Читать книгу Morde zwischen Rhein und Themse - Peter Splitt - Страница 12
Montag, 11. März
ОглавлениеWhitefield schniefte in sein großes kariertes Taschentuch, während Stanton mit einer Kanne Tee von Tasse zu Tasse balancierte. Sands saß neben Henderson, Fleming hatte ein Skript vor sich auf dem Tisch ausgebreitet. Beverly betrat das Büro direkt nach Miller und sie konnte seinen hochprozentigen Atem riechen. Er setzte sich etwas abseits und warf einen leicht nervösen Blick zu Sands hinüber. Millers Hemd hing zerknittert über der Hose, sein Sakko war fleckig. Sein Gesicht wirkte sowohl ungewaschen als auch unrasiert, das dunkle Haar klebte fettig am Kopf. Es war offensichtlich, dass er die letzte Nacht nicht zu Hause bei seiner Frau verbracht hatte. Hatte sie ihn womöglich vor die Tür gesetzt? Miller schien sich im Mittelpunkt der Blicke plötzlich seines Zustandes bewusst zu werden und erhob sich wieder. „Bin gleich wieder da“, warf er erklärend in die Runde und ging hastig zur Tür. Der Geruch von Whisky blieb im Büro hängen, und Beverly war sich sicher, dass jeder der Anwesenden es roch.
„Wir fangen an“, gab Whitefield in die Runde, ohne einen Kommentar zu Millers Auftritt abzugeben. „Fleming hat sich in den Falls reingekniet. Wir hören uns mal an, was er zu bieten hat.“
„Ich habe mich, soweit es mir anhand der Unterlagen möglich war, mit den Persönlichkeitsprofilen der beiden Tatverdächtigen befasst“, begann der Psychologe. „Ich bin zu dem vorläufigen Schluss gekommen, dass Timothy St. Williams mit hoher Wahrscheinlichkeit unser Täter sein wird. Daraus ergeben sich für die laufenden Ermittlungen andere Prioritäten.“ Er griff nach einem grauen Hefter, der neben seiner losen Blattsammlung lag, und schob sich die Lesebrille auf die Nase.
„Woraus schließen Sie, dass Harwood als Täter nicht in Frage kommt?“, warf Sands ein.
Fleming blickte ihn irritiert an. „Aus den Persönlichkeitsprofilen“, entgegnete er und Beverly bemerkte einen Anflug von Ungeduld in seiner Stimme..
„Das ist mir zu ungenau. Mich interessiert, welche Überlegungen Sie zu diesem Schluss kommen lassen“, hakte Sands noch einmal nach.
„Ich finde den Verlauf der Kindheit in beiden Fällen sehr aussagekräftig. Timothy St. Williams hat nie eine gehabt und ganze siebzehn Jahre lang die Hölle durchlebt. Sämtliche Phasen der kindlichen Entwicklung waren von Zwang, Angst und Lieblosigkeit geprägt. Ich glaube nicht, dass es irgendetwas gibt, das eine solche Verwundung heilen lässt. Maggie Hunter hat sich während ihrer Zeit in West Bromwich vermutlich besonders um ihn bemüht. Sicherlich hat sie das auch in der Zeit getan, als er bei ihr lebte. Wir wissen jedoch nicht, wie lange er bei ihr war. Auch wenn sie sich um ihn gekümmert hat, auch wenn sie versucht hat, ihm das zu vermitteln, was er nie hatte, sie hatte keine Chance, all das aufzuholen. Nach siebzehn Jahren, die er einem solchen Drill ausgesetzt war, kann man davon ausgehen, das sich das Trauma irreparabel in seiner Persönlichkeit manifestiert hat. Es hat den Jungen von klein auf geprägt. Er hatte kaum menschliche Beziehungen und keinen Kontakt zur Außenwelt. Sein gesamtes Empfindungsspektrum liegt vermutlich im negativen Bereich. Als Timothy seine Mutter angriff, agierte er zum ersten Mal Aggression aus. Es war ein ungeplanter, höchst effektiver Befreiungsschlag für ihn. Wenn er später keine anderen Möglichkeiten gefunden hat, mit Schwierigkeiten umzugehen, und dies sein einziger Weg ist, ausweglosen Situationen zu begegnen, dann ist er vermutlich unser Täter. Genau genug?“ Fleming brachte die letzten beiden Worte mit einem provokanten Unterton über die Lippen und blickte Sands herausfordernd ins Gesicht.
„Wenn Sie jetzt genauso gut darlegen können, warum Daniel Harwood als Täter eher nicht in Frage kommt, … ja“, antwortete Sands betont ruhig.
