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3. Vom Territorialverhalten beim Homo buerocensis

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Reviere im Büro

Eine Fläche von der Größe eines DIN-A4-Blattes schreibt das deutsche Tierschutzgesetz für die Haltung einer Legehenne vor. Den Platz, den die entsprechende Verordnung für die Haltung von Büromitarbeitern festlegt, ist nicht sehr viel größer: 1,20 Meter (also vier Blattlängen) Abstand zum nächsten Schreibtisch oder Schrank müssen sein.

Merkwürdig, wie wenig vernünftig dieser Raum genutzt wird. Wracks von Bürostühlen werden von einer Ecke in die andere geschoben. Das Nikotin aus seliger Zigarettenliberalität hat die Decken mit einem Gelbschleier verschandelt, nachgestrichen wurde nie. Die Hälfte der Neonlampen flirrt in den letzten Zügen. Es ist ein Bild des Jammers.

Der deutsche Schreibtisch ist vor allem Müllhalde, Papierkorb und Krimskrams-Auffanglager und nur sehr selten eine adäquate Arbeitsfläche. Verschwindend gering ist dabei der Anteil der Dinge auf ihm, die direkt mit der Arbeit zu tun haben oder hatten. Der Großteil ist Privatquatsch oder ehemaliger Arbeitsquatsch, der aus Sentimentalitätsgründen von Büro zu Büro mitgeschleppt wird. Neulich stöberte ich in dem Karton, den ich einst in Köln gepackt hatte, als ich vom «Express» nach Berlin wechselte. Das war 1996, und so fand ich neben Backstage-Ausweisen für ein Ice-T-Konzert in der «Live Music Hall» und einem zerbrochenen Kölschglas (Sonderprägung Prinzenproklamation 1995) auch mehrere Fotos. Eines zeigte mich mit Willy Millowitsch, ein anderes mit meinem Kollegen Sebastian Zabel, beide in fürchterlichen Jacketts. Tolle Erinnerungen, denken Sie? Müll, sage ich. Denn wenn der Krempel mir so lieb und teuer wäre, warum nehme ich ihn dann nicht mit nach Hause?

Ein Büro aber zieht diese Dinge geradezu magisch an. Auf den deutschen Computerbildschirmen steht in Form von Überraschungsei-Spielzeug mehr Plastik als in allen TOYS’R’US-Filialen des Ruhrgebiets. Nirgendwo sind mehr Werbeaufkleber verklebt worden als auf den Büroschränken der Republik, für nichts anderes als für Büros werden Fotokalender hergestellt. Daneben hängen Urlaubskarten längst vergessener Kollegen, die mitteilen, dass das Wetter in Benidorm «ganz hervorragend ist», das Essen sei «gut, aber gewöhnungsbedürftig», und man vermisse «selbst Euch, liebe Kollegen, in keiner Weise». Ha. Ha. An den Wänden vergilbte Erinnerungsfotos von Mitarbeitern, die vor Jahren schon gefeuert worden, in Rente gegangen oder verstorben sind. All diese Dinge sind so hässlich, so kitschig, so unglaublich humorlos und überflüssig, dass sie niemand zur Dekoration der eigenen Wohnung benutzen würde. Kennen Sie jemanden aus Ihrem Büro, der den Krempel aus den Überraschungseiern mit nach Hause nimmt? Bei aller Liebe zum Neffen: Hat irgendjemand schon einmal eines dieser Kopffüßlerfrühwerke gerahmt und über das Sofa gehängt? Landet nicht jede Postkarte («Waldhotel Schmittenschänke, Östliches Sauerland») sofort im Papierkorb?

Es wird behauptet, Büromenschen würden versuchen, ihrem Arbeitsbereich etwas Privates, Persönliches, Authentisches zu geben. Ich aber behaupte das Gegenteil: Das Büro ist ein Raum des Halbgestalteten, Halbschönen, Halbprivaten. Einerseits, weil man ihn ja mit den Kollegen teilen muss und dementsprechend unklare Gestaltungs-Hierarchieverhältnisse herrschen. Andererseits, weil selbst die größten Kinderbild-Aufhänger einsehen, dass es sich immerhin um einen Arbeitsplatz handelt, weshalb sich eine Totaldekoration nach den Maßstäben der eigenen Wohnung verbietet.

Könnte man also das geschmackliche Vakuum im Gemeinschaftsbereich noch erklären, verwundert es, dass es im Altarbereich des Büroarbeiters, dem Schreibtisch, nicht anders aussieht. Auch dort ein klares Statement zum «Ich bin nicht ganz hier, aber auch nicht ganz weg».

