Читать книгу Perry Rhodan-Paket 61: Mythos (Teil1) - Perry Rhodan - Страница 85
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Honams Verborgenheit: Zuflucht
Weit oben tobte ein Sturm, den sie unten nicht ansatzweise so heftig abbekam.
Über der Zuflucht kämpften die Wolken immer miteinander, und wenn sie es gar zu toll trieben, donnerte es. Sie konnte ihnen nicht entfliehen, die Zuflucht war ein Ort der Grenzen.
Die Zeit verging nur messbar, nie fühlbar, denn die Zuflucht blieb düster, ob nun angeblich Tag oder Nacht herrschte.
Climba Ossy-Benk wusste, dass diese Bezeichnungen aus einem Früher stammte, in dem sie sogar eine Bedeutung gehabt hatten. Am Tag hatte die Sonne geschienen, in der Nacht die Sterne geleuchtet.
Und dann war der Weltenbrand gekommen. Hatte die Freiheit gefressen und die Zuflucht geboren.
Seitdem war alles anders, und die Geborgenen genossen die Mildtätigkeit dieses ewigen Zwielichts, des sanften Dunkels. Honams Verborgenheit. Zuflucht.
Sie legte den Kopf in den Nacken und starrte zur Himmelskuppel. Jenseits der Wolken leuchteten Sterne, die keine waren und daran erinnerten, wie es einst gewesen war. Aber diese Zeit würde nie wiederkehren.
Das Irrlichtern war besonders intensiv, das Grummeln besonders tief. Bald würde es regnen, den Ewigen sei Dank. Sie sorgten dafür, dass sich die im Himmelsdach montierten Sprinkleranlagen öffnen und der Durst der Feldfrüchte gelöscht werden würde.
Climba Ossy-Benk war rechtschaffen müde. Der Tag im Wissens-Parlour war nicht sonderlich erfolgreich verlaufen. Ihre Kollegen und sie hatten sich gegenseitig blockiert, wie so oft. Die Fortschritte ihrer Arbeiten mussten auf Wunsch der Ewigen minuziös dokumentiert werden. Jeder neue Gedanke, jeder Arbeitsschritt wurden penibel festgehalten.
Vorsichtig ging sie den Granitpfad entlang, der längs des Crank floss. Der Fluss war das einzige fließende Gewässer der Zuflucht, graues Wasser in dunklem Gestein, gischtend und schnell.
Eine Wacheidechse ruhte auf einem flachen Stein nahe des Ufers im Sprühregen des dahineilenden Wassers und regte sich nicht. Ihr Aktiv-Knopf leuchtete hellrot, folglich übertrug sie die aufgenommenen Bilder an die Meldestelle.
Ossy-Benk überquerte die Steinbrücke, passierte die Kinderfabriken und betrat das Innere des Gemeinheims Zur guten Gesellschaft. Ohne sich lange aufzuhalten, ging sie in den ersten Stock, vorbei an müde dreinblickenden Nachbarn, die sich lustlos einem Holodeck-Spiel hingaben. Grau waren die Mauern, staubgrau oder schlammbraun die Kleidung, das Mobiliar.
Melstein wartete schon. Er küsste sie auf die Wange und stellte das Essen vor ihr ab, sauer eingelegtes Uferkraut mit knusprigen Fettrösten, ein gelbbraunes Gericht mit vage rötlichen Stückchen. Mehr gab es an diesem Tag nicht. Es war eben ein ganz normaler Tag in Honams Verborgenheit.
»Wo sind die Kinder?«, fragte sie, während sie den Mantel auszog, der Kälte und Nässe fernhielt.
»Noch in der Fabrik. Sie haben eine Erziehungsschicht vor sich.«
»Wieder mal eine Katastrophenübung?«
Sein regengraues Gesicht zerknitterte. »Sie schauen sich Filmchen über Agenteneinsätze an und reden über eine mögliche Bedrohung von außerhalb.«
»Mögen uns die Ewigen davor bewahren«, sagten sie beide zugleich und setzten sich.
»Was ist mit Equidur?«, fragte Climba Ossy-Benk, während sie sich am Kraut bediente.
»Er sollte zum Nachtisch da sein. Er ist noch bei den Millarias im vierten Stock.«
Sie aßen in Ruhe, keiner redete ein Wort zu viel. Die Wände hatten Augen und Ohren. Nur der Stillraum im Keller bot so etwas wie Intimität.
