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12.

Penelope Assid

Wie lange war es her, seit die VECU die Herrschaft über die RAS TSCHUBAI übernommen hatte? Vier Tage?

Assid hatte die Superintelligenz mit an Bord gebracht. Weil sie naiv gewesen war. Weil sie geglaubt hatte, etwas Gutes zu tun.

Mit Schaudern dachte sie daran, wie es sich angefühlt hatte, als die VECU aus ihr geschlüpft und vollends auf Bru Shaupaard übergegangen war. Ein Glücksgefühl war immer intensiver und schmerzvoller geworden. So lange, bis sie die Superintelligenz aus ihrem Leib ... nun ja: gewürgt hatte.

Danach hatte sie Schmerz und Trauer empfunden und depressive Phasen gehabt, die erst am Vortag völlig abgeklungen waren. Seither fühlte sie nur noch Erleichterung. Niemals wieder wollte sie eine derartige Erfahrung durchmachen.

Ich bin einer Göttin zu nahe gekommen und wäre beinahe an ihr verbrannt, dachte sie und spähte so unauffällig wie möglich zu Bru Shaupaard.

Der Cairaner saß in derselben Reihe wie sie, in der ZALTERTEPE-Jet, deren Kennung sie sich gar nicht erst gemerkt hatte. Dazwischen hockten ein Nexialist namens Sholter Bas Amanje und die Xenopsychologin Marje a Hainu. Beide starrten geradeaus. Die Anwesenheit des Parolgebers machte ihnen Angst.

Shaupaard wirkte hoch konzentriert. Sein Gesicht trug tiefe Runzeln, die ihn wie eine Statue erscheinen ließen, deren Goldfirnis abblätterte.

»Was willst du wissen?«, fragte Shaupaard, ohne in ihre Richtung zu blicken.

Assid zuckte zusammen. Er hatte ihre Neugierde also bemerkt.

»Dasselbe wie alle hier an Bord«, sagte sie mit bemüht ruhiger Stimme. »Was suchen wir auf Vunun? Was haben du und die VECU vor?«

»Du wirst es bald erfahren. Und du wirst viel zu tun bekommen. Ich möchte, dass du dich intensiv mit den Vun beschäftigst. Dir traue ich am ehesten zu, die Pläne der Superintelligenz zu verstehen und zu akzeptieren.«

»Warum erzählst du mir nicht einfach davon?«

»Worte können nicht ersetzen, was auf dem Planeten geschehen wird. Du musst es sehen und erleben.«

»Ich habe Bilder von den Bewohnern Vununs«, meldete sich Nutbush zu Wort. »Ich zeige sie euch.«

Holos leuchteten auf, unmittelbar vor jedem der Passagiere.

Assid kniff die Augen zusammen und betrachtete das bunte Geschehen in einer Ansiedlung, die aus vielen aufeinander aufbauenden und sandfarbenen Türmen bestand, die wiederum wie lange Zapfen entlang gewaltiger Baumstämme nach oben wuchsen. Manche der Bauten hingen von riesigen Ästen nach unten und bewegten sich in einem stetigen Wind.

Die Bäume waren mehrere Hundert Meter hoch, die Wohnsiedlungen fassten sie beinahe zur Gänze ein. Die einzelnen Türme waren durch Brücken, breite Querstreben, Arkadenwege und filigrane Aquädukte miteinander verbunden.

Dort wollte ich nicht herumspazieren und schon gar nicht leben. Vor allem nicht mit solchen Nachbarn.

Die Vun ähnelten terranischen Gottesanbeterinnen. Sie waren zweieinhalb bis drei Meter groß. Sie kletterten mit großem Geschick auf vieren ihrer sechs Beine entlang der Außenwände ihrer Wohntürme. Begegnete ein Vun einem anderen, klapperten beide mit den vordersten Beinpaaren und schnappten in Richtung des Entgegenkommenden. Ihr Verhalten wirkte höchst aggressiv.

Aber man durfte sich nicht vom ersten Eindruck täuschen lassen. Die Vun wirkten respektvoll im Umgang. Das Rasseln und Klappern der Fangarme war bloß Teil einer Gestensprache.

Vermutlich waren ihre Vorfahren Räuber und haben sich die Welt Vunun untertan gemacht. Aber sie haben sich weiterentwickelt. Die Scheren des vordersten Armpaars wirken weich und abgerundet. Sie sind von mörderischen Mordinstrumenten zu filigranen, feinfühligen Greifelementen geworden.

