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DER MANN

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Paul brachte keine Gegenwehr mehr zustande.

Das infernalische Dröhnen drang in sein Innerstes und zerquetschte seine Seele zu einem pechschwarzen Brei.

Paul lag und spürte den Schnee, der auf ihn herabfiel. Der sich auf seiner perfekt gebügelten Polizeiuniform nicht auflösen wollte, Staub und Sand maroden Mörtels, den jeder vorbeidonnernde Zug aus der geziegelten Arkade über ihm rüttelte.

Ob ein Reisender je einen Gedanken daran verschwendet hatte, dass der Zug, in dem er über eine Brücke fegte, jemandem darunter die Seele zerquetschte? Wohl kaum. Sie waren alle auf irgendeinem Weg. Nur Pauls Wege waren zu Ende.

Zu Ende legte sich um seinen Hals und würgte ihn. Er hatte sich in die verlassene Werkstatt unter der Eisenbahnbrücke verkrochen, als ihm alle anderen Möglichkeiten ausgegangen waren.

Er tastete nach dem Rand der fleckigen Matratze und stöhnte, als er sich auf die Seite zog. Scharfe Kälte drang an Schulter und Bein, quälte ihn zurück an die Oberfläche seines Bewusstseins. Paul hatte sich in sich selbst verlaufen und darüber mit dem überdimensionalen Tauchsieder in einer der korrodierten Zinkwannen Wasser brodeln lassen, bis sich dichter Dampf überall niedergeschlagen und die Matratze, auf der er lag, durchtränkt hatte. Nass verströmte sie einen noch viel schrecklicheren Geruch als trocken, und da war es schon kaum zu ertragen gewesen. Paul fiel ein, dass er sich irgendwann mal an der Stelle übergeben hatte, an der jetzt sein Gesicht lag.

Das Donnern eines weiteren Zuges folterte Paul, bis er sich zurück auf den Rücken rollen ließ, wo das erkaltete Wasser die letzte Wärme aus ihm sog. Es musste Stunden her sein, dass er den Tauchsieder in die Wanne gelegt hatte. Er musste etwas tun. Er öffnete ein Auge.

Es dauerte, bis er sich an das fahle Licht der Straßenlaterne gewöhnt hatte, das durch das staubige Oberlicht des hölzernen Werkstatttors fiel. Die dichten Nebelschwaden verbargen die Wände und die gewölbte Ziegeldecke des Raums, sie lichteten sich nur am Tor, wo es sie durch die Spalten der grob gezimmerten Bretter nach draußen sog.

Aufstehen.

Er müsste zu dem klemmenden Tor wanken, es aufstoßen und den schrecklichen Nebel in die Nacht schicken. Allerdings, im Licht der Straßenlaterne wären die Schwaden wie Rauchzeichen. Der Dampf würde ihn verraten. Er verriet ihn jetzt schon, indem er durch die Bretter drang. Es war ja nicht seine Werkstatt.

Nichts war seins.

Es war eine große Wanne, in dem der Sieder Wasser zum Kochen brachte, etwa so groß wie eine Badewanne. Er hatte es nur anwärmen wollen, um darin einzuschlafen, dann war er auf der Matratze weggedämmert. Der Sieder war sein Feind. Aber aufzustehen, sich in den Waschraum zu schleppen und ihn vom Strom zu trennen, war ein Unterfangen gigantischen Ausmaßes, das langwierige mentale Vorbereitung erforderte.

Paul zitterte. Auf der nassen Matratze würde er erfrieren, was an sich in Ordnung war, aber er wollte auf keinen Fall so gefunden werden – nass und stinkend, seine Uniform paniert mit einer Schicht grauen Mörtelstaubs.

Er zog sich halb von der schmatzenden Matratze auf den schmierigen Betonboden, wo er eine Zeit lang liegen blieb. Über den nassen Beton zu kriechen, würde seiner Uniform noch mehr schaden und seinen Körper noch schneller auskühlen als die nasse Matratze. Die Kälte stach, und einschießendes Adrenalin fraß sein Phlegma. Paul hatte seinem Körper keinen bewussten Befehl dazu gegeben, aber er richtete sich auf.

Er wankte durch den dichten Dampf in den Waschraum, den ein breiter Spindschrank mit einer Reihe von Türen bis auf einen schmalen Durchgang vom Hauptraum trennte. Dort tastete Paul sich zu den Wannen und verbrannte sich an dem brodelnden Wasser, als er den Tauchsieder am Kabel herauszog.

Erschrocken ließ er ihn auf den nassen Boden fallen, wo er zischte und weiß-rot glühte. Paul packte das Stromkabel an der nächsten Windung und riss daran. Irgendwo im Dunst riss es, sodass sich das Brodeln legte. Paul keuchte. Sein Atem klang, als käme er von weit her. Der Nebel dämmte. Paul hielt den Atem an. Es war wirklich still. Und doch spürte Paul, dass er da war, der andere.

Paul konnte nur das Unmittelbare in den Schwaden erkennen, aber er spürte, wie er angestarrt wurde, wie die Augen des anderen an ihm saugten. Paul nahm sich zusammen. Er trat vor und starrte zurück.

Paul kannte den Mann sehr gut. Er hatte sein Leben zerstört. Ihm alles genommen. Seine Beziehungen. Den Job, den er geliebt hatte. Die Ehre.

Der Perverse.

