Читать книгу Perry Rhodan-Paket 61: Mythos (Teil1) - Perry Rhodan - Страница 107
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Vertrauen und Philosophie
Während Perry Rhodan durch die Gänge der BJO BREISKOLL ging, sehnte er sich nach der Heimat.
Daran änderte selbst die Tatsache nichts, dass die ganze Galaxis glaubte, diese Heimat hätte nie existiert.
Es hätte Terra nie gegeben, hieß es.
Ein lächerlicher Gedanke ...
... hätte man glauben müssen.
Die RAS TSCHUBAI hatte zwar mit ihrer Besatzung ein halbes Jahrtausend übersprungen, aber in nur fünfhundert Jahren konnte das Wissen um eine so immens bedeutende Welt nicht verloren gehen. Unmöglich! So lautete Rhodans klare Überzeugung, als er in dieser Zeitepoche erwachte, vor wenig mehr als zwei Wochen, am 8. September 2045 NGZ. Doch er war eines Besseren belehrt worden, wenn er es auch nach wie vor nicht in vollem Umfang verstand.
Momentan ging er mit gemessenen Schritten zu Zemina Paath, der geheimnisvollen Fremden, die ihn an Bord der RAS TSCHUBAI geweckt hatte. Er ließ seine Gedanken schweifen, ein Luxus, den er sich zu selten gönnen konnte. Seit seinem Erwachen überschlugen sich die Ereignisse, und Ruhe fühlte sich wie ein Fremdwort in einer nie gehörten Sprache an. Ihm blieb nicht sonderlich viel Mußezeit – mitten in der sogenannten Cairanischen Epoche, die die Milchstraße offenbar auf den Kopf gestellt hatte.
Andererseits hatte er rund fünfhundert Jahre lang geruht.
Zemina hatte ihm als Erste berichtet, dass es Terra niemals gegeben habe. Die Beweise für diese bizarre Annahme klangen schlicht überwältigend – die ganze Galaxis glaubte es. Es kursierten die unterschiedlichsten Legenden darüber, woher die Terraner kamen und wieso in ihren Erzählungen ein mythischer Ursprungsplanet eine Rolle spielte.
Doch eines gab es offenbar nicht: die Erde.
Perry Rhodan hatte sich noch nicht mit eigenen Augen davon vergewissern können; es gab allerdings keinen Anlass, an diversen abgehörten Botschaften und Funksprüchen zu zweifeln – im Solsystem zog kein Planet namens Terra seine Bahn.
Und ein Flug dorthin, um nach dem Rechten zu sehen, kam nicht infrage, egal, wie sehr es ihn drängte. Die Gründe dafür wollte er mit Zemina erörtern – einer der vielen Punkte für das kommende Gespräch.
Er schüttelte alle Gedanken ab, als er sein Ziel erreichte.
Er klopfte an die Tür und wartete ab.
Nichts tat sich.
Er klopfte wieder.
Bald hörte er Schrittgeräusche, dann öffnete sich die Tür. Zemina sah ihn verwundert an. Die verwirrend großen, hellblauen Augen im sonst menschlich wirkenden Gesicht leuchteten beinahe. Die dünnen Augenbrauen wirkten wie rasiert. »Was hast du getan?«, fragte sie.
Rhodan grinste. »Geklopft. Ein Akt der Höflichkeit.«
»Mit deinen Händen? Wozu gibt es das positronische System, das deinen Besuch ankündigt?« Ihre Stimme klang angenehm. Sie sprach fließend Interkosmo, gewissermaßen veredelt durch einen fremdartigen Akzent.
»Manchmal finde ich es nett, altmodisch zu sein.« Er lächelte. »Vielleicht ein Erbe meiner Erziehung. Darf ich eintreten?«
Sie umgriff das Türblatt, schob es weiter auf. Zwei Finger fehlten, auf den anderen saßen metallische Fingerhüte. »Bitte.«
Sie ging beiseite, und er sah ihre schlanke Gestalt in der einteiligen Kombination aus von blauen Linien durchzogenem, rötlich schimmerndem Stoff. Seit er sie kannte, trug sie diese Kleidung. Sie lag eng an, umschloss sogar die Füße und zeichnete die Zehen nach.
