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I. Beseitigung staatlicher Marktzutrittsschranken
ОглавлениеLiteratur:
Dauses Die rechtliche Dimension des Binnenmarktes, EuZW 1990, 581; Reich Binnenmarkt als Rechtsbegriff, EuZW 1991, 203; Behrens Die Konvergenz der wirtschaftlichen Freiheiten des EWG-Vertrages, EuR 1992, 145; Jarass Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten (I), EuR 1995, 202/(II), EuR 2000, 705; Schneider Die öffentliche Ordnung als Schranke der Grundfreiheiten im EG-Vertrag (1998); Schubert Gemeinsamer Markt als Rechtsbegriff (1999); Schwarze (Hrsg.) Wirtschaftsverfassungsrechtliche Garantien für Unternehmen im europäischen Binnenmarkt (2001); Everling Wirtschaftsfreiheit im europäischen Binnenmarkt – Anspruch und Realität, in: Schwarze (Hrsg.) Wirtschaftsverfassungsrechtliche Garantien (2001) 11; Ottersbach Rechtsmissbrauch bei den Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes (2001); Steinberg Zur Konvergenz der Grundfreiheiten auf der Tatbestands- und Rechtfertigungsebene, EuGRZ 2002, 13; Nagel Wirtschaftsrecht der Europäischen Union (4. Aufl. 2003); Zäch Grundzüge des Europäischen Wirtschaftsrechts (2. Aufl. 2005); Enchelmaier Europäisches Wirtschaftsrecht (2005) 5 ff.; Schwarze Europäisches Wirtschaftsrecht (2007) 37 ff.; Nowak Binnenmarktziel und Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union vor und nach dem Reformvertrag von Lissabon, in: Schwarze/Hatje (Hrsg.) Der Reformvertrag von Lissabon, EuR 2009, Beiheft 1, 129; Frenz Handbuch Europarecht, Band 1: Europäische Grundfreiheiten (2007); Oppermann/Classen/Nettesheim Europarecht (6. Aufl. 2015) §§ 22–31: Binnenmarkt, 383 ff.; Dauses (Hrsg.) Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (Loseblatt); Müller-Graff Europäisches Wirtschaftsordnungsrecht: Das System, in: Ders. (Hrsg.) Europäisches Wirtschaftsordnungsrecht [Enzyklopädie Europarecht, Bd. 4] (2015) § 1, 51; Bieber/Epiney/Haag/Kotzur Die Europäische Union (12. Aufl. 2016) § 11: Grundfreiheiten, 323 mwN; Kilian/Wendt Europäisches Wirtschaftsrecht (5. Aufl. 2016).
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Das Ziel der Errichtung eines Binnenmarkts gem. Art. 3 Abs. 3 UAbs. I S. 1 EUV umfasst zunächst einmal gem. Art. 26 Abs. 2 AEUV die Verwirklichung eines „Raums ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital“ gemäß den Bestimmungen des AEUV gewährleistet ist. Gemeint ist damit nicht die Aufhebung der Staatsgrenzen als solche, sondern die Überwindung der rechtlichen Schranken, die sich dem zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr in den Weg stellen. Sie bestehen vor allem aus Grenzkontrollen und aus Rechtsunterschieden. Ihrer Überwindung dienen die wirtschaftlichen Verkehrsfreiheiten, die der AEUV im Einzelnen normiert, sowie die Rechtsangleichung.[1]
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Die Herstellung eines einheitlichen Binnenmarkts soll bewirken, dass alle wirtschaftlichen Güter, Leistungen und Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital) dort angeboten werden können, wo für sie das höchste Entgelt zu erzielen ist, bzw. dort nachgefragt werden können, wo sie am preiswertesten sind. Damit also für Anbieter und Nachfrager wirklich ein alle Mitgliedstaaten umfassender Markt entstehen kann, müssen Güter, Leistungen und Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital) ungehindert die nationalen Grenzen überschreiten können. Die Preisbildung darf nicht durch staatliche Maßnahmen verzerrt werden. Der Zutritt muss maW für alle Marktteilnehmer frei von Beschränkungen sein. Ihre Kauf- bzw. Verkaufsentscheidungen sollen ebenso wenig wie ihre Investitionsentscheidungen, Standortentscheidungen oder Entscheidungen, Arbeitsverhältnisse zu begründen, durch andere als wirtschaftliche Überlegungen beeinflusst werden. Die Mitgliedstaaten müssen daher insbesondere auf eine außenwirtschaftspolitische Steuerung des innergemeinschaftlichen Wirtschaftsverkehrs verzichten. Die Freiverkehrsregeln haben den Zweck, eben dies rechtlich zu sichern.
