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AMULETT

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»Hast du das geseh…?«

Frank klang wie ein sterbendes Nagetier. Er signalisierte Unpässlichkeit, fischte nach seinem Geigenkoffer und öffnete ihn auf dem Tresen.

Marthe sah neugierig zu, wie er dem Koffer einen Geigenbogen und eine kleine Dose mit einem Klotz aus einer harzigen gelblichen Masse entnahm. Er vergewisserte sich, dass niemand Notiz von seinem Ritual nahm, und strich die Rosshaare des Geigenbogens über den Klotz, dass es leise quietschte. Er signalisierte auch Marthe, wegzusehen, aber sie war zu neugierig und beobachtete fasziniert, wie er sich den vorderen Teil des Geigenbogens tief in den Schlund schob, um ihn unter Würgen auf und ab zu bewegen. Sie winkte sogar Eckerd an den Tresen zurück, damit er es mit ansehen konnte.

Einen aufwallenden Brechreflex unterdrückend, schob sich Frank den vorderen Teil des Bogens tief in den Hals und presste ihn auf seine Stimmbänder, wobei er ihn wendete, bis sie ausreichend mit Harz beklebt waren. Als Frank sich schließlich den Bogen aus dem Hals zog, schien er sich übergeben zu müssen, aber bevor Marthe ihm einen Stapel Servietten hinhalten konnte, hatte er schon Gelbliches gesabbert und es mit dem Ärmel abgewischt. Seine Augenringe hatten ein dunkles Violett angenommen, als er sich aufsetzte.

»Ich weiß gar nicht mehr, wie ich rausgefunden habe, dass das funktioniert.«

Eckerd sah Frank ungläubig an.

Frank feixte. »Krass, oder? Wie Barry White.«

Franks Stimme war tatsächlich so räudig tief wie die von Barry White. Frank tippte auf die kleine Dose.

»Das ist Kolophonium. Damit macht man den Geigenbogen rau.«

Lolita streifte graziös die Bar, um das perlenbestickte Portemonnaie auf den Tresen fallen zu lassen, nickte Gute Nacht und bog ab, um im Dunkel neben der Bar eine Treppe hinabzusteigen.

Frank verbog sich, um ihr hinterherzugaffen, bis das Klacken ihrer Absätze erstarb. Er zwinkerte Eckerd zu.

»Bestimmt auch ne Schwester von dir«, sagte Barry White.

Eckerd sah besorgt auf Franks dürren Hals. »Tut das weh?«

Frank zelebrierte seinen Bariton. »Was immer es tut, das ist es wert.«

»Und du bist Musiker.«

»Sagen wir, ich fiedle für Geld.«

»Du verdienst Geld damit. Dann bist du doch Profi.«

»Ich spiele schrecklich.«

»Kann ja nicht sein.«

»Doch, echt. Mach ich extra. Du kannst dir nicht vorstellen, was die Leute alles zahlen, wenn du laut scheiße spielst. Ganz besonders Liebespaare. Die geben alles, um dich loszuwerden.«

Frank bedauerte, das gesagt zu haben, Eckerd schienen die Liebespaare leidzutun.

»Na ja … Es bringt Kohle. Allerdings muss ich öfters woanders spielen, sonst gibt’s irgendwann auf die Fresse. Ist aber nett hier in dem Stadtteil.«

»Macht dich das nicht traurig? Du machst Musik und musst Angst haben, dafür eins auf die Fresse zu kriegen?«

»Ist ja nur, bis ich nen Neuen habe.«

»Einen neuen was?«

»Nen neuen Hund. Bis vor Kurzem hatte ich so nen kleinen erbärmlichen mit großen Glupschaugen. Das war geil. Wenn ich schräg gespielt hab, wollten die Typen mir die Scheiße rausprügeln, aber ihre Schnallen haben die immer abgehalten. Haben mir wegen dem Hund die Taschen mit Geld vollgestopft. Sentimentale Schnepfen.«

»Macht das glücklich? Mich würde das fertigmachen, dass mir Leute Geld geben, damit ich aufhöre.« Eckerd sah tatsächlich aus, als ob ihn das fertigmachte.

Frank wedelte mit den Händen. »Nein. Natürlich nicht. Ich wollte Solist werden in einem richtigen Orchester. Werde ich auch. Aber Esther mochte nicht, wenn ich übe. Da war scheiße spielen einfacher. Und das bringt richtig Kohle. Ist nun mal so.«

»Esther?«

»Meine Freundin, also meine Ex. Ist abgehauen. Obwohl ich schon echt besser spiele.«

»Schlimm für dich?«

Frank zog ein Amulett aus dem Hemdkragen. »Ihr Abschiedsgeschenk.«

Es sah aus wie ein polierter, marmorierter Stein, oval, von der Größe eines Taubeneis. Marthe stellte sich auf die Zehenspitzen, um es genau anzusehen. Es war kein Stein, sondern etwas in einer gläsernen Hülle. Etwas Organisches.