Rhodan trat ein.
»Du kommst allein?«, fragte Zemina. »Ohne meine Bewacherin?«
»Fühlst du dich von Siad Tan belästigt?« Die Oxtornerin bewohnte gemeinsam mit ihrem normalerweise etwas schläfrig wirkenden Okrill das direkte Nachbarquartier und behielt Zemina stets im Auge, sobald diese ihren Privatraum verließ. Dort genoss sie tatsächliche Privatsphäre.
»Und wenn es so wäre?«
Der Terraner hob die Schulter, obwohl sie diese Geste wahrscheinlich nicht verstand. Sie war keine Terranerin, welchem Volk auch immer sie angehören mochte – sie wusste es angeblich selbst nicht, weil ihr Teile des Gedächtnisses fehlten, genau wie ihrem Körper. »Dann könnte ich es nicht ändern. Das heißt, ich könnte es schon. Aber ich will es nicht.«
»In dem Fall belästigt sie mich nicht. Es wundert mich nur, dass sie nicht sofort aufgetaucht ist, als ich die Tür geöffnet habe. Wie sonst jedes Mal. Ich hätte ja planen können, zu fliehen und das Schiff mit bloßen Händen zu zerreißen.«
»Hast du dir da nicht etwas viel vorgenommen?«, fragte Rhodan trocken.
»Traut ihr mir nicht alles zu?«
»Nein. Aber ich vertraue dir, das weißt du.« Wenn ich auch selbst nicht so recht weiß, warum. »Deshalb bist du Gast in der BJO BREISKOLL und keine Gefangene. Sieh Siad Tan als jemanden an, der auf dich aufpasst. Damit es nicht zu Problemen kommt.«
»Nett gesagt.«
Rhodan ging weiter in das Quartier. Zemina hatte alles bei der Standardausstattung belassen, und er glaubte nicht, dass sie Schränke, Tisch oder Stühle auch nur angerührt hatte. Ebenso wenig das Bett, dessen von Siads Okrill zerfetzte Decke längst ausgetauscht war. Sie schlief in ihrem Koffer, dem Paau, der in einer Ecke des Raumes stand, und mehr schien sie nicht zu benötigen.
Da sie sich mit terranischen Gepflogenheiten wie Klopfen und sonstiger Höflichkeit nicht auskannte, setzte er sich unaufgefordert. »Du weißt, dass du bei uns willkommen bist«, sagte er. Er formulierte es absichtlich nicht als Frage.
»Du gibst mir dieses Gefühl, ja.«
»Nur ich?«
»Nicht nur.« Sie kam auf ihn zu, zögerte ein wenig, nahm den zweiten Stuhl vom Tisch weg und setzte sich ebenfalls. Dabei wirkten ihre Bewegungen unsicher. Der sonderbare Stoff ihres Einteilers schillerte, als das Licht der Deckenlampe schräg auf ihn fiel. »Du hast mir die Frage noch nicht beantwortet. Wieso kommst du ohne meine Aufpasserin?«
»Ich habe Siad im Vorfeld gebeten, uns allein sprechen zu lassen.«
»Also brauche ich mir keine Illusionen zu machen – sollte ich später die Tür erneut öffnen, wird sie sofort zur Stelle sein?«
Rhodan lächelte. »Es ist für jeden gut, sich nicht irgendwelchen Illusionen hinzugeben, sondern in der Wahrheit zu leben. Ich versuche das immer, sogar wenn es nicht unbedingt einfach ist. Es scheint mir, als wären Täuschungen allgegenwärtig.«
»Warum bist du hier?«, fragte Zemina. »Doch nicht etwa, um mit mir zu philosophieren?«
»Es ist ein guter Zeitvertreib, und ich bin sicher, du könntest einige interessante Gedanken beisteuern, und das, obwohl du vieles vergessen hast.«
»Was mir in meinem Verstand und an meinem Körper fehlt«, sagte sie und legte ihre Hände gespreizt auf die Tischplatte, sodass das Fehlen der Finger geradezu ins Auge sprang, »wurde mir geraubt. Ein willentlicher Akt der Kriminalität. Es als einfaches Vergessen zu bezeichnen, ist eine Lüge. So viel zu Selbsttäuschung und Wahrheit, Perry. Ich werde denjenigen aufspüren, der mir das angetan hat.« Sie zog den Arm zurück. Die metallenen Hüte kratzten auf der Oberfläche.