»Du landest in unmittelbarer Nähe zu dieser Siedlung«, befahl Bru Shaupaard dem Piloten und deutete auf ein Holo, das eine der größten Ansiedlungen zeigte.

Die Stadt lag auf dem Grund einer tiefen Schlucht, die Assid an den Grand Canyon erinnerte. Unzählige Wohntürme rankten sich dort um mehrere Tausend Baumriesen, die dicht an dicht standen.

Nutbush, der kaum aus der Ruhe zu bringen war, bestätigte und konzentrierte sich auf seine Arbeit als Pilot.

»Wie werden uns die Vun empfangen?«, fragte Assid. »Ich sehe kaum Anzeichen einer höher entwickelten Technik. Hatten sie schon mal Kontakt mit Raumfahrern? Sind wir so etwas wie Götter für sie? In der Milchstraße gibt es einen Verhaltenskodex und Schutzzonen rings um Welten, die noch nicht mit raumfahrenden Völkern in Berührung gekommen sind. Wir warten, bis sie den ersten Schritt tun.«

»Das ehrt euch. Aber keine Sorge: Die Vun wissen mehr, als es den Anschein hat. Sie gehören zu einer Spezies mit einer bewundernswerten, friedlichen Entwicklung. Sie wollten ihre Welt nie verlassen. Auf ihrer Heimatwelt haben sie alles, was sie benötigen.«

»Völker, die nicht stets nach neuen Zielen streben, degenerieren in der Regel«, behauptete Assid.

»Diese Regel besitzt tatsächlich Gültigkeit«, bestätigte Bru Shaupaard, »aber nicht in diesem Fall.«

Der Parolgeber lehnte sich in seinem Sitz zurück und sprach bis zur Landung auf Vunun kein Wort mehr.

*

Die Luft schmeckte harzig und frisch, Assid fühlte sich herrlich leicht. Der Landeplatz war eine sorgfältig zurechtgestutzte Wiesenfläche inmitten einer von Farnen bewachsenen Landschaft. Da und dort zeigten sich große Dornensträucher, von denen glockenförmige Blumenkelche hingen. Der Wald, in dem die Vun lebten, breitete sich im Halbkreis dahinter aus. Die baumartigen Gewächse waren bis zu 250 Meter hoch, ihr Wachstum wurde von der geringen Planetenschwerkraft von 0,81 Gravos begünstigt.

Die Sonne stand hoch am Himmel und sorgte für angenehme Temperaturen. Vunun hatte keinen Trabanten und war in vielerlei Hinsicht gewöhnlich. Eine Welt, wie es in der Milchstraße Hunderttausende gab.

Erst im obersten Drittel zeigten die Bäume Nadelbewuchs. Dort waren die weit ausladenden Äste miteinander verschlungen. Unter den grünen Dächern erstreckten sich die Gebäude der Vun, eng an die Stämme gelehnt.

»Wunderschön«, sagte Nutbush, bevor er sich an Bord seiner Jet zurückbegab. Der Pilot würde als Einziger beim Schiff bleiben, während die Wissenschaftler Gelegenheit bekamen, sich mit den Verhältnissen auf Vunun vertraut zu machen.

»Und nun?«, fragte Assid.

»Die Vun werden zwei Vertreter ihres Kollekts vorbeischicken«, antwortete Shaupaard.

»Das Kollekt ist die Regierung der Vun?«

»So ähnlich. Sie legen auf Amt und Würden nur wenig Wert. Es werden zwei Vun kommen, die gerade nichts Besseres zu tun haben.«

Assid schwieg. Sie traute sich noch kein Urteil über die Insektoiden zu. Die Eindrücke und die wenigen Wissensbrocken, die ihr Shaupaard zukommen ließ, waren widersprüchlich. Sie kündeten von kollektivem Verhalten einerseits und von ausgeprägtem Individualismus andererseits.

»Da sind sie!«, sagte Marje a Hainu und zeigte mit ihrer Rechten in nördliche Richtung.

Über Dornenhecken und Farne hinweg waren die Köpfe der Vun zu sehen. Sie kamen im angsterregenden Tempo näher. Immer wieder klapperten sie mit ihren Fangbeinen gegeneinander. Ovale und facettierte Augen wirkten wie aufpolierte Opale, die das Licht der Sonne Ju hundertfach widerspiegelten.

