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5.

Honams Verborgenheit: Zuflucht

Climba Ossy-Benk verließ die Wohnung leise. Der neue Tag würde in einer Stunde beginnen. Sie sollte in einer halben Stunde im Wissens-Parlour sein, und diese Vorgabe würde sie einhalten. Pünktlichkeit war eine hochgeschätzte Tugend in Honams Verborgenheit.

Im Gehen richtete sie ihre rotbraunen Haare, die dank der durch die Fenster sichtbaren Blitze am Kuppelhimmel immer wieder für Sekundenbruchteile aufblitzten wie Kupfer. Licht benötigte sie keines.

Nur ein paar Momente ... es war genügend Zeit.

Seit mehr als fünfzig Tagen hatte sie keinerlei Verfehlungen begangen. Na ja, fast keine. Keine gravierenden. Zumindest keine, die erkannt worden wären. Den Ü-Freund zu hassen war zwar verboten, aber zumindest in ihr Herz konnte ihr das Triumvirat nicht blicken.

Irgendwie juckte es sie, einmal auszubrechen und gegen die strikten Vorschriften zu verstoßen. Ein ... Zeichen zu setzen.

Mit einem minderen Vergehen wäre ihr nicht gedient. Solche wurden stillschweigend geduldet. Die Meldestelle wusste, dass ein geringer Verstoß gegen die Regeln half, dem immensen Druck zu begegnen, dem die Bewohner der Zuflucht Tag für Tag ausgesetzt waren.

Die Verborgenen waren die letzten Menschen. Ohne sie stürbe ein jahrtausendealtes Erbe. Honams Verborgenheit war alles, was geblieben war nach jenem furchtbaren Schicksalsschlag, der die Galaxis entlebt hatte: dem Ek-Feuer.

Sie war es der Menschheit schuldig, sich zu unterwerfen. Sie war es der Zukunft schuldig, in der Gegenwart zu dienen.

Nur ein Moment der Ruhe ... der Erinnerung, die sie nicht selbst erlebt hatte.

Sie ging in den Keller des Gemeinheims, in dem es still war. Sie legte Kleidung und Ausrüstung ab, einfach auf eine einfache Holzbank vor der Tür, dann betrat sie den dahinterliegenden Raum.

Sanftes Licht umfing sie, leise, sonderbare Geräusche hallten wie ferne Echos schlecht geölter Maschinen.

Climba überlegte, ob sie sich in eine Ruhekuhle legen und ein wenig erholen sollte. Nur ganz kurz ...

Nein!

Sie benötigte die Stille der Ruhekuhlen nicht. Sie war aus einem anderen Grund in den Keller hinabgestiegen. Nicht des Stillraums wegen, sondern wegen des Sichtraums. Sie benötigte den Blick auf das, was früher einmal gewesen war und das stets aufs Neue eine schier unstillbare Sehnsucht in ihr weckte.

Also ging sie durch die nächste Tür, glatt und warm, Kunststoff über Stahl, und betrat den Sichtraum. Das etwa zehn mal vier Meter große Zimmer bestand nur aus vier kahlen Wänden und dem nackten Boden. Und er war leer. Kein Hausbewohner benutzte ihn zu dieser frühen Stunde.

Sie berührte noch im Eintreten das Sensorfeld neben der Tür und aktivierte damit den gesamten Sichtraum.

Und plötzlich war der Raum fort, so wie es sein sollte. Sie wusste, dass all das nicht real war, aber sie sehnte sich nach dem Tag, nachdem die Wirklichkeit zum Holo und das Holo zur Wirklichkeit wurde.

Jedes Mal aufs Neue berührte sie das, was sie nun zu sehen und hören bekam, ganz tief in ihrem Inneren.

Da waren Bewegungen, da war Leben.

Geräusche, die von einer Schriftleiste als Krächzen bezeichnet wurden. Sie stammten von Vögeln, die durch himmelblaue Leere schwebten. Da und dort zeigten sich weiße faserige Strukturen – Wolken! –, die von einer gelben Lichtquelle beschienen wurden. Sonne. Sie war so grell, dass Ossy-Benk nach wenigen Sekunden die Blicke abwenden musste.

»Himmel«, wiederholte sie leise die projizierten Begriffe. »Vögel. Wolken. Sonne. Leben.« Und noch einmal: »Himmel. Vögel. Wolken. Sonne. Leben.«

Sie hätte die Texteinblendung nicht benötigt. Climba Ossy-Benk kannte all diese Worte gut. Sie waren Teil ihrer Sehnsüchte, ihrer Träume, ihrer Hoffnungen.

