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BABETTE

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Das infernalische Dröhnen eines vorbeidonnernden Zuges weckte Paul. Danach war es still. Wirklich still.

Es musste bisher ein sonniger Tag gewesen sein, denn in der Werkstatt war es ordentlich warm, fast heiß, und die Nässe war größtenteils durch das zugige Brettertor entwichen.

Seine Schmerzen hielten sich in Grenzen, einzig seine Hand pochte noch bedenklich.

Bilder kamen zurück. Die Zerstörung des Mannes. Das Blut. Der Tod, der zu einer nervtötenden Göre mutiert war. Das ohrenbetäubende Hämmern. Was für ein beschissener Traum.

Deine Hand pocht.

Paul wagte einen Blick. Seine Hand war übersät mit Schnitten, aber sie waren verschorft – außer an einer Stelle, in der noch eine Scherbe steckte. Paul konnte sie mit den Fingernägeln nicht packen, aber er schaffte es mit den Zähnen und zog sie unter Stöhnen heraus. Die Blutung hielt sich in Grenzen.

Gut. Oder auch nicht.

Es roch lange nicht mehr so schlimm wie gestern. Oder vorgestern? Und irgendwie anders. Offensichtlich hatte der warme Tag den Großteil der Feuchtigkeit aufgesogen.

Nicht weit von Paul stand etwas, das vorher nicht dort gestanden hatte. Ein grellbunter Fremdkörper. Paul robbte näher heran. Eine Tüte. Er drückte sich hoch, öffnete sie und sah hinein. Jetzt konnte Paul den Geruch einordnen, der die anderen überdeckte und ihnen die Schärfe nahm: Es war der Duft von schwarzem Kaffee. Ein XL-Kaffeebecher und etwas Schweres, eingeschlagen in grellbuntes Butterbrotpapier … Ein XL-Sandwich, doppeldaumendick belegt mit Hähnchenfilet, Salat und Tomaten. Paul warf es zurück in die Tüte, knüllte ihren Rand fest zusammen und ließ sich zurück auf die Matratze fallen.

Was für ein billiger Bestechungsversuch! Wie Glasperlen, mit denen man Ureinwohnern ihre Goldschätze abknöpfte! In keinem Fall würde er irgendwas davon anrühren!

Er würde sich umbringen, das stand fest. Dass es bisher an der Ausführung gehapert hatte, änderte nichts an seiner Entscheidung. Ein Kaffee und ein Brot änderten erst recht nichts daran.

Er fühlte die Pappe des Bechers. Der Kaffee war nicht mal mehr heiß. Nein, er würde nichts davon anrühren.

Andererseits … falls sich die Göre noch mal hertrauen würde, dann wollte er in gefechtsfähigem Zustand sein. Nicht die jämmerliche Amöbe von gestern. Wenn er ihr das nächste Mal entgegentrat, musste er stark sein. Damit er sie in die Flucht schlagen konnte, die kleine Golem-Göre.

Es war der beste kalte Kaffee, den Paul je getrunken hatte. Und je mehr Bissen er aus dem Brötchen riss, desto mehr Ärger wuchs in ihm über die Myriaden von Flip-Flops, die ihn in allen Größen und in grellen Farben von den Türen des langen grauen Spindschranks anschrien. Hässlicher Parasitenbewuchs an dem einzigen Platz, an dem er noch sein konnte. Feindliche Übernahme seiner letzten Stätte. Bunt brüllender Hausfriedensbruch.

Noch wütender machte Paul, dass die Werkstatt nicht seine war, dass er nicht die Polizei rufen konnte, die dann die Göre einfach entfernen würde. Ihn würde man abtransportieren, wenn sie anrief.

Die Polizei rufen. Was für eine groteske Vorstellung.

Vielleicht kommt die Göre ja nicht wieder. Vielleicht ist sie ja überfahren worden.

Paul verwarf den Gedanken, als er zu bildhaft wurde.

Eines wurde ihm wieder klar: Sterben war eines, mit einem Rest an Würde sterben ein anderes. Wenn er nicht jämmerlich verrecken wollte, musste er Energie aufwenden, um sicherzustellen, dass sein Tod mit einem Mindestmaß an Würde vonstattenging.

Paul rappelte sich auf, aber ihm war kalt. Der Kaffee hatte gutgetan, aber sein Blutdruck war garantiert besorgniserregend niedrig nach dem vielen Blut, das er verloren hatte.

Seine Uniform sah schrecklich aus.

Ein makelloser Dienstanzug gehörte zu jedem von Pauls Sterbeszenarien. Tot in einer perfekten Uniform aufgefunden zu werden, bewies, wie sehr er seine Arbeit geliebt hatte. Es bewies, wie sehr er die Ideale gelebt hatte, für die sie stand. Es wäre kaum noch zu leugnen, dass das, was alle von ihm dachten, von Grund auf falsch war. Es wäre ein Zeichen, wie sehr er verkannt worden war.