Eckerd runzelte die Stirn. Marthes Augen weiteten sich, ihr schien zu dämmern, was es war.

»Ich war zu Hause üben. Mozart. Der Hund hat mitgemacht, der konnte die Melodie mitjaulen. Konnte der echt. Da rennt Esthers Fickfreund nackt aus dem Schlafzimmer und schreit mich an, dass er keinen Harten kriegt bei dem Krach.«

»Ihr Fickfreund?«

»Ja. Sie hat immer welche. Deswegen war sie hergezogen. Die letzte Stadt hatte sie durch.«

»Und das hat dich nicht gestört?«

»Kenn sie ja nicht anders. Jedenfalls, der wollte mich nicht üben lassen. Ich spiele also extra schief. Das klappt auch. Er haut ab. Aber dann kommt er zurück mit ner Pistole und schreit rum, dass er schießt, wenn ich nicht aufhöre. Arschloch, denke ich und spiele die hohen Noten. Esther kommt auch raus und brüllt rum. Nicht mit mir, denke ich und fiedle schneller. Der Hund jault höher. Da packt der Typ den Hund und wirft ihn aus dem Fenster.«

»Oh Gott. War es tief?«

»Nö. Aber an der Stadtautobahn.«

Eckerd schluckte schwer.

»Esther nimmt dem Typ die Knarre ab und drückt sie mir auf die Zwölf. Ich denke Leck mich und fiedle weiter. Der Typ brüllt, sie soll abdrücken. Ich kratze die Geige wie irre und grinse ihn an. Er haut ihr auf den Hintern, sie erschreckt sich und BAM!«

Marthe hatte die Hand um einen Putzlappen gekrallt, ohne zu wischen.

Eckerd war bleich. »Und dann?«

»Suche ich auf dem Boden nach meinen Eiern. Sie kreischt, dass die Eier nicht ab sein können, weil es nur ne Gaspistole ist. Aber sie waren ab. Hast du ne Ahnung, wie das brennt, wenn dir einer mit ner Gaspistole die Eier abschießt?«

Eckerd stutzte. »Durch die Hose?«

»Na ja … ich dachte … wenn der Typ keinen hochkriegt, weil ich schräg fiedle, kann ich ja vielleicht bei Esther einspringen. Deswegen hatte ich mich schon mal ausgezogen. Aber … wenn ich jetzt so drüber nachdenke, war’s doch irgendwie unromantisch. Jedenfalls haben die mich zur Notaufnahme gefahren. Die waren beide voll nett dann. Der Typ hat sogar nichts gesagt, als ich seinen Camaro vollgekotzt hab.« Frank wedelte mit seinem Amulett. »Eine Woche später krieg ich n Päckchen ins Krankenhaus mit einem meiner Hoden in Glas. Wenn die kein schlechtes Gewissen hat, weiß ich’s nicht. Deswegen meldet die sich auch nicht mehr.«

Eckerd hing zwischen Hocker und Tresen durch. »Das muss echt hart für dich sein.«

»Na ja … jetzt, wo ich weiß, dass ich mich nicht mehr anhöre wie n Frettchen, wenn ich meine Stimmbänder mit Kolophonium wichse …«

»Hasst du sie?«

»Die ist ne geile Frau. Ihr müsstet die mal sehen.«

»Jetzt, wo sie weg ist, könntest du doch üben, um Solist zu werden.«

»Mach ich ja. Den ganzen Tag. Jetzt, wo meine Eier weg sind, kann ich kaum noch scheiße spielen.«

»Du bist also auf dem Weg, ein großer Geiger zu werden.«

»Ja, klar. Ich hab ja nichts anderes.«

Eckerd leuchtete. »Dann spiel was für uns! Gib uns ein Privatkonzert.«

»Ist noch zu früh.«

Marthe gab Frank einen Schubs.

Er zierte sich.

Eckerd malte ein Bild in die Luft. »Stell es dir vor. Du bist der Solist eines großen Orchesters! Es ist deine Premiere, und wir …«, Eckerds Arme beschrieben einen ausladenden Halbkreis, »… sind dein exquisites Publikum.« Er legte Frank eine kräftige Hand auf die knochige Schulter. »Das ist dein Auftritt!«

Marthe wippte aufgeregt.

Frank sah sich um. Außer ihnen war das Von Herzen menschenleer. Er kletterte auf den Tresen und befreite die Geige aus dem Koffer.

»Ich muss besoffen sein, dass ich das mache.«

Frank stellte sich in Pose und legte die Geige an. Tatsächlich sah er aus wie ein routinierter Solist. Er musterte Marthes und Eckerds Mienen. Bestimmt wollten sie ihn nur aufziehen. Aber sie sahen ihn in ehrlicher Erwartung an.

Eckerd machte eine ausladende Geste. »Bühne frei!«

Frank hob den Bogen und schloss die Augen.

Von Herzen

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