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TIBET

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Paul hatte schon miese Laune, als er sich der Werkstatt näherte. Das verwitterte Holztor stand offen, Licht brannte. Leiser, fremder Krach drang heraus.

Er schlich sich an das Tor und spähte in die Werkstatt. Der weißgesichtige Golem saß im Schneidersitz auf dem Boden vor einem großen Rechteck aus Karton und wippte zu einem psychedelischen Asiabeat, der aus einem Mobiltelefon schepperte. Umgeben von einer Wolke feinen Farbstaubs, tauchte er Zeige- und Mittelfinger in das cyanblaue Pulver einer aufgebrochenen Druckerkartusche und verrieb es auf der Pappe zu einem großen Buchstaben. Dann nahm er sich die nächste Farbkartusche vor und knackte sie. Das Plastik barst und hüllte ihn in magentafarbenen Staub. Der Golem sprach, ohne den Kopf zu heben.

»Warum kommst du nicht rein, Paul Paulsen

Pauls Herz hämmerte, ihm wurde eiskalt. Die Golem-Göre hatte ihn erkannt. Das war’s. Jetzt konnte sie jeden holen, Paul würde immer im Unrecht sein. Sie, das arme, unschuldige Ding, musste vor ihm, dem Perversen, unter allen Umständen geschützt werden.

Egal, wie viele Spindtüren sie mit Nägeln durchsiebt. Der, der geht, bist du.

»Woher weißt du meinen Namen?« Paul stellte die Frage nur, um das unerträgliche Vakuum zu füllen, in dem er trieb.

»Dein alter Polizeiausweis lag hier rum.«

»Ich bin kurz mal raus, und du kramst in meinen Sachen?!«

Klaras ganze Aufmerksamkeit floss in den großen, magentafarbenen Buchstaben, den ihre Hände malten. Zwischendurch fuhren ihre Finger zu ihren Segelohren und massierten geistesabwesend das grelle Pulver hinein.

»Er lag rum. Du wolltest ja nicht sagen, wie du heißt.«

Die hat keine Ahnung, wer du bist. Du kannst sie doch rausschmeißen.

Paul schritt in die Werkstatt wie ein Diktator, der eine Parade abnimmt. Sein Blick tastete die Umgebung nach neuen Veränderungen ab. Klara hatte sich auf der hölzernen Werkbank mit einer Yogamatte, einem dicken Schlafsack und einem Kopfkissen ein schmales, aber einladendes Bett gemacht. Paul baute sich so nah vor ihr auf, dass sie zu ihm hinaufschauen musste. Der nächste asiatische Song schepperte aus dem Handy. Er nervte mehr als der vorherige. Paul räusperte sich, so laut es ging.

»Nur dass das ganz klar ist: Das wird nicht passieren.«

»Was wird nicht passieren?«

»Hier übernachten. Das wird nicht passieren.«

»Ich kann ja rausgehen, wenn du dich umbringen willst.«

»Ich will mich nicht um…« Paul merkte, dass das zu nichts führen würde. »Das Pulverzeugs ist garantiert hochgiftig.«

Klaras Finger strichen einander umspielend einen weiteren Buchstaben auf die Pappe. Paul las, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen, was Ges Tib bedeuten sollte.

»Und? Lief’s gut heute mit dem Handel?« Paul bemühte sich, weder nett noch Anteil nehmend zu klingen.

»Nicht so.«

»Ich sag doch, das Zeug kauft keiner. Das war’s dann wohl.«

»Quatsch. Es hakt nur an Punkt drei.«

»Punkt drei?«

Klara hielt Paul ihr plärrendes Smartphone ins Gesicht. Juchzende, verzerrte asiatische Mädchenstimmen nagten an seinen Nerven.

Er überflog den Text auf dem Display.

Zehn Do’s und Dont’s für dein Marketing. Punkt drei: Schaffe einen emotionalen Mehrwert. Je mehr emotionalen Wert du deinem Produkt gibst, desto weniger Argumente gibt es dagegen.

Paul nahm ein Paar Flip-Flops von der Wand und ließ es zwischen spitzen Fingern baumeln, als ob es Abfall wäre.

»Und was bitte schön willst du den Leuten erzählen, was für einen tollen emotionalen Mehrwert deine Plastiklatschen haben?«

»Dass sie gesegnet sind.«

»Bitte?«

Klaras stellte die Pappe auf und klopfte den losen Tonerstaub von den schnörkeligen, knallbunten Lettern.

»Meine Flip-Flops machen gute Laune und halten schlechte Menschen fern. Weil sie gesegnet sind. In Tibet.«

Sie drehte das Schild herum und stellte es an die Werkbank. Paul las Gesegnet in Tibet.

»Weißt du überhaupt, wo Tibet liegt?«

Klara kletterte mit den Tonerkartuschen auf ihr Nachtlager und begann, mit ausladenden Bewegungen ein großes Tibet an die Wand zu malen.

»Tibet ist hier.«

»Das ist Betrug!«

Klara tippte flink auf ihrem plärrenden Smartphone und hielt es Paul dicht vor die Augen. Er blinzelte, als er las.

Ich segne jetzt und muss bei mir bleiben. Du bist zu negativ. Ich darf nicht mit dir reden.

