCHUBAI zu befreien.
Bru Shaupaard saß hinter ihm, auf einem der Besuchersitze des COMMAND-Levels. Holonder fühlte seine Blicke auf sich ruhen – und das nicht nur im übertragenen Sinne. Der Cairaner strahlte etwas Erdrückendes aus. Was er sagte, waren die Worte und Gedanken der VECU.
»Ziel erreicht«, sagte Lit Olwar, der Leiter der Funk- und Ortungsabteilung. »Bitte sehr: die Riesensonne Prascai.«
Ein mächtiges Gestirn tauchte im Hologlobus der Zentrale auf. Der blaue Riese ähnelte der heimischen Sonne Wega. Allerdings kreisten bloß zwei Planeten um das Gestirn, wobei sie auf künstliche Weise auf ihren Kursen stabilisiert wurden.
»Der ehemalige Laborplanet Talzmant und der Gasriese Prutha«, ließ sich Shaupaard vernehmen. Seine Stimme klang gleichermaßen bitter und aggressiv. »Prascai hatte einst dreiunddreißig Planeten, auf denen sich zwei Kulturen friedlich nebeneinander ausgebreitet hatten. Die insektoiden Vachzach und die Wasserwesen der Elefen-Prinzen, ätherisch wirkende Geschöpfe, die schmal gebauten terranischen Quallen ähnelten und zu den Lieblingen der VECU gehörten. Sie hatten sich der mathematischen Philosophie verschrieben und waren eben dabei, eine Symbiose mit den Vachzach einzugehen, als die Phersunen auftauchten.«
»Was ist mit den Elefen-Prinzen geschehen?«, fragte Holonder.
»Es gibt sie nicht mehr. Die Phersunen haben sie ausgelöscht. So, wie sie einunddreißig Welten des Systems zerstört haben, um Vektormaterie zu schöpfen.«
Holonder gab Befehl, die Zoomfunktion einzusetzen und einzelne, im Hologlobus abgebildete Elemente besser darzustellen. Er bekam würfelförmige Elemente aus Vektormaterie zu sehen, die den Gasriesen Prutha umkreisten.
Die Würfel waren unterschiedlich groß. Manche maßen bloß wenige Meter, andere Hunderte Kilometer im Durchmesser.
»Das ist alles, was von den Welten und Monden des Systems übrig geblieben ist«, fuhr Shaupaard fort. Er stand auf einmal neben Holonder. Die golden gesprenkelte Gesichtshaut hatte an Spannkraft verloren, die beiden Arme mit den insgesamt vier Händen bewegten sich unruhig. »Alles, was die Phersunen im Auftrag der Kandidatin Phaatom unternehmen, schmeckt nach Untergang, Tod und Leid.«
»Was hast du vor, Bru? Geht es um Rache?«
Der Cairaner hielt in seinen Bewegungen inne. Der Schimmer in seinem Gesicht verstärkte sich, er kommunizierte mit der VECU.
»Auf Talzmant unterhalten die Phersunen eine größere Station«, sagte er schließlich. »Dort wird am Abyssalen Fundament für den zukünftigen Abyssalen Triumphbogen gebaut. Das Projekt befindet sich in einer für die Kandidatin Phaatom heiklen Phase. Wir werden diese Schwäche nützen.«
Holonder hatte durchaus Verständnis für den Grimm Bru Shaupaards. Was die Kandidatin Phaatom in Ancaisin anrichtete, war grauenvoll. Ungezählte Wesen waren gestorben, um Vektormaterie zu erzeugen. Biologisches Leben wurde in Substanz umgewandelt, die der Kandidatin bei ihrem Wachstum half.
»Die VECU bittet um eure Unterstützung«, fuhr Shaupaard fort. »Sie und ich wissen, dass ihr mit unseren Methoden nicht einverstanden seid. Auch wenn wir nicht verstehen, warum das so ist.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Holonder überrascht. Woher kam diese plötzliche Offenheit?
»Wir werden Talzmant angreifen und dabei alle Möglichkeiten der RAS TSCHUBAI nutzen. ANANSI wird uns bestmöglich unterstützen. Aber es kommt auf jedes einzelne Besatzungsmitglied an. Auf einen gemeinsamen Willensakt. Lasst uns der Kandidatin Phaatom eine Niederlage beibringen, die ihr zu denken geben wird. Das ist doch auch in eurem Sinne. Nicht wahr?«
Holonder überlegte lange. Er fühlte die Blicke vieler Mitglieder der Zentralebesatzung auf sich ruhen.
