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Babylon Büro
ОглавлениеVom Sündenfall der Schreibtisch-Zivilisation
«Und was gibt’s heute in der Kantine?»
(Jedes Büro, weltweit, täglich um 9 Uhr)
Die Schlacht tobt jeden Tag von neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Es geht um Existenz oder Untergang, Sein oder Nichtsein. Attackiert wird mit Worten, verletzt werden ausschließlich Gefühle. Die Kampftechnik: Verbreitung von Furcht, Angst, Panik. Und wenn auch die Wunden, die man einander damit zufügt, meist verheilen – nicht selten bleiben Narben.
In dieser Schlacht gibt es kaum Regeln und keine Gesetze. Erlaubt ist, was den Sieg verspricht: Intrigen, Missgunst, Verrat. Der Kampf ist unbarmherzig: Gefangene werden nicht gemacht, und am Ende gewinnen die Brutalsten. Jeder wird zum Kriegsdienst verpflichtet. Der Einberufungsbescheid ist der Hausausweis. Sie kennen die Kampfzone: Es ist Ihr Büro.
Als Heimat von Machtsucht und Hybris, Brutstätte von Lüge und Verrat ist das Büro heute das, was Babylon in der Zeit des Alten Testaments war: ein Hort menschlicher Schwächen. Die vier Mauern, die ihn begrenzen, sind Feigheit, Wankelmut, Dummheit und Angst. Sie sorgen dafür, dass niemand den Dämonen entkommt, die darin herrschen: Geltungssucht, Trotz, Neid und Gier. Die Kriegsverbrechen, die in diesem Kampf begangen werden, sind unzählbar. Und die Fronten wechseln täglich. Unschuldig bleibt kaum einer – ob es der Blick zur Seite ist, wenn einer der Kollegen ungerecht behandelt wird, oder ob man selbst für das Lob des Chefs lügt, denunziert, intrigiert.
Auch ich habe im Babylon Büro gesündigt. Mit knapp sechsundzwanzig Jahren war ich stellvertretender Nachrichtenchef der größten Berliner Zeitung. Ich war ehrgeizig, ich wollte nach oben, und das möglichst schnell. Für die Karriere hatte ich meine Freundin in Köln zurückgelassen, die meinetwegen gerade erst von Bayern an den Rhein gezogen war. Meine Chefin, die mir den neuen Job gegeben hatte, war gleichzeitig meine beste Freundin. In meinem ersten halben Jahr in Berlin gab es kaum einen Abend, an dem wir nicht bis in die Morgenstunden getrunken und uns über die Arbeit die Kehlen trockengeredet hätten. Wir waren das perfekte Job-Duo, ein Büro-Power-Team, dem niemand etwas anhaben konnte. Bis ich sie verraten habe.
Warum? Weil ich ihren Job angeboten bekam. Ich wollte ihn haben, und ich war bereit, den Preis dafür zu zahlen. Das fiel mir nicht leicht, ich war kein Monster. Aber ich war auch kein Engel. Meine Situation war so: Nach gerade mal sechs Monaten in Berlin bekam ich das Angebot, zurück nach Köln zu wechseln – in eine höhere Position. Nur darum ging es mir, das Geld war mir egal. Ich wollte Verantwortung und Einfluss. Und natürlich Macht, Prestige. Also unterschrieb ich einen Vorvertrag. Doch als ich in Berlin kündigen wollte, bot man mir den Posten meiner Freundin an.
Ich sagte zu, ohne zu zögern, bestand jedoch darauf, sie persönlich über die veränderte Situation zu informieren. Weil Feigheit die kleine Schwester des Verrats ist, wartete ich bis zu dem Morgen, an dem die Nachricht offiziell verkündet werden sollte. Ich bat meine Chefin um ein Gespräch in ihrem Büro, das schon in wenigen Minuten mir gehören würde. Sie, die immer so stark gewesen war, die mir alle Tricks und Kniffe, alle Strategien und Gegenstrategien verraten hatte, weinte. Sie sagte kein Wort, aber ich wusste: Schlimmer als der Verlust des Jobs, der ihr alles bedeutete, war der Verlust des Freundes. Sie verließ den Raum und trat einen mehrwöchigen Urlaub an. Ich, der Verräter, musste noch meinem zweiten Opfer beichten: dem Kölner Chefredakteur, der ja fest mit mir rechnete. Mein erster Anruf von meinem neuen Büro aus war also auch der schwerste – und diesmal fielen viele Worte, von denen «Sie Arschloch» noch das charmanteste war. Das Wechselgeld für den Preis meiner Beförderung war eine Kanonade von Schimpfwörtern.