Assid hatte Probleme, ihre Nerven im Zaum zu halten. Das Gehabe der Vun wirkte aggressiv, ihre Bewegungen ebenso. Erst, als sie sich ihr und den anderen Wissenschaftlern bis auf wenige Meter genähert hatten, blieben sie abrupt stehen und ließen die vordersten Beine zu Boden sinken.

»Du«, singsangten die beiden Vun gleichzeitig in Bru Shaupaards Richtung, überraschenderweise auf Cairanisch. »Wir haben auf dich gewartet. Aber wer sind die anderen?«

»Zeugen«, sagte der Cairaner. »Zeugen des Geschehens. Sie sollen alles wissen. Womöglich behalte ich sie für meine Zwecke. Sie sind brauchbar.«

»Brauchbar wie wir?«, fragten die Vun unisono.

»Nein. Auf eine andere Weise.«

Ein Augenblick der Stille entstand. In der Ferne war der schrille Schrei eines Jagdvogels zu hören, dann eine ebenso aufgeregte Antwort. Der Wind rauschte durch die Bäume und die Farnlandschaft. Es war Assid, als würden die Pflanzen miteinander wispern. Als wäre dieser Ort von einer Art Magie beseelt, die den gesamten Planeten einfasste.

»Wir hätten nicht damit gerechnet, dass dieser Augenblick jemals kommt«, sangen die Vun und zerbrachen damit den Zauber. »Es ist uns eine Ehre, die VECU spüren zu dürfen. Aber wir dachten, es gäbe andere, Bessere als uns?«

»Das Leben im Großen Schwarzen Nichts ist schrecklich geworden«, sagte Bru Shaupaard mit einer Stimme, die hörbar angegriffen klang. Es war längst nicht mehr der Cairaner, der etwas zu sagen hatte. Es war die VECU, deren Präsenz in ihm stärker, mächtiger und gehaltvoller wurde. »Ich bin hier, um mich zu erholen. Um dem Schrecklichen im Großen Schwarzen Nichts irgendwann wieder entgegentreten zu können.«

»Wir spüren diese Veränderungen«, sagten die beiden Vun. »Sie haben uns während der letzten Generationen gehörige Schmerzen bereitet. Aber sie scheinen uns nicht persönlich zu betreffen.«

»Euer Volk hat das Glück, an einem gut geschützten Ort zu leben. Mein Feind hat Vun nur aus diesem einen Grund nicht zerstört.«

»Glück also. Glück, das uns zu den Auserwählten macht. Andernfalls wärst du niemals hierhergekommen. Nicht wahr?«

War da Bitterkeit in der Stimme der beiden Vun zu hören? Deuteten ihre unruhigen Bewegungen wachsenden Unmut an?

Assid nestelte an ihrem Armbandkom herum. Sie trug wie alle Mitglieder der kleinen Expeditionsgruppe einen leichten Schutzanzug, der sie vor einem Angriff der Vun bewahren würde.

Oder?

Die Insektoiden verfügten zweifellos über besondere Fähigkeiten. Sie spürten ins Weltall hinaus, sie nahmen Stimmungen auf. Was, wenn sie über weitere Psi-Begabungen verfügten?

»Ihr wart stets meine Lieblinge«, sagte Shaupaard mit zärtlich klingender Stimme. »Ich bin froh, dass ich bei euch ruhen darf.«

Assid fühlte, wie ihr augenblicklich Tränen über die Wangen rannen. Den anderen Expeditionsteilnehmern ging es ebenso. Die VECU strahlte Emotionen ab wie eine Sonne ihre Hitze.

»Wir werden eine Nacht bei euch verbringen. Meine Zeugen möchten euch kennenlernen. Sie sollen erfahren, wer und wie ihr seid. Das ist ihre Aufgabe.«

»Sind sie etwa nicht von dir und deinen Zielen überzeugt?«, fragten die Vun.

»Sie gehören einer misstrauischen Spezies an.«

»Wir bemitleiden sie.«

Assid hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Schließlich hatte Shaupaard sie wegen ihrer Talente als Xenolinguistikerin mitgenommen.

»Es ist uns eine Ehre, bei euch bleiben zu dürfen«, sagte sie.