Die Spannung wich aus Flemings Gesicht, er fuhr fort. „Daniel Harwood hatte, soweit wir wissen, bis zu seinem sechsten Lebensjahr ein intaktes Elternhaus. Durch den Tod beider Eltern wurde er traumatisiert. Er wurde von einer Familie aufgenommen, die ihn vom öffentlichen Interesse abgeschirmt und sich sicherlich intensiv um sein Wohlergehen gekümmert hat. Unter diesen Voraussetzungen hatte das Kind die Chance das Trauma zu verarbeiten.“ Er griff wieder zu dem grauen Hefter, ein wenig zu hastig befand Beverly.
„Sie haben in Ihren Ausführungen den Tathergang ausgeklammert.“ Es war wieder Sands, der ihn unterbrach. „Ein wesentlicher Kernpunkt unserer Überlegungen war bislang die Tatsache, dass der Junge die Tat beobachtet hat. Wie werten Sie das im Hinblick auf eine mögliche Täterschaft?“
Flemings Augen flackerten beinahe wütend, als er Sands ansah, Beverly war auf seine Antwort gespannt. Doch bevor er reagieren konnte, fuhr Sands fort: „Darüber hinaus können wir über sein weiteres Leben nichts aussagen. Wir kennen nicht einmal die Pflegefamilie, bei der er groß geworden ist. Letztendlich wissen wir nicht, ob dieses Pflegeverhältnis Bestand hatte, der Junge könnte genauso gut in einem Heim oder auf der Straße groß geworden sein. Wir dürfen ihn zum jetzigen Zeitpunkt der Ermittlungen keinesfalls als möglichen Täter ausschließen.“
Flemings Blick wanderte nervös zwischen Whitefield und Sands hin und her.
„Das denke ich auch“, bemerkte Allister „machen Sie beide ausfindig.“
Es entstand ein Moment des allgemeinen Schweigens, dann unterbrach der Psychologe die Stille. „Wir haben zwei Tatverdächtige, wir haben sogar Namen, aber die Spuren liegen weit zurück und verlaufen im Sand. Vielleicht gibt es einen Weg, zumindest an St. Williams heranzukommen. …Mir ist da ein Gedanke gekommen. Ich hab allerdings keine Ahnung, ob ich damit richtig liege.“ Er warf einen scharfen Blick zu Sands und fuhr fort: „Betrachtet man die Ähnlichkeit der Fälle, so fällt auf, dass alle Opfer ein Klavier besaßen. Timothy St. Williams spielte seit seiner frühesten Kindheit Klavier. Er bekam besondere Zuneigung von seiner Klavierlehrerin Maggie Hunter. Er hat eine Zeit lang bei ihr gelebt. Es könnte durchaus sein, dass er durch das Klavier seine Verbindung zu den Opfern herstellt.“
„Wie denn?“, fragte Stanton; seine Stirn kräuselte sich unter den Spitzen seiner wilden Locken.
„Da bin ich mir nicht sicher. Mir sind da einige Ideen gekommen. Vielleicht besucht er Klavierkonzerte und spricht dort Frauen an. Oder er heftet Aushänge ans schwarze Brett der Musikschulen, um Klavierunterricht anzubieten. Es wäre auch denkbar, dass er in Zeitungen inseriert. Vielleicht wählt er aus den Interessenten ganz bewusst alleinlebende Frauen aus.“
„Das hieße also, dass er nach Sheila Morenos Tod wieder inserieren würde. Das hieße auch, dass wir sämtliche Zeitungen im Raum London nach Inseraten absuchen müssten“, stellte Stanton trocken fest.
„Ich glaube nicht, dass er es schon jetzt wieder tun wird. Er wird zumindest einige Tage warten, solange, bis sich die höchsten Wogen geglättet haben“, gab Fleming zu bedenken. Nachdenkliche Stille breitete sich für einige Sekunden im Büro des Superintendent aus.
„Sie haben zwar Daniel Harwood bei ihren Ausführungen wieder völlig vergessen, Mr. Fleming, aber ihre Überlegungen zu Timothy St. Williams sind ausgezeichnet. Schade, dass sie nicht von mir sind.“ Inspektor Sands lächelte, und Beverly konnte förmlich sehen, wie eine riesige Last von dem jungen Psychologen abfiel.
Es sah schon wieder nach Regen aus, doch der Wind trieb die Wolken mit derartiger Kraft über den Himmel, dass sie keine Gelegenheit hatten, das Wasser über der Stadt zu verteilen. Beverly riss sich von dem Anblick los und konzentrierte sich wieder auf die Arbeit. Bill Stanton hatte ihr nach der Morgenbesprechung einige Hinweise, diverse Telefonnummern und etliche Termine verschiedener Klavierkonzerte auf den Schreibtisch gelegt. Sie hatte stundenlang telefoniert, Notizen gemacht und versucht, Details aus dem Wust an Informationen herauszufiltern, irgendetwas, das die Ermittlungen weiterbringen würde. Sie war keineswegs zufrieden, nichts hatte den Anschein, als würde es irgendwie nützen. Sie packte die Dossiers zusammen, schob sie in den Aktenschrank und schloss das Büro ab. Sie meldete sich ab, nahm den Aufzug zur Tiefgarage, stieg in den Wagen, und als sie losfuhr, überlegte sie, wie sie es angehen würde.