Der Kölner Chefredakteur hat mir nie verziehen, und ich kann es ihm nicht verdenken. Noch fünf Jahre später beschimpfte er mich in einer Berliner Kneipe. Das letzte Mal haben wir uns in Polen gesehen, wo wir eine neu zu gründende Zeitung beraten sollten. Nach dem ersten gemeinsamen Arbeitstag reiste er ab. Meine Freundin Claudia aber hat mir verziehen. Auf einer Weihnachtsfeier kam sie auf mich zu und sprach nach mehr als drei Jahren wieder mit mir. Das war einer der bewegendsten Momente meines Lebens. Heute sind wir wieder befreundet. Und doch tragen wir beide Narben aus dieser Zeit. Sie haben Auswirkungen auf unsere Karriere, aber auch auf unser Leben gehabt.
Das Büro ist keine abgeschlossene Welt. Entscheidungen, die dort gefällt werden, prägen den Charakter, haben direkten Einfluss auf die Partnerschaft, die Freunde, die Familie – auf alle Bereiche des Lebens. Der Feierabend ist kein Heimaturlaub, sondern nur eine kurze Feuerpause.
Für viele ist der Arbeitsplatz (wenn auch nicht unbedingt die Arbeit!) wichtiger als der Partner. Bei jedem Italiener sieht man Paare, die sich vor Verlegenheit eine Gabel mit Antipasti nach der anderen in den Mund schaufeln, weil sie nichts mehr zu reden haben. Wie gern würden beide über ihre Jobs sprechen. Aber das geht nicht: Sosehr ihre Büros einander ähneln, so unterschiedlich sind sie in den Details. Das, was hier gerade eine Riesensache ist (neuer Chef, attraktive Praktikantin, Müller hat einen Parkplatz auf F4 bekommen, englischer Heuschreckenkonzern schluckt ganzen Betrieb), ist schon auf der anderen Straßenseite, im nächsten Büroturm, vollkommen uninteressant. So sitzt das moderne Double-income-no-kids-Paar wortlos vor Carpaccio und Insalata di frutti di mare und würde viel lieber mit den Kollegen ein paar Bier zischen.
Wie viele Leute kennen Sie, die noch ein wirkliches Hobby haben, dem sie sich ernsthaft widmen? Ich kenne einen: Es ist ein Kollege von mir, ein gelernter Schriftsetzer, durch das Aussterben seines Berufes ins Büro getrieben und heute Graphik-Layouter. Er sammelt Modelleisenbahnen, die Anlage ist mehrere zehntausend Euro wert – so viel, wie wir hobbylosen Bürobabylonier in wenigen Jahren für Flusskrebsschwänze an Rucola, Kurztrips nach Ibiza und anderen Kompensationskonsum verpulvern. Ich weiß, wovon ich spreche: Mit dem Geld, das ich in Restaurants allein für Fernet Branca, den Energydrink des mitternächtlichen Bürogelabers, ausgegeben habe, hätte ich in einem afrikanischen Zwergstaat eine Kathedrale stiften können.
Wie oft sehen Sie Ihre Familie? Können Sie sich daran erinnern, dass Sie Tanten und Onkel haben? Wussten Sie, dass Ihre jüngste Cousine nach Australien ausgewandert ist und Ihre Cousins Bauingenieure geworden sind? Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Mutter besucht? Das Büro ist schon lange die Familie des modernen Menschen geworden.
Wie aber konnte sich das Büro unserer Seelen bemächtigen – und warum muss es zwangsläufig zu Kampfhandlungen kommen? Drei Ängste sind es, die sie auslösen.