Schreibtischschubladen etwa sind ein Pompeji für Gegenwartsarchäologen. Die Liste meiner Funde reicht von ansehnlichen Sammlungen abgenagter Bleistifte über alte Gehaltsabrechnungen bis zu Mini-Stereoanlagen, in denen noch Kassetten von Hubert Kah lagen. Und natürlich Geld! Hätte ich die Münzen gesammelt, die ich in den Stiftfächern entdeckt habe, könnte ich drei Wochen Urlaub in Trinidad und Tobago machen.

Wie Skelette vor Urzeiten verstorbener Großechsen ragen windschiefe Schreibtischlampen in die muffige Luft und beleuchten (wenn überhaupt) fahl ein Sammelsurium von Lochern, in deren Lackschicht der Besitzer seinen Namen eingeritzt hat, Billigstkugelschreibern und mit Zigarettenasche, Hautschuppen und Kaffeesud gefüllten Computertastaturen. Der PC hat sein ehemals helles Beige gegen ein schmutzigschmieriges Braungrau getauscht. Auch der Bildschirm wurde offensichtlich nie gereinigt. Daneben vollgekritzelte Schreibunterlagen, ein Friedhof verbogener Büroklammern und individueller Zivilisationsmüll. Ich beispielsweise sammle mir zugesandte Unterlagen grundsätzlich in hohen Stapeln zwischen kaum gelesenen Ausgaben der Illustrierten «stern» und «Spiegel». In ausgebeulten Drahtgitter-Ablagen landen alle losen Papiere, die mich irgendwann mal für ein paar Nanosekunden interessiert haben. Über den ganzen Schreibtisch sind Magnete verstreut, da ich die Angewohnheit habe, diese von allen Pinnwänden zu pflücken, gedankenverloren damit herumzuspielen und schließlich beim Telefonieren abzulegen. In einem Büro, in dem ich einmal gearbeitet habe, sah es so unglaublich hässlich aus, dass man dort keinen Besuch empfangen konnte. Meine ehemalige Chefin führte daraufhin einen regelmäßigen Aufräumtag ein, an dem jeder – wie ein Kind sein Zimmer – seinen Bereich zu säubern hatte. Dazu zählte auch, die fünfunddreißig leeren und halbleeren Wasserflaschen zurück in die Kantine zu bringen.

Obwohl in der Hassliebe zum Arbeitsplatz der Hass zu überwiegen scheint: wenn es darum geht, Eindringlinge zu vertreiben, wird eine erstaunliche Kreativität entfaltet. Der Hang zur Verteidigung des Reviers ist größer als der zur ästhetischen Gestaltung desselben. Und die Auseinandersetzung beginnt bereits am ersten Arbeitstag.

Anfang der achtziger Jahre wurde die Leitung eines großen Unternehmens zwei Chefs gleichberechtigt anvertraut. Der Vorgänger hatte – natürlich – nur ein Büro hinterlassen. Das allerdings war geradezu fürstlich ausgestattet und verfügte sogar über eine eigene Dusche. Selbstverständlich wollte jeder der beiden Neulinge dieses Luxusbüro haben. Am Morgen ihres ersten Arbeitstages schlichen sie schon mit dem ersten Sonnenstrahl in die Firma, um sich das Nasszellenkabinett zu sichern. Wer Erster war, ist nicht überliefert. Nur, dass im Laufe des Tages die Lösung gefunden wurde: Man baute auch im zweiten Büro eine Dusche ein. Das war teuer, aber wenigstens gerecht – und ansonsten hätte das Modell der Doppelspitze leicht in den ersten Stunden scheitern können. Es scheiterte auch so. Aber das lag nicht an der Dusche.

Für die meisten geht es allerdings nicht um Duschen, es geht darum, ihr einmal erkämpftes Territorium zu verteidigen.

Eine Schlacht auf offenem Feld. Das eigene Hauptquartier ist von fast allen Seiten einsehbar, oft liegt es an gut frequentierten Fußwegen, vielleicht sogar an einer der Transitstraßen in Richtung Kantine oder Toiletten. Und: Der Besitz ist für jedermann sicht- und greifbar. So gilt es zuerst, diese Dinge zu individualisieren. Sie könnten schließlich «ausgeliehen» werden – das Bürosynonym für «stehlen». Die verzweifelten Versuche, das zu verhindern, haben deutliche Spuren auf den Rückenlehnen der Drehstühle hinterlassen. Unter dem Vorwand, an chronischen Rückenschmerzen zu leiden und den Arbeitstag nur auf dem Stuhl zu überstehen, den man mühselig auf exakt diese Höhe und jenen Lehnenneigungswinkel justiert hat, verfliegt jede gesunde Einstellung zum Firmeneigentum. Auf manchen Stühlen sind die Tipp-Ex-Schichten dicker als die Polster. Glauben Sie mir: Ein Bürostuhl ist wie der andere. Ihn auf eine Ihnen angenehme Sitzposition zu bringen dauert wenige Sekunden. Also hören Sie bitte auf, die Dinge zu beschmieren! Es ist kindisch, sieht hässlich aus und beweist letztlich nur, dass Sie genau das nicht haben, was Sie bei anderen vermissen: Respekt vor dem Eigentum anderer.

