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Die dritte Angst: Wachstum frisst Wachstum

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Der amerikanische Komiker Jerry Lewis hat das System schon in den siebziger Jahren begriffen: «Kleinlebewesen vermehren sich durch Zellteilung, Bürokraten durch Arbeitsteilung.» Nach diesem Prinzip funktionierte auch die Vermehrung der Büroarbeit: Aus einem Büro wurden zwei Abteilungen, aus zwei Abteilungen bald vier, acht, sechzehn und so weiter.

So wurden immer mehr Arbeitsplätze im Büro geschaffen, immer mehr neue Aufgaben erfunden und alte aufgeteilt. Die jüngste Evolutionsstufe ist mit den «Marketingabteilungen» erreicht, über die heute fast jedes Unternehmen verfügt. Sie erledigen Aufgaben, die früher nebenbei erledigt wurden, und haben ihrerseits einem (häufig ausgelagerten) System von Unterbüros zur Existenz verholfen: den «Werbeagenturen». Die wiederum übernehmen die Arbeit, die eigentlich die Marketingabteilungen machen sollten. Dieses Geschäft läuft ganz hervorragend.

Hier deutet sich der zweite mächtige Konflikt an: Was passiert, wenn die Petrischale voll ist? Als Ende des vergangenen Jahrtausends täglich Hunderte von «Think Tanks», «Web-Agenturen», «Brain-Factorys» und andere dot.com-Zulieferbetriebe schicke Lofts anmieteten und täglich mehr Mitarbeiter anstellten, hätte eigentlich allen klar sein müssen: Ein solches Wachstum konnte nicht von Dauer sein. Es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Die, für die vorher ein Mountainbike im Wert von 500 DM unerschwinglich war, jonglierten plötzlich mit Millionen. Dementsprechend härtere Bandagen wurden angelegt.

Hank J., ein Freund von mir, ist das beste Beispiel: Als autodidaktischer Graphiker gründete er mit einem kaufmännisch begabten Freund eine Firma, die spezielle Internet-Applikationen programmierte. Noch bevor sie ein fertiges Produkt vorweisen konnte, wuchs sie auf beachtliche Größe, Geld gab es damals von den Banken gegen ein @-Zeichen im Firmennamen. Ein skandinavischer dot.com-Konzern schluckte die Firma. Mit einem Mal war mein Freund im Vorstand eines millionenschweren internationalen Unternehmens und mit nicht mal dreißig Jahren Aktienmillionär. Doch der Spaß war weg. Alles drehte sich um Personalmanagement, Bilanzprüfung, Outsourcing, Synergieeffizienz. Dann kam der Crash. Die ersten Entlassungen folgten. Von mehreren hundert Menschen blieben am Ende weniger als ein Dutzend. Erst war Hank noch derjenige, der die «Mitarbeitergespräche» führte, bald aber trennte man sich auch von ihm. Heute spricht er häufig, wenn auch nicht gerne, von seiner Zeit als Millionär. Was er jedoch immer wieder betont, ist die nahezu religiöse Solidarität, die in der Anfangsphase herrschte: das Büro als Sekte. Als die Blase dot.com platzte, wurde fast eine ganze Branche pulverisiert.

Wir leben in einem Land, in dem kaum ein Arbeitsplatz sicher ist. Gerade im Schreibtischsektor gibt es keine Garantien mehr, weil die Krise einen Dominoeffekt ausgelöst hat, bei dem der letzte Stein noch lange nicht gefallen ist. Wie abstrus/komplex das System funktioniert, hier nur in Kürze: Als die 9/11-Rezession einsetzte, wurden Stellen abgebaut oder zumindest nicht mehr neu besetzt. Folglich wurden so gut wie keine Stellenanzeigen mehr in den Zeitungen geschaltet. Überregionale Blätter traf das so hart, dass sie wegen des Rückgangs im Anzeigengeschäft sogar journalistische Spitzenkräfte entlassen mussten – und das in einer Zeit, in der das Bedürfnis nach guter Information größer war als jemals zuvor. Plötzlich fanden sich Leute in Job-Centern wieder, die zu einem Arbeitsamt den gleichen Bezug hatten wie ein Maulwurf zu den Monden des Jupiter. Mit den Ex-Leitenden Angestellten, die zurzeit in Deutschland auf der Straße stehen, könnte man locker die verwaisten Bürogebäude in Berlin füllen. Kein Wunder: Für sie wurden sie ja schließlich einst gebaut. Nur was sie dort machen sollen, wäre noch zu klären.

Die Arbeit war für Tennessee Williams «ein Rauschgift, das wie ein Medikament aussieht». Und wie alle Süchtigen brauchen auch die Büromenschen ihre tägliche Dosis. Ich kenne zwei Chefredakteure, die zur Zeit des tödlichen Diana-Unfalls keinen Job hatten. Dennoch konzipierten sie noch am Vormittag eine zweiunddreißigseitige Illustriertenstrecke, die natürlich nie erschien. Wenn so der Entzug aussieht, wie mächtig muss dann die Angst davor sein? Die Furcht vor dem Verlust der Droge verleiht Berserkerkräfte. Und diese Furcht ist fast noch stärker als die davor, kein Geld mehr zu verdienen.

Wenn beide Ängste in die ohnehin bis zum Rand gefüllte Petrischale tropfen, wird im Büro Babylon das Armageddon entfesselt.

Die Lage scheint also aussichtslos. Warum dann überhaupt dieses Buch?

Weil es nicht darum geht, den Krieg zu gewinnen. Das ist unmöglich. Selbst die kaltblütigsten Veteranen, die auf dem Weg an die Spitze Freunde, Partner, Familie, Gesundheit an die Arbeit verraten haben, enden letztlich als Verlierer. Denn so wichtig einem das Leben im Büro auch erscheint, so viele Schlachten man gewonnen haben mag, so fest, wie man die Macht in seinen Händen glaubt: spätestens in dem Moment, in dem man das Büro als Rentner verlässt, werden alte, einst hart erkämpfte Erfolge belanglos.

Was aber kann von einem Leben im Büro bleiben, außer den Narben auf der Seele?

Jedenfalls nicht die Triumphe. Aber das großartige Gefühl, sein Arbeitsleben in Anstand und Würde verbracht zu haben. Bin ich, der Sünder, dafür der richtige Ratgeber? Ja. Denn nur wer den Krieg kennt, weiß, wie wichtig der Frieden ist.

Ein guter Freund von mir, der Schriftsteller Helge Timmerberg, arbeitet mal in Berlin, mal in Wien, mal in Marrakesch und manchmal in Indien. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn dafür beneidet habe. Nur: Er beneidet mich noch viel mehr. Um mein Büro. Um diesen Mittelpunkt in meinem Leben, um die Konstanz und um die Leute, mit denen ich zusammenarbeiten darf. Meine Kollegen.

Im Büro zu arbeiten heißt, mit Menschen zu arbeiten. Etwas Schöneres kann ich mir nicht vorstellen. Fast ein Paradies. Wir müssen es nur ein wenig aufräumen.

Fangen wir an.

Das Büro

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