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Die Freiverkehrsregeln verfolgen diesen Zweck, indem sie an die Mitgliedstaaten Verbote richten, welche die Aufrechterhaltung bestehender bzw. die Einführung neuer Beschränkungen des zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehrs untersagen. Dies geschieht allerdings nicht in einer allgemeinen Generalnorm, die ganz allgemein die Freiheit des zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehrs normiert. Der Ansatz des AEUV ist ein anderer. Er trifft differenzierte Regelungen für Waren, Dienstleistungen, Personen (Arbeitnehmer und Unternehmer) und Kapital. Das hat seinen Grund vor allem in der Eigenart der unterschiedlichen nationalen Regelungen, die den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr beschränken, und den entsprechend unterschiedlichen Rechtfertigungsmöglichkeiten. Es hatte seinen Grund ursprünglich aber auch in dem unterschiedlichen Maß, in dem solche Beschränkungen nach dem EWG-Vertrag von Rom abgebaut werden sollten. Die Mitgliedstaaten waren nicht generell bereit, auf Regelungskompetenzen zu verzichten, sondern – je nach den Gegenständen der grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Transaktionen (Waren, Dienstleistungen, Personen oder Kapital) – in jeweils unterschiedlichem Umfang. Diese Unterschiede sind erst im Laufe der Zeit zum Teil durch die Rechtsprechung des EuGH,[2] zum Teil auch durch Vertragsänderungen weitgehend eingeebnet worden.[3] Angesichts der differenzierten Regelungen besteht aber weiterhin die Notwendigkeit, die Reichweite der Freiverkehrsregeln für die einzelnen Bereiche jeweils gesondert – unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH – zu bestimmen.
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Zu den besonderen Kennzeichen des Europäischen Unionsrechts gehört es, dass der AEUV sich nicht – wie andere völkerrechtliche Verträge – damit begnügt, den Mitgliedstaaten bestimmte Rechtspflichten aufzuerlegen, für deren Einhaltung die anderen Mitgliedstaaten und die Unionsorgane (insbesondere die Kommission) Sorge tragen müssten. Vielmehr verleiht der AEUV zugleich den Bürgern der Mitgliedstaaten, dh allen Privatrechtssubjekten, korrespondierende subjektive Rechte, die sie gegenüber den Mitgliedstaaten geltend machen und erforderlichenfalls einklagen können. In diesem Sinne sind gerade die Freiverkehrsregeln nach der Rechtsprechung des EuGH unmittelbar anwendbar (vgl. dazu bereits oben Rn. 11).[4] Sie berechtigen die Marktteilnehmer, sich den Marktzutritt zu anderen Mitgliedstaaten erforderlichenfalls mit rechtlichen Mitteln zu erkämpfen, und zwar vor den jeweiligen nationalen Behörden und Gerichten, welche die unionsrechtlich begründeten Rechte der Bürger zu schützen haben. Über die Vereinbarkeit mitgliedstaatlicher Beschränkungen des zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehrs mit dem Unionsrecht entscheiden die nationalen Gerichte in ganz ähnlicher Weise wie sie in manchen Mitgliedstaaten – wie etwa der Bundesrepublik Deutschland – über die Vereinbarkeit solcher Regelungen mit der nationalen Verfassung entscheiden. Zwar sind gemeinschaftswidrige nationale Normen oder Maßnahmen nicht „nichtig“. Sie sind aber aufgrund des Vorrangprinzips im Anwendungsbereich des AEUV (dh für den Wirtschaftsverkehr innerhalb der Union) unanwendbar.[5] Man spricht demgemäß auch genauer vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Im Ergebnis besitzen die Freiverkehrsregeln also den Charakter wirtschaftlicher Grundrechte: Sie begründen subjektive Rechte auf einen staatlichen Regelungsverzicht.