Respekt ist ohnehin das Erste, was bei den Büroscharmützeln flötengeht. Gewisse Grundregeln sollten dennoch beachtet werden. So verbot mir mein ehemaliger Chefredakteur Karl-Günther Barth, ein drei Quadratmeter großes Poster aufzuhängen, das eine Skulptur des von mir geschätzten Bildhauers Ewald Mataré zeigte. Ich hielt das damals für Schikane. Heute weiß ich: Es war richtig. Unter dem optischen Joch des Bildnisses eines in Granit gemeißelten toten Kriegers des Ersten Weltkriegs zu arbeiten war keinem meiner Kollegen zuzumuten. Auch die Dekoration meines Arbeitsplatzes mit computertomographischen Aufnahmen meines Gehirns wurde mir vollkommen zu Recht untersagt. Genauso kann man verlangen, von Fußballerpostern, Pferdebildnissen und Otmar-Alt-Kalendern verschont zu werden. Wer auf derlei Kitschereien nicht verzichten kann, findet im Internet eine breite Auswahl an scheußlichen Bildschirmschonern.

Noch unerträglicher als die visuelle Umweltverschmutzung ist für die meisten Menschen die akustische. Das Radiohören während der Arbeitszeit ist in vielen Büros ganz normal. Es informiert, und die Zeiten, in denen man davon ausging, dass Beatmusik das Gehirn zerfresse, sind auch vorbei (wobei man sich nach einem Stück der Band «Scooter» fragt, ob an dieser Theorie nicht doch was dran war). Man will sogar herausgefunden haben, dass Musikhören die Konzentration fördert. Sei es, wie es ist: Solange man sich mit den Kollegen darüber einigen kann, ob man lieber «Radio-Power-89,8-mit-dem-Schrillsten-von-heute-und-dem-Ätzendsten-von-gestern» oder die Filmmusik-Abspielstation «Klassik Radio» hört, ist alles in Butter. Erfahrene Revierkämpfer aber setzen ihre Duftmarken direkt in die Gehörgänge der Rivalen. So trat ich einmal eine neue Arbeitsstelle an und wunderte mich sehr über einen Kollegen, dessen Schreibtisch von einem wolkenkratzerhohen Hi-Fi-Turm dominiert war. Der Mann hatte nicht nur ein Kassettendeck und einen CD-Player, nein, er verfügte über eine komplette Anlage mit Vorverstärker, Endstufe, Equalizer und sogar einem Plattenspieler! Daneben zwei mächtige 150-Watt-Boxen, zwischen denen gerade noch Platz für seinen Computer war. Den Arbeitstag begann der Kollege, Rocker, der er war, mit einem Ausflug ins Frühwerk von AC/DC, vertrieb sich den späten Vormittag mit leichtem amerikanischem Neo-Punk, widmete sich nach der Mittagspause britischen Klassikern wie The Who und Led Zeppelin und beendete den Tag mit schnulzigen Stones-Stücken («Ruby Tuesday» und so weiter, Sie kennen das). Seine Strategie ging voll auf. Das Schreibtischgeviert, das er mit drei Kollegen teilen sollte, hatte er für sich allein. Eines Tages kam ein neuer Chef, und der beendete den akustischen Terror auf ebenso nonchalante wie finale Weise. «Das mit der Musik find ich ja total in Ordnung. Nur mit den Boxen, das geht nicht», sprach er, entstöpselte dieselben und schloss sie in seinem Büro ein.

Schlimm wird es, wenn Lärmbelästigung zum Mannschaftssport wird. Es gibt Firmen, in denen man der Meinung ist, ein zünftiges Kickermatch könne Kollegen, die wenige Meter entfernt telefonieren, nicht ernsthaft stören. Dabei dient der Zwergenfußball weniger dem Stressabbau, es ist vielmehr ein Machoritual, das zeigen soll, wer die Kontrolle über den Raum hat: der infernalisch Laute, der vermeintlich Starke. Schlimm genug, wenn Vorgesetzte in solchen Situationen nicht eingreifen. Fatal, wenn sie die ärgsten Paviane sind.