Die Hausintelligenz schlug an und öffnete gut hörbar die Tür. Ein lautes Räuspern erklang, gleich darauf betrat Equidur das Esszimmer. Wie immer behielt er seine Schuhe an und brachte Schmutz ins Innere der Wohnung. Nicht, dass es viel ausgemacht hätte.
»Ich rieche kandierte Reiswürfel!«, rief der Ü-Freund – der vieles sein mochte, nur kein echter Freund – laut. »Ihr habt doch sicherlich etwas für mich übrig gelassen?«
»Die habe ich extra aufgehoben, bis du da bist.« Melstein verzog den Mund, als wäre es ein Lächeln, stand umständlich auf, ging zu der kleinen Kochnische und holte eine Schüssel heraus, die stumpf und grau war, und in der Brocken in einem schmutzigen Weiß glitzerten. »Vorher etwas Nahrhaftes? – Bedien dich.« Melstein machte eine einladende Geste.
Equidur schüttelte den Kopf, schmutzstarrendes Haar, fettig, ungepflegt. Climba wurde bei dem Anblick übel.
»Nur keine Umstände. Die Reiswürfel reichen vollkommen.« Breitbeinig hockte er sich zu ihnen. Nicht, ohne vorher den Stuhl so umzudrehen, dass die Lehne zum Tisch zeigte. Das machte er immer. Sie konnte es nicht leiden.
Er schaufelte sich, ohne zu zögern, gut die Hälfte der zuckergussüberzogenen Reisbrocken auf einen Teller.
»Wie war dein Tag, Climba? Hast du zum Fortschritt in Honams Verborgenheit beigetragen?«
Sie unterdrückte den Drang aufzuspringen und wegzulaufen. Stattdessen stellte sie den halb geleerten Teller mit Uferkraut beiseite. Der Appetit war ihr vergangen. Die körperliche Nähe Equidurs bereitete ihr Übelkeit. »Ich bemühe mich, Tag für Tag.« Die rituellen Worte kamen ihr leicht über die Lippen.
»Jaja, Bemühen ist alles, sagt man das nicht so?«, ergänzte der Ü-Freund. Er steckte sich einen Reiswürfel in den Mund, dann den nächsten. Equidur war einer der wenigen, dem es gelungen war, sich trotz des Mangels an Lebensmitteln einen Fettbauch anzufressen.
»Und du, Melstein? Wie geht es dir als Haushaltswahrer?«
»So wie immer.« Melstein blickte nicht hoch und tat so, als würde er sich auf sein Essen konzentrieren.
Climba kannte ihren Partner gut. Er war ein beherrschter Mensch, und sie kam gut mit ihm zurecht. Doch er hatte seine Launen. Wann immer sie ihn befielen, ging er in der Wohnung umher, von links nach rechts und von rechts nach links oder immer im Kreis um den kleinen Tisch herum. Stundenlang. Beherrscht vom Gefühl des Eingesperrtseins und im Bewusstsein der unsichtbaren Ketten, die ihnen allen angelegt waren.
Equidur rülpste unterdrückt und schob den leeren Teller beiseite. »Du stehst kurz vor einer Krise, Melstein. Du fühlst dich eingeengt und kochst innerlich. Ich würde dir raten, diese Gefühle zu unterdrücken. Ihr wisst, dass ich euer Freund bin. Ich überwache euch nun schon, seit euer Ältester auf der Welt ist.« Er breitete die Arme weit aus. »Es ist, als wäre diese Wohnung mein Heim. Ich liebe es hier!«
Climba schaffte es, das viel zu laute Lachen Equidurs zu ertragen, ohne zusammenzuzucken. Sie ließ den Geist schweifen und dachte an ihre Träume. An eine Welt, in der es eine grenzenlose Weite gab und in der nicht beständig Blitze über den beengten Himmel zuckten. In der es andere Gerüche gab als die nach dem allgegenwärtigen Reinundsauber. In der gelacht wurde, weil die Menschen Spaß miteinander hatten, und nicht, weil es von ihnen erwartet wurde. Wie vor dem Weltenbrand.