Hatten sie denn eine Wahl? War die VECU auf sie angewiesen? Benötigte sie für ihren Kampf so etwas wie einen Grundkonsens und eine Willenserklärung der Wesen an Bord? Zog sie daraus ihre Kraft?
»Wir machen mit«, sagte Holonder schließlich. »Es geht schließlich gegen die Kandidatin Phaatom. Aber darüber hinaus sollte die VECU nichts von uns erwarten.«
»Eine Kooperation auf Zeit also.« Bru Shaupaard verschränkte die Arme ineinander. »Die VECU wundert sich, warum du ihr nicht mehr vertraust. Aber das sind Dinge, über die wir nachher sprechen können.«
»Wird es ein Nachher geben? Ich zähle dreißig Deltaraumer der SEMSHAD-Klasse und gut doppelt so viele Einheiten kleinerer Klassen. Die Phersunen haben eine riesige Streitmacht versammelt.«
»Sie bekommen es mit der VECU zu tun. Und mit euch. Gemeinsam werden wir diesen Kampf gewinnen.«
»Also schön.« Holonder bedeutete seinen Leuten, ihre Positionen einzunehmen und die RAS TSCHUBAI gefechtsbereit zu machen. »Wie ist der Plan?«
»Du wirst ihn spüren. Die VECU ersucht dich, während des Angriffs die Rolle des Piloten zu übernehmen. Du bist einer der besten Emotionauten, die Ertrus jemals hervorgebracht hat. Wir werden deine Talente benötigen.«
*
Er hatte während der letzten Tage und Wochen immer wieder als Pilot der RAS TSCHUBAI fungiert. Auch wenn er als Schiffskommandant dafür nicht mehr vorgesehen war. Briony Legh und Andris Kantweinen erledigten diese Aufgabe schließlich zu ihrer aller Zufriedenheit.
Holonder liebte es, mit dem Schiff verbunden zu sein. Der Platz in der Pilotenmulde war ihm vertraut, ebenso der intime Kontakt mit der Schiffssemitronik und damit mit der RAS TSCHUBAI selbst.
Holonder wurde zum Teil des Schiffs, er war das Schiff. Er fühlte stählerne Muskeln, den Feuerhauch der Waffen, die energiereichen Schutzschirme. Dieser Metabolismus, metallen und künstlich ausgelegt, war wie ein Lebewesen, das es kein zweites Mal in diesem Universum gab. Und er, Cascard Holonder, wurde zum Bestandteil dieses Geschöpfs.
Er fühlte ANANSI. Den semitronischen Rechnerverbund, dem er nicht trauen durfte und der in diesen Minuten dennoch der beste Verbündete war, den er sich vorstellen konnte.
Der Rechner legte eine sonderbare Unterwürfigkeit an den Tag, aber wenn es notwendig werden sollte, korrigierte und verfeinerte er seine Entscheidungen. ANANSI war Sklavin und Herrin gleichermaßen.
Da war noch etwas: ein Element, das Holonder niemals zuvor gespürt hatte. Es harmonierte mit ANANSI und reichte sanft an ihn heran, ohne ihn beeinflussen zu wollen.
Die VECU. Sie streichelte über seinen Geist, während er sich mit dem Schiff verband und die Kontrolle übernahm. Ihre nonverbale Kommunikation war rätselhaft und kaum verständlich. Sie trug etwas in sich, dem Holonder unter keinen Umständen folgen durfte, wollte er bei Verstand bleiben. An einer Superintelligenz verbrannte man sich nur allzu leicht.
Es geht los, wisperte ANANSI.
Ich brauche einen Plan!, verlangte Holonder.
Du wirst wissen, was zu tun ist, sobald es so weit ist. Ergänze mich, ergänze das Schiff, ergänze die VECU. Was die Superintelligenz dir anbietet, ist ein Privileg, das nur wenigen Wesen zuteil wird.
ANANSI lockte und verlockte. Sie ließ ihn die Rolle als Piloten spielen, um ihn enger mit der VECU in Kontakt zu bringen. In der Hoffnung, ihn auf die Seite der Superintelligenz zu ziehen.