In einer Düsseldorfer Bürogemeinschaft ist es so, dass zwei unterschiedliche Abteilungen in einem gigantischen Großraum untergebracht sind. Beide Chefs sind aufs innigste verfeindet – und ihre Mitarbeiter in Kadavergehorsam natürlich auch. Nun genießt die eine Truppe ein deutlich höheres Ansehen in der Firma und hat die längeren Arbeitszeiten. Sobald aber ein Fußballspiel übertragen wird (also fast täglich), versammelt sich die gesamte andere Abteilung vor einem imposanten Flachbildschirm und dreht den Ton auf Stadionlautstärke – und die Kollegen benehmen sich auch so, als säßen sie auf der Tribüne. Der größte Anfeuerer, Schreihals und Jubeler ist der Chef höchstpersönlich. Die eigene Horde im Rücken, findet er so eine archaische Bestätigung von Macht und Potenz. Das Büro wird endgültig zum Affenfelsen.

Sind unsere Arbeitsstätten also nur Käfige voller Primaten? Gibt es keine vernünftigen, zuvorkommenden – netten! – Kollegen?

Doch. Selbstverständlich gibt es die. Manchen sitzen im Büro sogar vis-à-vis mit ihrer engsten Vertrauten oder ihrem besten Kumpel. Aber auch diesen Menschen gegenüber wird man in gewissen Situationen ein territoriales Verhalten an den Tag legen – und legen müssen! Jeder Mensch braucht seinen Freiraum. Absolute Nähe ist schädlich, ungesund, unnatürlich. Ehepartner wissen das – und können einander aus dem Weg gehen. Beispielsweise zur Arbeit. Zu Fällen, in denen das nicht möglich ist, weil man nicht nur das Bett, sondern auch das Büro teilt, kommen wir später noch. Einem Kollegen aber kann man zumindest für die acht Stunden nicht entkommen, in denen man ihm gegenübersitzt. Am schlimmsten ist das beim Telefonieren.

Sie kennen das Phänomen: In dem Moment, in dem man die Möglichkeit hat, ein fremdes Privatgespräch zu belauschen, wird man es tun. Das ist wie ein Naturgesetz. Je mehr man sich zwingt, an etwas anderes zu denken (beispielsweise: «Warum sagen eigentlich alle Leute, dass Boris Becker gut aussieht?», oder: «Hoffentlich verliert Bayern München gegen Bielefeld, obwohl Bielefeld echt unterirdisch ist»), umso mehr wird die Konzentration auf die Worte gelenkt, die nicht für einen selbst bestimmt sind. Alles Kopfverrenken und Wegstarren nützt nichts. Unser Gehirn ist zu kreativ, um sich diese Gelegenheiten entgehen zu lassen. Zu den Wortfetzen unseres Gegenübers ergänzen wir ganz automatisch und zwanghaft die Sätze seines Gesprächspartners.

«Ja, Schatz» heißt, der andere hat gesagt: «Könntest du bitte heute nicht zu spät nach Hause kommen und auf dem Rückweg von Ikea ein Billy-Regal mitbringen und Rüdiger anschließend von seinem Karatewettbewerb in Wuppertal abholen?»

Dass man sich dabei vorkommt wie ein mieser Spanner, ist kein Wunder – man ist ein mieser Spanner. Sicher: Sie können jedes Mal, wenn sich ein Privatgespräch anbahnt, das Büro verlassen. Aber man verrät sein Glück und sein Leid nicht nur durch Worte. Aussehen, Gestik, der Klang der Stimme, Unkonzentriertheit geben mehr über den Zustand eines Menschen preis, als jedes Wort es könnte. Unmöglich, diese Wahrnehmungen auszuschalten. Der Kollege wird immer transparent sein: Die Sorgen seiner Kinder, der Tod des Familienhamsters, Schulden bei der Bank, Ärger mit den Handwerkern – Sie sind informiert. Wenn er ein Verhältnis hat, sind Sie der Erste, der es mitbekommt.

Wie bewahrt man die eigene Privatsphäre und die des Kollegen?

Durch Gegenseitigkeit. Denn Ihr Kollege weiß genauso viel über Sie wie Sie über ihn. Es herrscht ein Gleichgewicht. Die territoriale Abgrenzung wird in Ihrem Kopf vollzogen – und im Kopf Ihres Kollegen. Sie wissen, was er weiß. Er weiß, was Sie wissen. Behalten Sie alles für sich, wird er es auch tun.

Das Büro

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