Paul schrie ihn an. Der Mann schrie zurück. Paul ballte die Fäuste, der Mann tat es auch und bleckte die gelben Zähne, als ob er hinter seinem klebrigen Vollbart grinste. Hass stieg in Paul auf, er schlug zu. Der Mann schlug auch, aber Paul traf ihn mit voller Wucht. Er zertrümmerte ihm das Gesicht, dass es in tausend Stücke platzte.

Paul keuchte. Sein Puls raste, Blut lief aus seiner Faust, Scherben steckten darin. Er zog einige heraus. Mehr Blut. Er spürte nichts.

Lange starrte er in das gezackte Loch, das seine Faust geschlagen hatte. Toilettenartikel, Schlaftabletten und Scherben. Ungesundes Pulsieren in der blutenden Hand schrie nach Beachtung. Einsetzender Schmerz machte ihn klarer.

Klarheit ist grauenvoll.

Paul hievte ein Bein über die Kante der noch dampfenden Zinkwanne und sah zu, wie sein polierter Lederschuh versank. Das Wasser verbrühte ihn nicht mehr, es war nur noch sehr heiß. Paul ließ den Fuß auf den Grund sinken, zog das andere Bein nach und ließ sich in die Hitze gleiten. Sein ausgekühlter Körper brüllte vor Schmerz, dass es ihm fast die Sinne raubte. Trotzdem nahm er zufrieden zur Kenntnis, dass seine Uniform im Wasser besser aussah. Er begutachtete seine Hand wie ein beschädigtes Bauteil. Aus den größeren Schnitten troff Blut im Rhythmus seines Pulses.

Lächerlich!

Eine Million Mal hatte Paul daran gedacht, sich umzubringen. Tausend Mal fand er, dass es ein guter Tag zum Sterben war. Hunderte von Szenarien hatte er ersonnen, wie er seinem Leben ein Ende setzen könnte, Dutzende davon hatte er versucht, und mit keinem einzigen war er erfolgreich gewesen. Paul war willens zu sterben, aber er, dem jede Würde genommen war, wollte wenigstens danach in Würde gefunden werden, was sich schwieriger gestaltete, als er sich gedacht hatte.

So grausam das Schicksal seit dem einen verhängnisvollen Tag zu ihm gewesen war, gerade eben hatte es ihm die Entscheidung abgenommen. Mit einem Schlag hatte Paul den Perversen gerichtet, und sich dazu. Wie elegant. Nur noch ein bisschen warten. Einfach Ende. Stille. Und bitte keine Wiedergeburt.

Paul spürte, wie die letzte Kraft aus ihm wich, matt ließ er die Faust ins Wasser sinken und beobachtete, wie sie langsam hinter den rot-schwarzen Schleiern verschwand, die sein Blut im Wasser zog. Über den Wannenrand hinweg blickte Paul zum Ausgang des Waschraums, durch den der dichte Nebel drängte.

Ausgang. Ausgänge bedeuteten Neuanfänge. Sie folgten auf Entscheidungen und Ergebnisse. Sie bedeuteten einen Anfang oder ein Ende. Nicht mehr für Paul. Nie wieder würde er auf seinen Beinen durch diesen Ausgang gehen, vielmehr sehnte er sich danach, dass seine körperbefreite Seele auf dem dichten Nebel hinausgetragen würde, um sich irgendwo da draußen für immer aufzulösen.

Im Ausgang lehnte eine schemenhafte Gestalt.

Trotz der Hitze kroch Kälte in Paul hoch. Der Perverse war besiegt, er starb gerade, er konnte nicht dort lehnen. Außerdem war der Schemen kleiner als er. Sein knochenweißes Gesicht war auffallend flächig, soweit man es im Dunst auf die Entfernung ausmachen konnte. Aus seiner schwarzen Kapuze standen die leuchtend weißen Ohren eines Golems heraus, ansonsten war er schwarz, der Tod.

So klein und schmächtig ist er also, dein Tod.

Panik stieg in Paul auf. Er wollte hier in Frieden sterben und nicht irgendwo hingezerrt werden. Er hob die blutende Hand wieder aus dem Wasser.

Reality check.

Paul hatte gelesen, dass man herausfinden konnte, ob man träumte, indem man seine Hand schnell hin und her drehte. Träumte man, sah sie nach jeder Drehung anders aus, weil das Hirn mit der Erzeugung einer schnellen Abfolge imaginärer Bilder durcheinanderkam; man hatte dann mehrere Daumen oder Rosen statt Finger. Paul drehte die Hand hin und her. Nach jeder Drehung waren es vier Finger und ein Daumen, die pulsierend bluteten. Allerdings weniger stark.

Du blutest aus.

Der Tod wechselte das Stand- und Spielbein, aber er kam nicht näher. Er schien seelenruhig zu warten, bis es vorbei war. Ein guter Tod, dachte Paul.

Paul konnte spüren, wie sich sein Bewusstsein aus ihm löste. Der Ausgang verschwamm, der Tod verschwamm. Alles wurde zu einem tiefen Schwarz, aus dem eine hohe Männerstimme flüsterte, sanft und rau. Die Stimme, die der Anfang von allem Schlechten gewesen war.

»Hamster, kleiner Hamster.«

Sie sagte es wieder und wieder, bis Dreijährige in rüschenübersäten Prinzessinnenkostümen aus dem Schwarz an die Wanne traten. Sie hatten putzige Hamstergesichter, die ihn neugierig aus schwarzen Augen anstarrten. Sie quiekten vergnügt, dann hielten sie inne.

Bitte nicht.

Die Hamstermädchen kreischten. Und alles hörte auf.

Von Herzen

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