Honams Verborgenheit kannte Vögel, immerhin vier unterschiedliche Arten, die in dem möglichst einfach gehaltenen Ökosystem existierten. Ihr Tschilpen war kläglich, ihr Lebenswille zäh, aber uninspirierend. Angeblich hatte es vor zwei Generationen drei weitere Spezies gegeben, doch sie waren ausgestorben. Die Vögel hatten schlichtweg die Abgeschlossenheit ihrer kleinen Welt nicht ertragen. Oder waren leichte Beute für ausgewilderte Wachkatzen geworden.

Werden wir auch einmal aussterben? Besser gesagt: Wie lange wird es dauern, bis Honams Verborgenheit untergeht?

Die Frau mit dem rotbraunen Haar, das im Licht der falschen Sonne wie poliertes Kupfer schimmerte, gab sich einen Ruck. Solcherlei Gedanken würden dem Triumvirat der Ewigen ganz und gar nicht gefallen.

Einmal im Monat durfte sie eine Hauptbefragung unter Einfluss von Codynaps über sich ergehen lassen. Und wenn sie dabei diese im Kopf gehorteten Ideen preisgab, drohte ihr und ihrer ganzen Familie die Abstufung. Sie würden das Gemeinheim verlassen müssen. Dann blieben lediglich die Elends- und Geburtendistrikte.

Climba Ossy-Benk ließ die Bilder auf sich einwirken. Fünfzehn Minuten dauerte eine volle Sitzung. Sie nutzte diese Zeit und hob andere Begriffe wie Schätze aus dem Ozean ihrer Sehnsucht:

Meer. Schiff. Korallen.

Wüste. Dürre. Hitze.

Eis. Gletscher. Sprudelndes Wasser.

Im Sichtraum verwirbelten alle Eindrücke und Bilder.

Schließlich legte sich getragene Streichermusik über die Gedanken, und die Holos verschwanden spurlos.

Climba war traurig. Eigentlich sollten der Still- und der Sichtraum für einen Schub an Freude und Lebenswillen sorgen.

Bei ihr war stets das Gegenteil der Fall. Sie sah nicht das, was sein konnte und was das Triumvirat als ferne Zukunft für Honams Vergangenheit haben wollte. Sie sah nur, was einst gewesen war und was sie niemals in ihrem Leben bekommen würde.

*

Climba verließ das Gemeinheim und schlug sich den Mantelkragen hoch. Von der geölten Oberfläche perlte der Regen ab, Wasser spritzte unter ihren schnellen Schritten. Sie lag hinter ihrem eigenen Zeitplan, würde sich wohl fast fünf Minuten verspäten.

Ihr Weg zum Wissens-Parlour führte sie an den Kinderfabriken vorbei über die kleine Brücke und entlang einer lockeren Reihe von Eidechsen, Katzen und Bekkars, ausnahmslos Wachtiere des Triumvirats.

Das nur aus einem massiven Zentralbau und vielen flachen, gedrungenen Türmen bestehende Gebäude, in dem sie arbeitete, wuchs vor ihr an. Der Regen hörte auf.

Nur das Wetterleuchten unter der Kuppel blieb.

Climba steuerte den hellen Turm an, in dem sie arbeitete. Er unterschied sich von allen anderen und war ihnen doch gleich, so wie jeder in Honams Verborgenheit. Einheitlichkeit. Wer ihr an diesem Tag wohl den Verspätungsvermerk notieren würde?

Es war einerlei. In ihren Gedanken waren Sonne. Ozeane. Klirrende Kälte. Flirrende Hitze. Frische Luft.

Honams Verborgenheit mochte das Leben an sich bewahren, aber sie machte das Leben an diesem Ort trübsinnig. Und nicht nur sie: Die meisten waren auf die eine oder andere Weise vom Leben abgestoßen, ohne es aktiv beenden zu wollen.

Das Triumvirat wollte das Richtige, aber erreichte das Falsche. Obwohl sie eine solche Meinung unter keinen Umständen kundtun durfte. Am besten sprach sie nicht einmal zu Hause von ihrem Besuch im Keller, weil sie nicht wusste, ob sie dabei ihr Mienenspiel unter Kontrolle halten konnte. Beim geringsten Verdacht würde Equidur sie sonst zu einer Hauptbefragung bitten.

Die Tür zu ihrer Abteilung im Wissens-Parlour öffnete sich quietschend. Ein gelangweilter Wächter grüßte sie und gähnte. Er trug graue, bequeme Kleidung, unter der sich aber garantiert Schutztechnologie verbarg. Sie kannte sein Gesicht und wechselte daher einige Worte mit ihm. Darauf kam es nun auch nicht mehr an.