Holonder öffnete sich ein kleines Stückchen weit. Er fühlte rings um sich die Bereitschaft des Schiffs für den Kampf. Die Waffensysteme waren bereit, die Abwehrsysteme ebenso.
Zu seiner Verwunderung, aber auch zu seinem Ärger, verzichtete ANANSI darauf, die Schweren Kreuzer und andere Kampfeinheiten abzukoppeln und in die Schlacht zu schicken. Die Semitronik und die Superintelligenz vertrauten den Besatzungen der kleineren Schiffseinheiten nicht genug.
Es geht los, wisperte ANANSI erneut über das paramechanische Interface. Bleib ruhig und vertrau auf deine Fähigkeiten. Die VECU möchte, dass du deine Talente und deine Unberechenbarkeit in die Schlacht einbringst. Sie wird über mich den Hauptteil der Kampfarbeit übernehmen, aber immer wieder auf dich zurückgreifen. Es wird also ein wenig anders ablaufen als sonst.
Wir brauchen Zeit, um uns aneinander zu gewöhnen und uns abzustimmen.
Diese Zeit haben wir nicht. Du kannst dich auf die VECU verlassen. Sie weiß, wie sie mit mir umzugehen hat.
Holonder fragte sich, wie ANANSI und die VECU miteinander in Verbindung traten. Wie erfolgte der Gedankenaustausch der beiden?
Er fühlte ein rasantes Beschleunigen der RAS TSCHUBAI. Sie schoss auf die Welt namens Talzmant zu. Gleich darauf endete die bisherige gedankliche Beschaulichkeit, und Holonder schlüpfte endgültig in die Pilotenrolle. Die anderen Offiziere der Zentrale würden nur noch einen Ertruser im besten Alter sehen, der mit der linken Hand Figuren auf kleine Zettel kritzelte und ansonsten völlig in sich selbst versunken war.
Der positronische Kosmos der RAS TSCHUBAI erwachte vollends zum Leben. Unfassbar viele einzelne Eindrücke prasselten auf ihn ein. Er wurde Teil eines gewaltig großen Mechanismus. Er schwamm in einem Ozean aus Befehlen, Anweisungen, höherdimensionalen Denkprozessen. In einem stetigen, nicht enden wollenden Prasseln kaum verständlicher Daten.
Holonders Geist wurde bis zum Letzten gefordert. Wie immer. In diesem quasi-entropischen Chaos galt es, die Strukturen zu bewahren, alle damit zusammenhängenden Mikrozustände im Griff zu behalten und vor allem das Richtige zu tun, ohne ANANSI in die Quere zu kommen.
Er fühlte den Beginn der Schlacht. Er entließ die Geschosse aus den Sublicht-Kanonen, aus den Impulskanonen, den MVH-Überlicht-Kanonen, den Transformkanonen, den Hyperpulswerfern, den Paratronwerfern, den Dissonanz-Polgeschützen. Bunte Feuerblumen entstanden da und dort. Sie brachten Wirkung mit sich, sie schadeten dem Feind.
Alles ging so leicht, so sanft. In Holonder war eine Ruhe, die er anfänglich nicht begriff. Bis er verstand, dass dies der Einfluss der VECU war. Sie glättete seine Angriffe. Sie sorgte für Präzision. Sie wandelte seine gedanklichen Anweisungen in einen Beschussreigen um.
Holonder kam sich wie ein primitiver Schlächter vor, dem von einem Meister des Kriegshandwerks gezeigt wurde, wie man mikrometergenaue Angriffsmuster ziselierte. So, dass die gegnerischen Raumforts, Schiffe und Bodenstationen auf Talzmant mit chirurgischer Präzision kampfunfähig geschossen wurden.
Ja, es gab Tote und Verwundete auf der Seite der Phersunen. Aber die VECU achtete darauf, die Opferzahlen so gering wie möglich zu halten.
Die Feinde formierten sich zur Gegenwehr. Holonder und ANANSI wichen mit Leichtigkeit aus. Es war ihm, als wüsste er bereits im Voraus, was die Phersunen vorhatten.
Konnte die VECU in die Zukunft blicken? War sie so etwas wie ein Präkog?