Ob die Fingerkuppen darunter ebenfalls fehlten? Rhodan hatte Zemina nie danach gefragt, und dies schien ihm ebenfalls nicht der geeignete Moment dafür. Sie war wütend und verletzt, und er hatte das Gefühl, dass sie vollkommen offen und ehrlich zu ihm war. Zum ersten Mal.
»Wenn ich dir helfen kann, den Dieb zu finden, unterstütze ich dich gerne«, sagte er.
»Danke. Aber deswegen bist du nicht zu mir gekommen. Also, Perry – was willst du wirklich?«
Terra entdecken und der ganzen Galaxis beweisen, dass es meine Heimat gibt, dachte er.
»Mit deinem Koffer sprechen«, sagte er.
*
»Also besuchst du eigentlich meinen Paau, nicht mich«, sagte sie.
»Bist du enttäuscht?«
Sie sah ihn an. »Eher vielleicht verletzt? Wer weiß das schon. Es braucht dich nicht zu scheren.«
»Doch. Es ist mir wichtig, wie du dich fühlst. Und ohne dich hätte ich nie vom Paau erfahren. Oder seinen Fähigkeiten.« Rhodan winkte ab. »Er ist ein Gegenstand, nicht mehr, obwohl er kommunizieren kann. Hochstehende Technologie. Lass es mich so sagen: Ich bin zu dir gekommen, um deinen Rat zu erhalten. Wie soll ich mit deinem Koffer umgehen? Wird er mir etwas offenbaren?«
Sie lachte, hell wie ein Sonnenstrahl an einem Nebeltag. »Du schmeichelst mir listig, Perry. Ich halte allerdings nicht viel von Ratgebern.«
»Wieso nicht?«
»Es gibt eine Geschichte in meinem Volk, die ...« Sie brach ab. Atmete tief durch. Und sah verwirrt aus.
»Was ist mit dir?«, fragte er.
»Ich habe mich daran vorher nie erinnert.«
»Die Geschichte gehört also zu dem Teil deiner Erinnerung, den du verloren hast?« Er hob entschuldigend die Hand. »Die man dir geraubt hat?«
»Ich weiß nicht. Was mir fehlt, kann nicht einfach zurückkommen. Es ist entfernt. Aus mir herausgeschnitten, körperlich oder mental. Doch es gibt ... wie soll ich sagen ... es existieren Randbereiche. Sie sind dunkel, aber sie können erhellt werden. Ich erlebe es gerade nicht zum ersten Mal. Dort liegt allerdings nie etwas Wichtiges. Nur Erzählungen. Geschichten. Das Aussehen von Kunstwerken. Der Gedanke an ein gemaltes Bild.«
Rhodan stand auf, sah nachdenklich auf die kahle Wand ihres Quartiers. »Ich halte all das sehr wohl für wichtig, Zemina. Weil ohne all das viel im Leben fehlt. Gerade du weißt, wie es sich anfühlt, wenn man nicht komplett ist. Willst du diese neue Erinnerung mit mir teilen?«
»Dir eine Geschichte erzählen?«
»Warum nicht?«
»Es gab in meinem Volk einmal einen Ratgeber. Er hieß Tassalo, und viele kamen zu ihm, um seine Meinung zu hören. Sie zahlten bis zur Hälfte ihres Besitzes an ihn, so sehr wurde sein Rat geschätzt. Doch eines Tages brach ein Krieg aus, und die gegnerischen Anführer wandten sich beide an Tassalo. Er riet dem einen wie dem anderen, wie sie den Sieg erringen konnten, ohne unnötiges Blut zu vergießen. An diesem Tag stand jedoch ein zweiter Ratgeber auf, dessen Name in der Historie verschollen ist. Er riet den Gegnern ebenfalls, und einer verwarf den Rat des Tassalo. Er siegte und schlachtete das befeindete Volk ab. Tassalo hörte es, ging in sein Haus, ordnete seine Dinge und erhängte sich.«
»Das ist keine schöne Geschichte.«
»Habe ich das behauptet? Aber sie zeigt, dass Ratschläge letztendlich zu Blut und Tod führen, und dass sie den Ratgeber nicht glücklich machen, mögen sie noch so weise sein.«
»Hältst du sie für wahr?«
»Was ist Wahrheit?«
Rhodan lachte. »Siehst du? Du kannst einiges beitragen, wenn es ums Philosophieren geht. Etwas, das dein Koffer nie könnte. Darf ich nun zu ihm?«
»Würdest du zulassen, dass ich dich daran hindere?«
Er dachte kurz nach. »Ja.«
Sie erhob sich ebenfalls, ein wenig unbeholfen oder mit zu viel Elan. Der Stuhl fiel um, und sie beachtete es nicht. »Komm mit.«
Sie hätte ihn nicht führen müssen – den Paau in einer Ecke des Raumes konnte er schließlich kaum übersehen.