*

Climbas Arbeitsplatz war eine kalte, zugige Halle im Zentralbau, den sie sich mit mehr als hundert anderen Forschern teilte.

Gelehrte aus allen Fachrichtungen waren im Wissens-Parlour versammelt. Die meisten arbeiteten der Lebensoptimierung zu, eine besonders ehrenwerte Aufgabe, wie die meisten annahmen, da jenes Ministerium damit beauftragt war, die Lebensumstände der Verborgenen zu verbessern.

Leider wussten einige, zu denen auch Climba gehörte, dass das Ministerium damit auf verlorenem Posten kämpfte. Honams Verborgenheit war arm an Ressourcen, abgesehen von Energie und Stein. Das eine wurde bedarfsdeckend aus der Hitze tieferer Schichten gewonnen, und das andere war überall im Überfluss vorhanden. Dafür waren die meisten anderen Rohstoffe rar, der Boden karg, Wasser in viel zu geringem Ausmaß vorhanden.

»Du bist spät dran«, sagte Sisual Okeno und reichte ihr eine Tasse mit Heißkräutersud. »Hat aber keiner bemerkt.«

»Außer dir. Ich ... wurde aufgehalten.« Sie nahm einen Schluck von dem widerlichen Gebräu. Immerhin: Es wärmte den Magen.

Dann stutzte Climba. Niemand hatte ihre Verspätung bemerkt? Und was war das für ein seltsamer Glanz in Sisuals Augen? So kannte sie den dürren, leicht krummen Mann gar nicht.

»Rück schon raus, bevor du platzt«, sagte sie leise.

»Wir haben Relikte entdeckt. Bei der Fundamentlegung eines Höhen-Bauernhofs.«

»Das ist alles?«

»Eben nicht. Ein Arbeiter hat etwas beschrieben, das wie eine uralte Gebäudestruktur aussieht. Eine, die wir kennen.«

»Ein ... ein Observatorium?!«

»Nicht so laut!« Okeno zog sie in eine Ecke, die geschützt war. Niemand außer ihnen beiden wusste davon, dass man sich dort ungestört unterhalten konnte.

Nachdem Okeno sich nach allen Seiten umgesehen hatte, fuhr er fort: »Ja. Vermutlich ein Observatorium. Das vierte in Honams Verborgenheit. Wenn ich den Worten meines Verbindungsmanns trauen kann, ist es verkapselt und äußerlich in gutem Zustand.«

Ossy-Benk erlaubte sich noch immer nicht, sich zu freuen. »Was wurde an die Meldestelle weitergegeben? Wer weiß Bescheid?«

»Niemand außer dir, mir und meinem Kontaktmann. Er ist ein einfacher Arbeiter. Ich kenne ihn von früheren Begegnungen. Seine Kollegen wissen den Fund nicht richtig einzuschätzen. Ihm ist es gelungen, eine vorläufige Sperre des Geländes durchzusetzen, ohne dass jemand neugierig wurde.«

»Du meine Güte! Du meinst, wir haben allein Zugang zu einem Observatorium, das womöglich zur Gänze erhalten ist?«

»Nicht mehr lange, wenn du so laut redest, Ossy-Benk! Und ja. Falls wir Glück haben.«

»Was hast du deinem Informanten geboten?«

»Alles, was ich an Erspartem hatte, und alles, was du an Erspartem hattest. Lebensmittelkarten, Luxusgüter, Ansprüche auf zehn leistungsfreie Tage ...«

»Das hast du alles in meinem Namen ausgelobt?«

»Hättest du es anders gemacht?«

»Natürlich nicht.« Climba lächelte ihre Gelegenheitsaffäre an. Es war sonderbar, Fröhlichkeit zeigen zu dürfen. Vielleicht verband sie das. Fröhlichkeit im Gemeinheim mit dem Ü-Freund war ein Luxus, den sie sich nicht leisten durfte. »Bleiben nur die Fragen nach dem Wann und dem Wie.«

»Uns wurde befohlen, das Gelände noch heute zu sichten. Wir entscheiden, ob die Arbeiten auf Dauer unterbrochen werden sollen und wir eine offizielle Grabungsstätte daraus machen.«

Climba starrte ihn ungläubig an. Mochte er noch so unattraktiv aussehen, er hatte etwas, das kein anderer Mann bieten konnte. Er lebte.