Equidur wandte sich ihr zu. »Dein Arbeitsmonat ist in fünf Tagen zu Ende. Dann bleibst du zu Hause. Hast du dir deinen Plan für die Kindeserziehung schon angesehen?«
»Oberflächlich, ja.«
»Das ist zu wenig, Liebes. Obwohl ich euch beide sehr schätze, bereitet ihr mir viel Kopfzerbrechen. In der Meldestelle ist man unzufrieden mit euch.«
»Was soll das heißen?« Climba hörte das Blut in ihren Schläfen pochen. Ruhig bleiben!, ermahnte sie sich. Ruhig durchatmen. Es geht vorbei.
»Ihr seid unausgeglichen. Das wirkt sich auf die Kinder aus, auf die Hausbewohner von Zur guten Gesellschaft, auf die Arbeitskollegen – und selbst auf mich. Ich habe das Gefühl, dass ihr mich nicht leiden könnt.«
Climba Ossy-Benk starrte den Ü-Freund an, reglos, gleichmütig, vielleicht freundlich, wie sie hoffte. Aber sie hatte nicht die volle Kontrolle über ihre Gesichtszüge, war eine miserable Schauspielerin.
Equidur erwiderte den Blick – und platzte mit weiterem Gelächter hinaus. »Dein Gesicht solltest du sehen!«, sagte er und wischte sich Tränen von den Wangen. »Du wirkst, als hätte ich dich bei etwas Verbotenem erwischt! Köstlich, dieser Anblick, köstlich!«
Climba sah zu ihrem Partner und versuchte zu lächeln. Verschwinde endlich, elender Schnüffler!
Equidur steckte sich den letzten Reiswürfel in den Mund, und während er noch schmatzte, erhob er sich bereits. »Danke für die Nachspeise, sie war ausgezeichnet. Denkt trotzdem daran: Egal, wie das Essen schmeckt, die Meldestelle spürt jeden Widerstand gegen unser Leben, unsere Kultur und das Triumvirat auf. Daran kann niemand etwas ändern.«
»Wir haben doch nicht ...«
Er knöpfte seinen Mantel zu und nahm sie dabei fest in den Blick. Sie fröstelte. Das war jener Equidur, der sich hinter der Maske des dicken, aufdringlichen, lauten Mannes verbarg. Jener Mann, den sie fürchtete und hasste. »Beleidige mich nicht, indem du mich anschwindelst, Climba. Du kämpfst mit inneren Dämonen. So, wie wir es alle irgendwann einmal tun. Wir zweifeln die Richtigkeit dessen an, was das Triumvirat der Ewigen mit uns vorhat. Wir fühlen uns eingeengt in unseren Entscheidungen, in unseren Wahrnehmungen. – Aber glaubt mir: Was die Meldestelle tut, ist zu eurem Besten. Wir bewachen euch nicht; wir suchen nach Entscheidungsgrundlagen, aufgrund derer wir euer Leben verbessern und optimieren können.«
»Ich weiß, Equidur.«
»Dank all der Erkenntnisse, die die Ewigen während der letzten Jahrhunderte erlangt haben, werden die Kinder besser erzogen, die Ernährungslage optimiert, unser Wissen gezielt eingesetzt. Wir sind die Letzten unserer Art. Wir müssen diese harte Prüfung mit leichtem Herzen erdulden. Damit es unseren Nachfahren eines Tages besser geht.«
»Danke, dass du dich um uns sorgst und uns an unsere Aufgaben erinnerst«, sagte Melstein, der mit einem Mal viel gelöster, ja, fast fröhlich wirkte. »Ich verspreche, dass wir noch heute darüber sprechen, wie wir unser Leben in Zukunft besser gestalten können.«
»Das ist ein sehr guter Plan«, lobte Equidur. »Wenn ihr mich entschuldigt? Ich bin heute noch bei fünf weiteren Familien zu Gast. Es ist nicht leicht, ein Ü-Freund zu sein.«
Er verwandelte sich wieder in den anstrengenden, aufdringlichen, leutseligen Mann, als der er die Wohnung betreten hatte, und ließ die beiden Menschen ohne ein weiteres Wort zurück.
Die Spuren seiner schmutzigen Schuhe waren überall zu sehen.
*
»Einst schufen die Verborgenen die Kupferwelt.
Und dann verließen sie sie.
Einst kamen die Forscher der Menschen und untersuchten, was geschaffen wurde.
Und dann gingen auch sie.
Einst kam das Furchtbare Triumvirat.
Und brachte das Unheil.«
aus: Chroniken der Zuflucht:
Gründungsmythos