Er stand hochkant und war fast genau 1,60 Meter hoch, einen Meter tief und einen Meter breit. Das Material der Hülle schimmerte metallisch blau – allerdings in einer Tonfärbung, wie Rhodan sie sonst nie gesehen hatte. Entrückt und fern.
Es gab weder Schloss, Fuge noch Naht, doch er ließ sich öffnen, wie Rhodan wusste. Die Temperatur des Paau lag konstant bei 37,7 Grad Celsius, ähnlich wie bei einem Terraner. Wohl ein Zufall. Rhodan erinnerte sich, wie es sich anfühlte, den Koffer zu berühren; die Oberfläche fast wie Haut.
Zemina schlief darin, und gemeinsam mit ihr war Rhodan in dem Koffer gereist – er funktionierte sowohl als Fluggerät als auch als Selbsttransmitter. Der Paau vermochte sich mit einem oder zwei Passagieren zu versetzen.
Eine hochstehende Technologie, deren Niveau und Ursprung Perry Rhodan vor Rätsel stellte.
Als gäbe es nicht genug ungelöste Fragen in dieser Zeit, in die es Rhodan und die Leute der RAS TSCHUBAI verschlagen hatte.
Zemina legte die Hand auf eine Seitenfläche, und ein wohltönender Gongschlag ertönte. Sie verschob die Finger, klopfte, als würde sie Schlagzeug spielen. Der Paau gab Trommelschläge in einer fremdartigen, seltsam fröhlichen Melodie von sich.
Rhodan fragte sich, ob sie den Koffer gewissermaßen erweckte ... oder ob sie musizierte. Beim letzten Mal war sie anders vorgegangen.
Was immer sie tat, Rhodan fühlte sich dabei wohl.
Unwillkürlich kam ihm in den Sinn, ob es dem Paau wohl genauso erging. Stimmte Zemina ihn vielleicht milde? Schmeichelte sie dem Koffer? So, als würde man Gucky das Fell kraulen, dachte er und wollte gerade nachfragen, als Zemina den Paau ansprach.
»Ich habe Besuch. Du kennst ihn.«
»Perry Rhodan«, antwortete der Koffer und verzichtete zu Rhodans Überraschung vollkommen auf die Floskel Ich bin der Paau, die er womöglich nur für »Gastnutzer« reserviert hatte. Die Stimme grollte allerdings weiterhin wie ferner Donner. Die Oberfläche blieb dabei völlig unbewegt, die Worte kamen von überall und nirgends. »Er ist nicht unbekannt.«
»Bist du bereit, mit ihm zu sprechen?«
»Warum nicht?«
Rhodan trat näher, streckte die Hand aus und sah Zemina fragend an.
»Du musst nicht«, sagte sie.
Also kann und darf ich, dachte der Terraner und legte die Fingerspitzen auf eine der gerundeten Kanten. Es fühlte sich richtig an. »Du bist ein wertvolles Artefakt«, sagte er.
»Das ist der Paau«, stimmte der Koffer zu.
Rhodan fiel auf, dass er nunmehr das Pronomen ich vermied und seltsam geschraubt in der dritten Person von sich sprach. Wollte er damit indirekt ausdrücken, kein Individuum zu sein, über kein Bewusstsein zu verfügen? Oder trat er bewusst hinter seine Besitzerin zurück? Oder interpretierte Rhodan zu viel in die Worte eines Gegenstands hinein?