Oder man hielt ihn gerade deswegen für einen perversen Psychopathen. So oder so, wenigstens würde er nach seinen eigenen Maßstäben sterben.

In gewisser Weise war die Uniform der Auslöser für alles gewesen. Ohne sie wäre das, was passiert war, ein bis zwei Tage lang in ein paar Newstickern aufgetaucht. Ein Strohfeuer. Und kein wochenlanger Flächenbrand, mit dessen Ausschlachtung sich alle Medien die Sommerlöcher gestopft hatten. Das Verrückteste an diesem Umstand war, dass alles so eskaliert war, weil er seine Dienstkluft nicht angehabt hatte.

Paul zog die Uniform aus und suchte nach seiner Straßenkleidung. Er hatte sie in einer Ecke mit den Nachthemden zusammen auf einen Haufen geworfen, in der Gewissheit, sie nie wieder zu brauchen.

In der Ecke war es schon muffig feucht gewesen, bevor Pauls depressive Lethargie die Werkstatt in ein Hamam verwandelt hatte. Dementsprechend war der Boden nun von einem schmierigen Film bedeckt, und seine vollgesogene Kleidung verströmte einen scharfen Schimmelgeruch.

Paul hatte seine Kleidung größtenteils von der Kleiderkammer, deren Mitarbeiter eine rustikale Vorstellung von Hygiene hatten; das meiste wurde bestenfalls neu zusammengelegt. Paul war das sehr recht. Die Kleidung verströmte noch die Gerüche ihrer Vorbesitzer, und er verbrachte Stunden damit, sich vorzustellen, was das für Menschen waren, die sie ausgesucht und eine Zeit lang getragen hatten.

Paul taten besonders die neuwertigen Kleidungsstücke leid, da sie es nicht geschafft hatten, so geliebt und geschätzt zu werden, dass sie über Jahre stolz aufgetragen wurden, anstatt als unliebsamer Ballast in einem Altkleidersack zu landen. Sie taten ihm so leid, dass er sie trösten wollte.

Bei den Nachthemden war es umgekehrt. Sie trösteten ihn. Sie hatten Namen. Paul gab mindestens die Hälfte seines Erbettelten für den Waschsalon aus.

Nicht dass er waschen wollte – er brauchte Gelegenheit, sich getragene Nachthemden zu beschaffen. Das ging am besten in einem Waschsalon, aber dort war er nur unauffällig, wenn er selber wusch.

Da er nicht erkannt werden durfte, redete er mit niemandem, er saß abgekehrt da, zog sich seine Baseballkappe tief ins Gesicht und tat, als ob er konzentriert Zeitung las. Dabei lauschte er den Gesprächen der Studenten, Zeitarbeitenden und Arbeitslosen und stellte sich ab und zu vor, einer von ihnen zu sein, noch dazuzugehören. Irgendwann kam der richtige Moment, eine Runde zu gehen. Paul schielte in die Waschkörbe, und wenn er ein unbeobachtetes Nachthemd sah, ließ er es mitgehen. Zurück in der Werkstatt, redete er es mit dem Namen seiner Besitzerin an, so er ihn aus Gesprächen oder Telefonaten hatte aufschnappen können. Ansonsten dachte er sich einen aus.

Paul hegte große Angst, Fetischist geworden zu sein, aber er beruhigte sich damit, dass es ihn ja schließlich nicht zu getragenen Schlüpfern hinzog. So war es wenigstens keine richtige Perversion, die ihn trieb. Paul brauchte es einfach, dass jemand um ihn war, vor allem nachts, und nichts gab ihm das Gefühl besser, als in einem getragenen Nachthemd zu schlafen. Wenn er die Augen schloss, konnte er riechen, dass Anna, Claudia oder Ulrike bei ihm war.

Leider nahmen die Nachthemden nach ein paar Tagen vollständig seine Gerüche an, sodass er sich wieder alleine fühlte.

Jetzt roch Paul an Babette. Ihr wunderbarer Duft von warmer Haut, Penatencreme und Babyöl war vollkommen dem Gestank von Schimmel gewichen.

Babette war um die vierzig und richtig dick. Paul hatte sich vorgestellt, dass sie eine weiche, lustige Bärenmutter war, die ihre vielen Kinder liebevoll an ihren riesigen Busen drückte, um sie anschließend mit selbst gemachten Köstlichkeiten vollzustopfen. In Babette war er immer voller Vorfreude schnell und tief eingeschlafen, um zu träumen, wie sie ihn vollstopfte, bis er rosig und rund war.

Er brauchte Nachschub. Andererseits wollte er einen würdevollen Tod. Die erste Voraussetzung dafür war, dass er seine Uniform reinigen ließ. Reinigen war teurer als waschen, und man konnte dabei keine Nachthemden stehlen.

Paul rollte die Uniform zu einem handlichen Paket.

Punkt eins. Betteln.

Als Paul aus dem Werkstatttor trat, traf ihn die tief stehende Sonne wie ein Tritt ins Gesicht.

Von Herzen

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