»Bitte?! Nur spirituelle Menschen haben ein Recht zu segnen. Das sind ganz besondere Menschen!«

Klara tippte.

Wer sagt, dass ich nicht besonders bin?

»Du bist ja kein Buddha. Nur irgendein Kind.«

Ich lade jeden Flip-Flop mit meinen besten Gedanken auf.

»Wenn du es wirklich ehrlich meinst, nimm dir doch einen von den Mönchen, die immer am Bahnhof rumbetteln. Das sind sogar Tibeter, glaub ich. Lass so einen deine Schlappen segnen. Und hör mit der Scheißtipperei auf!«

Mit großen, ostentativen Bewegungen, wie bei einem meditativen Sitztanz, gaben Klaras Hände Tibet einen grellgelben Schein.

Paul stand noch eine Weile aufgeplustert vor ihr, bis er begriffen hatte, wie nachhaltig er sich ins Aus belehrt hatte. Außer Kraftausdrücken und Androhung von Prügel fiel ihm nichts weiter ein, das aussichtsreich Gehorsam erzwungen hätte, aber er war für beides zu müde.

Klara rutschte von der Werkbank, nahm Paul die Flip-Flops aus der Hand und lud sich an der Spindwand den ganzen Arm voll, um damit zurück auf ihr Lager zu klettern. Unbeeindruckt von Pauls Anwesenheit, legte sie sich ein Paar an die Stirn, wogte wie Seegras zu den juchzenden asiatischen Mädchenstimmen und begann, ein Mantra zu murmeln.

Als Paul sprach, klang es schriller als beabsichtigt. »Mach endlich den Krach aus!«

Klaras entrückter Blick streifte Paul nur kurz, ihre bunten Finger betteten das gesegnete Paar Flip-Flops auf den Schlafsack, streichelten darüber, wanderten in eine Tasche ihres Hoodies und förderten ein Paar Ohrhörer zutage. Sie stiegen in rhythmischen Schlangenlinien auf, bis sie in die Ohren gestopft waren. Klara hielt sich das nächste Paar Flip-Flops an die Stirn und murmelte ein neues Mantra.

Paul marschierte zum Lichtschalter, schlug darauf und warf sich auf die Matratze. Eine Weile lag er steif im Halbdunkel und tat, als ob er schlief, während er Klara aus kleinen Augenschlitzen beobachtete. Im fahlen Licht der Straßenlaterne aus dem Oberlicht des Tors segnete sie ein Paar Badelatschen nach dem anderen mit ihrem Singsang.

Irgendwann war Paul so gereizt, dass ihm der Gestank der Matratze unerträglich wurde. Er sprang auf, stemmte die Matratze unter Ächzen auf die Kante und ließ sie auf die andere Seite fallen, ohne dass sich Klara in irgendeiner Weise ablenken ließ. Die Rückseite der Matratze war genauso spakig wie die Vorderseite, aber sie stank nicht so sehr. Paul warf sich wütend darauf. Und schrie.

Das nadelspitze Ende einer Sprungfeder, deren Verankerung abgerostet war, hatte sich tief in seinen Oberschenkel gebohrt. Klara sang das nächste Mantra. Paul zwang sich, nicht zu stöhnen, bis er sich in die Richtung gewunden hatte, in der der rostige Dorn der Bettfeder aus seinem Fleisch sprang.

Du stirbst an Wundstarrkrampf. Dahingerafft von einer Bettfeder. Was für ein bescheuertes Ende! Dahingerafft von der Feder des Todes. Fe-des-To.

Paul presste die Hand auf die Wunde und rollte sich an den Rand der Matratze.

Der Golem muss weg!

Er könnte Klara an den Haaren aus der Werkstatt zerren. Aber schwach, wie er war, würde sie ihm wahrscheinlich in die Eier treten und weglaufen. Das wäre schmerzhaft, aber sie wäre erst mal weg. Nur dass sie dann irgendwem wilde Geschichten erzählen würde. Und irgendwer würde dann kommen, und das wäre schlecht.

Er könnte auch einfach warten, bis sie eingeschlafen war. Am Fuß der Werkbank stand ihr Rucksack. Würde er darin ihre Adresse finden, würde er ihren Eltern einen Besuch in Dienstkleidung abstatten und sie ordentlich einschüchtern. Er würde ihnen einen gehörigen Text über ihre schräge Tochter erzählen, sie würde lange Hausarrest bekommen und die Lust verlieren, wiederzukommen. Zu viel würde.

Er könnte sie einfach im Schlaf erschlagen. Mord wäre nur ein weiterer Punkt auf der Warum-ich-mich-töten-will-Liste. Und als angehender Selbstmörder war er ja ohnehin bereits eine Art Mörder. Allerdings, wenn er sie und etwas später dann sich umgebracht hatte und man sie beide fand, würde man etwas folgern, von dem er auf keinen Fall wollte, dass es gefolgert wurde. Außerdem wollte er mit niemandem gefunden werden, schon gar nicht mit ihr.

Paul schwor sich, wach und wütend zu bleiben.

Zwei Minuten später ließ ihn Klaras monotoner Singsang wegdämmern.

Eine Zwölfjährige umbringen.

Im Traum stand Paul auf einem düsteren, endlosen Schrottplatz, von dem er wusste, dass es seine Seele war.

Von Herzen

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