Der Terraner entschied sich, offensiv zu fragen. Was schadete es, in die Vollen zu gehen? »Was weißt du von der Geschichte der Milchstraße in den letzten 500 Jahren?«
»Der Hyperfunkverkehr gibt viele Informationen.«
»Zu viele«, sagte Rhodan.
Natürlich hörte ANANSI auf der RAS TSCHUBAI und genauso OXFORD, die Hauptpositronik der BJO BREISKOLL, und mit ihnen eine ganze Heerschar von Leuten den Hyperfunk ab. Man sichtete die Informationen ... doch es herrschte in dieser Hinsicht reines Chaos.
Ja, es gab Informationen. Zu nahezu jedem Ereignis kursierten allerdings eine Menge einander widersprechender Aussagen. Die sogenannte Datensintflut hatte jegliches Wissen korrumpiert. Fand man endlich eine Feststellung etwa über das Solsystem, dauerte es nicht lange, bis man das Gegenteil als Stichwort aus irgendeinem Datennetz herausfilterte. Manches schien sich zu bestätigen oder zu verdichten, aber echtes Tatsachenwissen war mehr als rar. Noch blieben die aktuelle Milchstraße und ihr Gefüge weitaus fremder und unbekannter, als es Rhodan lieb war.
Weil der Koffer nicht reagierte, ergänzte der Terraner: »Ich hoffte, dass du Fakten kennst, die ...«
»Diese Information steht nicht zur Verfügung«, fiel der Paau ihm ins Wort.
Er ahnte, wo das alles hinführen würde. »Wann genau sind die Cairaner aufgetaucht, und in welchem Verhältnis stehen sie zu den Ladhonen?«, fragte er, um irgendetwas zu fragen.
»Diese Information kann aus bestimmten Gründen nicht mitgeteilt werden.«
»Also weißt du es nicht?«
»Diese Information steht nicht zur Verfügung.«
Rhodan ließ die Fingerspitzen über eine Seitenfläche des Koffers wandern. Ein hoher Summton erklang, ein wenig ähnlich dem Vibrieren eines straff gespannten Fells einer Trommel. Er sah Zemina an. »Er ist nicht sehr redselig.«
»Habe ich das behauptet?«
Rhodan grinste. Genau diese Formulierung hatte sie vorhin schon verwendet, als es um die Geschichte über die beiden Ratgeber ging. »Hast du ihn gebaut?«, fragte er. »Oder jemand aus deinem Volk?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß ja nicht einmal, welchem Volk ich angehöre!«
Demjenigen, das sich die Geschichte des weisen Ratgebers Tassalo erzählt, dachte Rhodan. Er würde OXFORD nach diesem Namen und dieser Erzählung suchen lassen. Ein vager Hinweis, aber vielleicht gab es einen Zufallstreffer.
Seltsam – er glaubte ihr sofort, während er bei dem Paau das Gefühl hatte, hingehalten zu werden. »Ich wüsste gerne mehr über die Milchstraße dieser Zeit.«
»Willst du wissen, wie sie aussieht?«, fragte der Koffer.
»Selbstverständlich.« Natürlich kannte er die heimatliche Galaxis, besser als nahezu alle anderen. Er hatte sie ein unsterbliches Leben lang erforscht, zahllose Holoaufnahmen gesehen und tausendfach aus Raumschiffen nach draußen geblickt. Der Anblick der Sterne und ihrer Majestät ergriff ihn jedes Mal wieder aufs Neue.
Der Paau projizierte ein münzgroßes Holo vor sich. Es schwebte greifbar nah vor Zemina. Wenn sie den Arm ausstreckte, könnte sie die Faust darum schließen.
Rhodan kannte dieses Prinzip. Während der Reise im Koffer hatte dieser so seine Umgebung gezeigt – winzig und detailreich. Doch das aktuelle Holo übertraf das damalige bei Weitem. Eine Unmenge an optischen Daten ließ sich erahnen – die ganze Galaxis komprimiert auf die Größe einer Münze.