»Uns nicht«, entgegneten die beiden Vun. »Wie könnt ihr bloß an der VECU zweifeln?«

*

Die beiden Vun hießen Chorc und Miccryz. Sie lebten in einem Klein-Kollekt. In einer Gruppe aus zehn männlichen Mitgliedern, die sich mehrere Räumlichkeiten in einem der Turmbauten teilten und ein enges Verhältnis zueinander pflegten. Die Frauen der Vun, etwas kleiner, aber auch kräftiger gebaut, lebten in einem Frei-Kollekt, das dreißig Mitglieder umfasste und sich je nach Bedarf Männer zur Fortpflanzung in ihre Wohnbereiche an den Spitzen der Türme holte.

»Es ist ein gutes System«, sagte eine ältere Vun namens Sysca. »Wir beschützen uns gegenseitig. – Du möchtest sicherlich mehr von Vunun sehen?«

»Gerne.«

»Ich habe eine Hoschke bestellt. Einen Karren, der von unseren wichtigsten Wirtschaftstieren gezogen wird. Wir werden dich und die anderen Mitglieder eures Kollekts in den Totenwald Tar bringen. Auf dem Weg dorthin kann ich dir mehr über mein Volk und unser Leben erzählen.«

»Totenwald?«, echote Assid.

»Ja, Penchelope«, sagte Sysca und schummelte einmal mehr einen Reibelaut in Assids Namen. »Tar ist einer der Orte, an dem wir unsere Toten versorgen. Tar ist zweifellos der schönste weit und breit. In ihm werden wir morgen die Zeremonie vollführen.«

»Weißt du denn, was die VECU vorhat und was bei dieser Zeremonie geschehen wird?«

»Selbstverständlich. Sobald euer Schiff landete und wir die VECU in uns spürten, haben wir Boten in andere Teile Vununs geschickt. Sie werden morgen kommen. So viele wie möglich.«

»So viele wie möglich?«

»Ja. Jeder Vun, der nicht zu alt oder zu jung ist oder zu weit entfernt lebt, wird sich an dem großen Aufmarsch beteiligen. Du kannst damit rechnen, dass mehr als zehn Millionen von uns rings um den Totenwald kampieren werden.«

*

Auf Vununs vier Kontinenten lebten etwa eine Milliarde Vun. Sie verteilten sich auf einige große Städte und vergleichsweise wenige dörfliche Siedlungen.

»Die Bevölkerungen der Städte Chorr, Labazzc und Mirch haben sich bereits in Bewegung gesetzt. Sie werden in den Nachtstunden eintreffen. Morgen, im Laufe des Tages, erwarten wir die Bewohner von sechs weiteren Millionenstädten.«

»Wie bekommt ihr das bloß in den Griff? Ihr arbeitet mit primit... verzeih, mit einfachsten Transportmitteln. Es wird kaum genügend Nahrung vorhanden sein. Gar nicht zu reden von den Sanitäranlagen, vom Verkehr, vom Chaos.«

»Du machst dir zu viele Gedanken, Penchelope«, sagte Sysca. »Es ist das wichtigste Ereignis in der Geschichte unseres Volkes. Also werden wir es bewältigen. So einfach ist das. Viele werden einen Tag hungern und dann wieder nach Hause wandern. Niemand wird sterben.«

»Wisst ihr überhaupt, worauf ihr euch einlasst? Habt ihr keine Angst, dass die Superintelligenz euch schaden könnte?«

»Spürst du denn nicht, dass sie durch und durch positiv ist? Die VECU strahlt etwas ab, das unsere Körper lustvoll vibrieren lässt. Sie prägt sich in unseren Verstand ein. Sie gibt uns Freude, Zufriedenheit, Erlösung.«

Erlösung.

Erlösung?

Bei Assid schrillten die Alarmglocken. Was, wenn die VECU auf die Mentalsubstanz aller Vun zugriff und sie aussaugte? Was, wenn sie sich auch bei ihr und den anderen Reisebegleitern bediente – und bei der Besatzung der RAS TSCHUBAI?

Das Schiff stand mehr als fünfzig Millionen Kilometer entfernt im Raum. Aber waren größere Distanzen für die VECU wirklich ein Hindernis?

»Die Hoschken für euch stehen bereit«, sagte Sysca. »Wir sollten die letzten Tagesstunden nutzen und uns auf den Weg machen. Der Totenwald Tar wartet.«

Perry Rhodan-Paket 62: Mythos (Teil2)

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