Nein. Sie verließ sich auf Unmengen von Daten und extrapolierte. Sie war eine Göttin, die alles über die einfachen Wesen an Bord der feindlichen Raumer wusste. Jederzeit konnte sie ihre Taktik ändern, und wenn die gegnerischen Positroniken glaubten, endlich einmal ein Muster im Kampf des fremden Raumschiffes erkennen zu können, brachte Holonder sein Element der Unberechenbarkeit ein.
Er machte sich an die Arbeit. Er ließ seine Gedanken laufen, assoziierte frei – und die RAS TSCHUBAI tanzte.
Wie viel Zeit verging eigentlich? Oder war Holonder in einem stählernen, positronischen Traum verhangen?
Er wusste es nicht. Er tat seinen Teil und fühlte mit, während die VECU das Abyssale Fundament auf Talzmant vernichtete. Schwarz glasierter Boden blieb zurück, auflodernde Stationen, ausbrennende Maschinenblocks mit Schutzschirmgeneratoren. ANANSI vernichtete alles, das nach Phersunen roch, mit kaum fassbarer Präzision.
Es ist vorbei, dachte die Semitronik irgendwann in seine Richtung. Die Mission war erfolgreich, wir ziehen uns zurück.
Holonder erwachte wie aus einem Traum. Er fühlte seinen Körper mit einem Mal wieder und wusste, wo er sich befand. Das Dahintreiben durch die Maschinengedankenwelt der RAS TSCHUBAI hatte ein Ende.
Weltraum umfing ihn ringsum. Seine Blicke richteten sich auf mehrere zerstörte Stationen und Schiffe, die haltlos durch die Leere trudelten. Ab und zu feuerte ANANSI ohne sein Zutun und richtete weitere Zerstörungen an. An Schiffen, die den Terranern ebenbürtig gewesen waren und ihnen bei früheren Schlachten in Ancaisin alles abverlangt hatten.
Nun aber, mit der VECU an Bord, gelang alles mit traumwandlerischer Sicherheit.
Die RAS TSCHUBAI trat in den Überlichtflug ein, die Hawk-V-Generatoren erledigten fehlerfrei ihre Arbeit. Gut eintausend Lichtjahre von der Riesensonne Prascai entfernt trat das Schiff in den Normalraum zurück.
Meldungen aus allen Maschinenbereichen trudelten ein und beschäftigten seinen Geist. Es gab keine Schadensmeldung.
Keine einzige.
Die VECU, ANANSI und, in bescheidenem Ausmaß, er selbst hatten eine Schlacht geschlagen und einen vollen Erfolg errungen.
Du kannst gehen, dachte die Semitronik. Danke.
Holonder fühlte, wie sich ANANSI zurückzog und wollte die SERT-Haube beiseiteschieben, als er mit einem Mal eine neue Präsenz in seinen Gedanken bemerkte. Eine, die der Semitronik ähnelte und dennoch Unterschiede aufwies.
Ich bin der Vergessene, meinte sein neuer Gesprächspartner. Du musst mir zuhören. Bitte. Das Schicksal der RAS TSCHUBAI hängt davon ab.
*
Er nannte sich Oman und wirkte gehetzt. So, als blickte er ständig über die Schulter und sähe sich nach einem Verfolger um.
Cascard Holonder forschte nach. Wollte ihn ANANSI in eine Falle locken? Täuschte sie vor, ein vergessener Teilaspekt der Semitronik zu sein, der sich von ihr gelöst hatte? Oder war dieses virtuelle Geschöpf wahrhaftig? Hatten Dou, Onteren und Ghysar es tatsächlich geschafft, ANANSI ein Stück ihres Selbst wegzuknipsen?
Onker Dou sagte, dass du mir vertrauen wirst.
Erinnerst du dich etwa nicht mehr an mich?, hakte Holonder nach.
Doch. Aber ich bin bloß der Vergessene. Ein Schatten. Mir steht nicht dasselbe Wissen wie ANANSI zur Verfügung.
War das die Chance, die sie brauchten, um die VECU loszuwerden und sein Schiff zurückzuerobern?
Also schön, dachte er konzentriert. Was willst du von mir?
Seitdem sich ANANSI von dir zurückgezogen hat, sind zwei Sekunden vergangen. Sie wird misstrauisch werden, wenn du dich nicht bald von der SERT-Haube löst. Du musst schnell handeln und darfst nicht lange über meine Bitte nachdenken.
Ich wiederhole: Was willst du von mir?