»Meine Augen sind nicht gut genug, um damit etwas anfangen zu können«, sagte der Terraner.
»Meine ebenso wenig«, meinte Zemina.
»Diese Beschränkung ist bedauernswert«, donnerte der Paau.
»Kannst du die Daten des Holos an das Schiff übermitteln?«, fragte Rhodan.
»OXFORD ist es möglich, sie zu empfangen«, antwortete der Koffer.
Also kannte er die Schiffspositronik zumindest mit Namen. Ob es bereits Kontakt oder gar Austausch gegeben hatte? Hatte sich der Paau womöglich Wissen angeeignet, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre?
Der Gedanke weckte ein mulmiges Gefühl.
»OXFORD?«, sagte Rhodan.
Die Positronik reagierte auf den Sprachbefehl. »Ja, Perry?«
»Du erhältst ein Datenpaket. Untersuche es.« Den Zusatz auf gefährliche Beigaben wie Schadprogramme konnte er sich sparen, denn das verstand sich von selbst, ohne dass er es vor Zemina und ihrem Koffer aussprach. »Danach projiziere das Holo vergrößert für uns.«
OXFORD bestätigte.
Scheinbar geschah nichts während der nächsten Sekunden, ja sogar Minuten – eine erstaunlich lange Zeit für Positroniken, in der gewaltige Datenmengen ausgetauscht und analysiert werden konnten.
Rhodan sah zu, wie Zemina offenbar gedankenversunken ein paar Schritte zurückging, sich gegen die Wand lehnte und unbewegt stehen blieb.
Dann ploppte das Holo auf, und es erfüllte den ganzen Raum. Sterne tanzten auf den Wänden, über die Möbel und die beiden Menschen, weil die Wiedergabe sich langsam drehte.
Das perfekte Abbild zeigte ohne Zweifel die Milchstraße, aber Rhodan sah sofort, dass etwas daran seltsam war.
Erstes Zwischenspiel
Tsaras roch das Fleisch des Yiru-Löwen, das über dem kleinen Feuer briet.
Das Holz der geborstenen Schuppenwand brannte gut. Desach und Lirach hatten es hinab in den Krater geschleppt. Sie lagerten gerade hoch genug, dass sie die giftigen Schwaden nicht erreichten, die aus dem blubbernden Salzsee unter ihnen aufstiegen.
Die Umgebung behielten sie genau im Auge – zwar hofften sie, dass der Rauch und der Duft den Krater nicht verlassen würden ... aber sicher konnten sie nicht sein.
Denn auf der Ausweglosen Straße durfte man nie sicher sein.
Sie befanden sich inmitten einer der wenigen Erhebungen in dieser seltsamen, künstlich erschaffenen Welt des Straflagers, das letztendlich eine spezielle Raumstation war, die im Orbit eines Planeten schwebte, dessen Name Tsaras längst vergessen hatte.
Manche sagten, es gäbe Hunderte Gefangene, andere sprachen von Zehntausenden. Tsaras hielt eher einige Tausend für wahrscheinlich, doch Beweise gab es dafür nicht. In den meisten Gegenden, wie etwa diesem Krater oder den Geröllwüsten rundum, traf man kaum auf jemanden – im Ankunftsdorf, wo es hin und wieder Lebensmittellieferungen gab, tummelten sich häufig zwei-, dreihundert Lebewesen.
Wie viele sich über das ganze Straflager verteilten, wusste niemand. Außer den Cairanern, die ihre Gefangenen abluden und wahrscheinlich vergaßen.
Die Ausweglose Straße bildete die Form eines Rings, dessen Öffnungen zu beiden Seiten ein von innen undurchsichtiges, glasartiges Material verschloss.
Das Leben spielte sich auf der Innenseite ab, die Schwerkraft zeigte jeweils zum Ring hin. Blickte man nach oben, sah man nicht etwa in einen Himmel, sondern konnte die Oberseite erahnen – ein Anblick, der Tsaras jedes Mal deprimierte.
Theoretisch sollte es ein Leichtes sein, immer weiterzulaufen und diese Innenwelt einmal zu umrunden ... welche Entfernung man dafür zurücklegen musste, wusste Tsaras nicht. Wohl etliche Kilometer. Eigentlich kein Problem, aber wer nicht ständig aufpasste, sich nicht versteckte, nicht unablässig bereit war zu fliehen, fand den sicheren Tod.