»Wie hast du das bloß fertiggebracht?«

»Ich habe eine sich bietende Gelegenheit ergriffen. Das ist unsere beste Chance seit Langem, mehr über Honams Verborgenheit zu erfahren. Zu beweisen, dass zwischen unserer Wahrheit und der Wahrheit, die über allem steht, ein Unterschied ist. Damit wir beweisen können, dass nicht alles richtig ist, was unsere ... gütigen Herrscher behaupten.«

Sie drückte seine rechte Hand. Ganz fest.

Wie mutig er war.

Sein Mut musste auch ihrer sein.

Er gab ihr einen Papierausdruck. Keine Folie, die ließ sich nicht so leicht vernichten. Sie hielt das Blatt hoch, sodass sie es besser erkennen konnte. Es zeigte die verwischte Aufnahme einer Gebäudestruktur, die zweifelsohne mithilfe alter, fortschrittlicher Technik errichtet worden war. An der Unterseite, wo die Arbeiter auf das Gebilde gestoßen waren, zeigte sich der Ansatz jenes charakteristischen Dorns, den alle bisher entdeckten Observatorien aufgewiesen hatten.

Climba zerknüllte das Papier und stopfte es sich in den Mund. Ihr Blick verschwamm. »Das könnte es wirklich sein«, sagte sie, nachdem sie geschluckt hatte.

»Du hast feuchte Augen.« Sisual Okeno wischte ihr zärtlich über die Wangen. »Du darfst dir unter keinen Umständen was anmerken lassen, wenn wir jetzt mit der morgendlichen Routinearbeit loslegen. Schaffst du das?«

»Frag nicht so blöd!«, schniefte sie und schüttelte den Kopf. »Ich bin einfach nur aufgeregt. Glücklich. Durcheinander. Ich weiß nicht, was ich sagen soll ...«

»Lass uns hoffen, dass wir etwas über unsere Vergangenheit erfahren. Etwas, das uns hilft.«

Er sah sich nochmals nach allen Seiten um, zog sie an sich und küsste sie mit einer Intensität, die sie bei jedem anderen vermisste.

Wolken. Sonne. Leben.

*

»Ewiges Leben ...? Das ist vor allen Dingen ein Preis.

Ich hasse es, ihn zu bezahlen, aber was bleibt mir übrig?

Ich hasse es, mich zu erinnern, weil jede Erinnerung mich an einen Verlust erinnert.

Wer wird sich überhaupt an mich erinnern – und weshalb sollte er das tun?

Erinnern ist Gift. Weil es schmerzt.

Man muss den Menschen sagen, woran sie sich erinnern dürfen, damit sie es auch wollen. Ich dachte, es wäre ganz leicht.

Ich habe mich getäuscht. Ich wusste oft nicht einmal, was für mich selbst das Beste war.

Hätte ich sonst dieses verfluchte Ding angenommen, an dem mein Leben hängt? Hätte ich mich sonst verliebt in eine Frau, die mich dann allein zurückließ? Wollte ich meine Kinder sterben sehen, als ich mich entschied, sie zu haben?

Nein.

Das ist das Leid der Unsterblichen. Diese Verantwortung. Für andere zu entscheiden. Die Fehler zu sehen, die das mit sich bringt.

Ich hasse es, zu entscheiden. Ich will das nicht. Ich will nicht schuldig sein am Leid.

Aber selbst wenn nicht ich es bin ... jemand entscheidet immer. Hauptsache, das bin nicht ich.

Du fragst, was bleibt?

Nun ... ich. Ich selbst. Meine Erinnerungen. An Copperworld, wo ich geboren wurde. An das Angebot, das man uns machte. An die Enttäuschung, als ich feststellte, dass mein Jugendgarant Aussetzer hat. An das, was wurde.

Aber das alles ist so entsetzlich negativ. Wäre alles so, gäbe es mich längst nicht mehr. Das Positive ... für mich ... ist die Musik. Musik stirbt nicht, weißt du? Wenn du sie im Herzen trägst, trägt sie auch dich. Du verstehst das wahrscheinlich nicht, ich habe dich nie eine Melodie pfeifen hören. Oder summen.

Vergiss, was ich gesagt habe. Ich muss mich um mich selbst kümmern.

Ich muss das tun, was von mir verlangt wird, dann schmerzt es nicht, daran zu denken, denn mein Handeln ist dann nicht meine Verantwortung.

Ich wünschte, ich könnte vergessen.

Vergessen ist eine Gnade. Vielleicht auch das Vergessenwerden.«

aus: Zanoshs Protokolle der Unsterblichen:

Buch der Triumvirn: Cappleshort

Perry Rhodan-Paket 61: Mythos (Teil1)

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