Du musst einen Teil der RAS TSCHUBAI für ANANSI blind machen. Ich gebe dir Anweisungen, was du dafür tun musst. Zweieinhalb Sekunden.
Ich soll euch räumlichen Handlungsspielraum ermöglichen?
Richtig. Es geht um einige Räume und Gänge, die du ANANSIS Überwachung entziehst.
Was habt ihr vor?
Wir wollen Icho Tolot aus seinem Suspensionsalkoven befreien und ihm ein geeignetes Versteck besorgen. Die Semitronik und die VECU sollen glauben, dass er nach wie vor im Alkoven entrückt ist. Drei Sekunden.
Icho ist bereits einmal gescheitert. Wenn die Superintelligenz entdeckt, dass der Haluter ein zweites Mal entkommen ist, wird sie zu härteren Mitteln greifen.
Sie wird ihm nichts tun. Du hast miterlebt, dass sie selbst phersunische Leben geschont hat. Dreieinhalb Sekunden. Ich bitte dich: Triff deine Entscheidung. Jetzt.
Was konnten Dou und Tolot schon ausrichten? Was für eine Rolle spielte der Vergessene?
Er brauchte mehr Zeit, um über Omans Bitte nachzudenken. Womöglich verurteilte er den Haluter zum Tod, wenn er ihn unterstützte. Vielleicht sogar die gesamte Schiffsbesatzung.
Er hatte keine Zeit mehr. Das drängelnde Gefühl, das Oman ihm vermittelte, wurde vehementer.
Was muss ich tun?, fragte er in Gedanken.
Meinen Anweisungen folgen. Ich zeige dir, wie du ANANSIS Wahrnehmungen geringfügig einschränkst. Es werden anstrengende zwei Sekunden für dich werden, aber wir müssen das Prozedere rasch hinter uns bringen. Bist du bereit?
Ja.
Folge mir!
Omans Präsenz wurde schwächer. Der Vergessene entfernte sich, Holonder eilte ihm hinterher. Gemeinsam reisten sie durch die positronischen Schaltstellen und Rechengehirne, fielen in tiefe Datenabgründe, entwichen Abwehrvorrichtungen, hatten schmerzhafte Begegnungen mit höherdimensional verankerten Datenwächtern.
Bemerkte ANANSI denn nicht, dass Oman und er sich gemeinsam durch das Reich der Semitronik bewegten? Würde sie auf ihn aufmerksam werden, wenn er sich zu weit vom Vergessenen entfernte?
Holonder unternahm alles, um Oman zu folgen. Wertvolle Hundertstelsekunden vergingen, während er an einem virtuellen Tor rüttelte und es endlich schaffte, das Schloss zu knacken, um in einen besonders geschützten Bereich vorzudringen. Er machte einige Bewegungen, die ihm der Vergessene vorgab – und fühlte mit einem Mal, wie sich etwas rings um ihn veränderte. Er spürte die Kälte eines Verlustes.
Sie hatten es gemeinsam geschafft. Ein Teil von ANANSIS Überwachungsmöglichkeiten war von der Semitronik abgekoppelt.
Holonder fühlte Schmerz und Erleichterung gleichermaßen, als Oman ihm wortlos zuwinkte und aus seiner Wahrnehmung entschwand.
All das, was er während der letzten fünf, sechs Sekunden erlebt hatte, war eine anstrengende Reise durch das Bewusstsein ANANSIS gewesen. Was immer Holonder gesehen und gespürt hatte, war seiner Phantasie entsprungen. Sein eigenes Gehirn hatte ihm Bilder und Empfindungen gegeben, um zu verhindern, dass er im positronischen Reich ANANSIS verrückt wurde.
Holonder konzentrierte sich auf sein körperliches Dasein und kehrte in die Realität zurück. Er fühlte seine Finger, seine Beine, seinen Kopf wieder.
Mit fahrigen Bewegungen streifte er die dünne SERT-Trägerhaube ab und wollte aufstehen. Der Übergang war anders als sonst. Anstrengender. Außerdem konnte Holonder erst wieder etwas sehen, nachdem er sich Tränenflüssigkeit aus den Augenwinkeln gewischt hatte.
Holonder blickte in betroffene Gesichter.
»Was ist los?«, fragte er irritiert.
»Deine Augen, Cascard«, sagte Lit Olwar. »Sie bluten.«