Von einem der Raubtiere zerrissen.
Bei einem künstlich ausgelösten Erdbeben verschüttet.
In einem unberechenbar vagabundierenden Feld mit mörderisch erhöhter Schwerkraft zerquetscht.
Von einer Zone ohne Lebenserhaltung eingeholt, in der man erstickte oder erfror.
Vielleicht fiel man auch einem anderen Gefangenen zum Opfer, der glaubte, etwas rauben zu können – Kleidung, Nahrung, ein simples Messer.
»Pass auf!«, rief Desach.
Alarmiert sprang Lirach auf, der bislang den improvisierten Holzspieß auf dem notdürftigen Haltegestell über dem Feuer gedreht hatte, auf dem die Fleischstücke garten. Er sah sich um, angespannt, zur Verteidigung bereit.
Sein Bruder lachte. Ein selten gehörter Klang. »Kein Angreifer, du Idiot! Das Fleisch!«
»Was?«, fragte Lirach verwirrt.
»Es verkohlt! Dreh schneller!«
Diesen Gefallen konnte ihm sogar Tsaras tun. Die Hitze des Feuers fühlte sich unendlich gut an und vertrieb jede Starre aus seinem Leib. Seine Bewegungen flossen geschmeidig und locker. »Ich übernehme das.«
Lirach setzte sich, zog die Beine an und legte das Kinn auf den Knien ab. »Was sollen wir als Nächstes tun?«
»Wir essen«, sagte Desach.
»Du weißt, dass ich das nicht gemeint habe. Wie geht es ... überhaupt weiter? Immer rennen, fliehen, kämpfen, so gut wir es eben können, während unsere Vitalenergie abgesaugt wird ... bis es uns irgendwann erwischt?«
»So läuft das Leben als Gefangener. Uns bleibt keine andere Wahl.«
Doch, dachte Tsaras.
»Doch«, sagte Lirach zu seiner Überraschung.
»Und die wäre?«
»Die Cairaner haben uns hierher gesteckt und rechnen damit, dass wir genau das tun. Ich will nicht länger ihre Erwartungen erfüllen.«
»Sondern?«
»Widerstand leisten.«
Nach Lirachs Worten schwiegen alle.
Tsaras drehte den Fleischspieß, und der Duft wurde immer köstlicher. Seine Zunge fühlte sich ausgetrocknet und sehnsüchtig an. »Wie stellst du dir das vor?«, fragte er schließlich. »Auszubrechen ist unmöglich. Es gibt keinen Weg!«
»Wir können sterben«, sagte Lirach tonlos. »Ohne Not. Ohne dass die Cairaner uns dazu zwingen. Aus freier Entscheidung. Die erste freie Entscheidung seit Monaten.«
Sein Bruder ballte die Hände zu Fäusten. »Du willst also aufgeben, dich umbringen und es Widerstand nennen, damit du dich besser fühlst?«
»Falsch. Damit ich den Cairanern und ihrem verfluchten Vital-Suppressor nicht länger meine Lebensenergie liefere!«
»Das ist Unsinn!«
»Ach ja? Und hier von Tag zu Tag vor uns hinzuvegetieren, ist die letzte Weisheit, ja?«
»Still!«, herrschte Tsaras sie an. »Alle beide! Ich weiß nicht, wie Terraner das beurteilen, aber für Sliwaner ist das Leben ein Geschenk.«
»Als der Löwe angegriffen hat, wolltest du es wegwerfen«, sagte Lirach.
»Um euch zu retten!«
»Also zwingt ihr mich, weiter zu leiden?«, fragte Lirach.
»Nein«, widersprach Tsaras. »Nur dazu, weiterzuleben. Du bemerkst den Unterschied hoffentlich selbst.«
»Warum?«
Desach stand auf, ging zu seinem Bruder und setzte sich dicht neben ihm. »Weil wir damit wirklich Widerstand leisten. Die Cairaner haben uns weggeschlossen. Uns aus dem Leben entfernt und in diese Raumstation gesteckt. Sie wollen uns loswerden. Aber eines Tages, irgendwann, wird jemand kommen und gegen sie aufstehen.«
»Und dieser Held fliegt direkt von Terra hierher, was?«, fragte Lirach höhnisch. »Wach auf! Terra hat es nie gegeben, und es kommt niemand, der ...«
»Aber es gibt den Residenten im Ephelegonsystem, und solange ich das weiß, habe ich ...«
»... Hoffnung? Glaubst du das wirklich?«
Desach nickte.
»Liefere mir einen Beweis. Irgendeinen.«
»Das kann ich nur, wenn wir weiterleben.«
Plötzlich bewegte sich etwas, vielleicht fünfzig, sechzig Meter von ihnen entfernt, ein Stück zur Seite und an der Kraterwand nach oben versetzt. Eine Gestalt erhob sich hinter einem Felsbrocken.
Sie stand so gebückt, dass die beiden langen Arme fast bis zum Boden hingen. Von der Hüfte aufwärts zog sich ein schwarzer Körperpanzer, der nur die Vorderseite des Kopfes freiließ. Sechs dunkelrote Augen gruppierten sich dort ringförmig um einen zentralen Mund, der offen stand und einen Kreis nadelspitzer Zähne freilegte.
Ein Aankhpanali!
Es lebten, nein, vegetierten etliche von ihnen in der Ausweglosen Straße – offenbar war dieses Volk bei den Cairanern unbeliebt, wenn sie so viele gefangen nahmen. Tsaras wusste sonst nichts über sie, denn in seinem früheren Leben hatte er nie von diesen Wesen gehört.
»Darf ich zu euch kommen?«, rief der Fremde. Seine Stimme klang weich und sanft.
Desach stand auf, zog unmissverständlich sein Messer. »Was willst du?«
»Ich werde euch nichts wegnehmen!«
»Also hat dich nicht der Duft des Bratens angelockt?«
»Doch«, gab der Aankhpanali unumwunden zu, während er einige Schritte näher kam. Kleine Steinchen lösten sich bei seinen Füßen und kullerten in die Tiefe. »Natürlich habe ich Hunger. Wie jeder. Aber ich stehle nichts von eurem Eigentum. Bei euch gibt es Feuer. Wärme. Dort unten außerdem Wasser.« Er wies auf den See.
»Vergiss es. Es ist nur Salzwasser«, sagte Desach. »Wieso sollten wir dir glauben, dass du kein Dieb bist?«
»Weil ich den Braten an mich nehmen könnte, wenn ich wollte.«
»Ach?«
Der Spieß ruckte plötzlich aus Tsaras Griff und schwebte einen halben Meter in die Höhe. Reflexartig fasste der Sliwaner danach, doch er stieß ihn nur an, sodass er trudelte. Das Fleisch rutschte herab, löste sich und klatschte auf den Boden, während das Holz weiterhin in der Luft hing.
»Entschuldigt«, sagte der Fremde. Der Spieß fiel ins Feuer. Funken stoben auf und verpufften. »Ich habe meine Gabe nicht gut unter Kontrolle.«
»Du bist Telekinet?«, fragte Lirach, packte den Waffenarm seines Bruders und drückte ihn hinab.
Der Aankhpanali kam näher. »Leider nur schwach, und wegen des Vital-Suppressors kann ich kaum etwas bewirken. Nur ein bisschen harmlose Zauberei mit einem Stück Braten.«
»Wir teilen«, entschied Tsaras. »Wenn meine Freunde das nicht wollen, schenke ich dir meinen Anteil.« Die Vorstellung, in Zukunft zu viert unterwegs zu sein und einen Parabegabten bei sich zu wissen, gefiel ihm, und war dessen Psi-Kraft noch so schwach.
»Wir dürfen ihm nicht einfach vertrauen!«, sagte Desach.
»Vielleicht müssen wir das aber«, meinte Tsaras. »Könnte er nicht die Antwort auf deine Frage sein, warum wir weiterleben sollten? Es gibt Hoffnung – sogar auf der Ausweglosen Straße.«
»Und wenn er uns in den Rücken fällt?«, flüsterte Desach.
»Dann sterben wir eben«, sagte Lirach, noch ein wenig leiser.