London News stand auf dem großen blauen Schild an der Eingangstür. Beverly ging zielstrebig durch die imposante Eingangshalle auf die Anmeldung zu. Sie legte ihren Dienstausweis vor und verlangte Adrian La Vince in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen.
„Er befindet sich in einer dienstlichen Unterredung, wenn sie vielleicht in einer Stunde...“
Beverly ließ die brünette Frau im türkisfarbenen Kostüm nicht ausreden, sie lehnte sich ein Stückchen über den Tresen und flüsterte mit wichtigem Gesichtsausdruck. „Nein, das kann ich nicht, dann ist es womöglich schon zu spät. Wie ich Mr. La Vince kenne, wird er Sie persönlich verantwortlich machen, wenn ihm diese Sache entgeht, also holen Sie ihn da jetzt besser raus.“
Sie brauchte nicht lange zu warten.
Adrian La Vince schien mehr als verblüfft, sie zu sehen. „Na, wenn das keine Überraschung ist, Sergeant Evans!“ Er bat sie in ein Besprechungszimmer und bot ihr eines der kleinen Mineralwasserfläschchen an, die auf dem Tisch gruppiert waren. „Sagen Sie nichts, lassen Sie mich raten! Sie wollen mit mir Essen gehen? Ich bin dabei! Heute Abend zwanzig Uhr, ich hole Sie ab.“ Er grinste und ein kleines Grübchen, das ihr bei ihrer ersten Zusammenkunft nicht aufgefallen war, bohrte sich in seine linke Wange.
„Ich denke, Mr. La Vince, ich habe noch was gut bei Ihnen. Ich habe Arbeit für Sie.“
Er schlug die Beine übereinander und drückte die Fingerspitzen der rechten Hand auf seine Schläfe. „Sie sind knallhart, wie halten das nur Ihre Kollegen aus?“
„Es geht um den aktuellen Fall; ich setze Ihr Stillschweigen über unsere Ermittlungen voraus.“
„Ist das alles?“
„Nein, obwohl Ihnen das sicher schwer fallen wird. Ich möchte Sie bitten, uns bei der Suche nach dem Täter zu unterstützen.“
Er grinste. „Prima. Kann ich mir gut vorstellen. Sie und ich auf gemeinsamer Mörderjagd. Bekomme ich eine Waffe? Bringen Sie mir das Schießen bei?“
„Ganz langsam, Mr. La Vince. Nichts von alldem. Sagen wir es mal so: Ich habe eine Aufgabe für Sie, die mit Ihrem Job zu tun hat. Ich werde Sie in die notwendigen Details einweihen, aber Sie halten den Mund, wir wollen schließlich den Täter nicht warnen. Sollte dennoch irgendetwas an die Öffentlichkeit dringen, dann werde ich Sie, Mr. Clark und Mr. Darryl samt ihrem Ohr ans Messer der Justiz liefern. Können Sie mir folgen?“
„Unschwer, und wenn ich mich weigere?“
„Ich habe nicht vor, Sie in irgendeiner Weise unter Druck zu setzen. Wenn Sie nicht dazu bereit sind, dann lassen Sie es sein. Ich komme auch so an meine Informationen, allerdings geht uns wertvolle Zeit verloren.“
„Wie schnell muss ich mich entscheiden?“
„Sofort. Ich habe nicht vor, schon wieder meine Zeit mit Ihnen zu verschwenden.“ Sie wusste, er würde ja sagen. Seine Neugier trieb ihn.
„Ich würde anschließend gern mal mit Ihnen...“ Er hielt inne, als er das ungeduldige Funkeln in Beverlys Augen sah. „Gut, ich werde Ihnen helfen. Sagen Sie mir, was ich tun soll.“
Beverlys Blick wanderte mit ungutem Gefühl immer wieder in den Rückspiegel. War das ihr Auto, das wie der Teufel qualmte? Sie hielt am Kreisverkehr, um eine Lücke im fließenden Verkehr zu finden, der Gestank von schmorendem Gummi stieg ihr in die Nase. „Nur noch die paar hundert Meter“, bettelte sie den Wagen an. Sie schaffte es noch gerade bis zum Yard, dann schoss mit einem heiseren Husten eine schwarze Rauchwolke unter der Haube hervor, verteilte sich wie ein flacher Teppich unter der Decke der Tiefgarage und der Motor erstarb. Selbst schuld, Evans. Sie wartete einen Moment, um sicher zu gehen, dass der Wagen nicht noch Flammen werfen würde, dann stieg sie in den Aufzug, eilte den Korridor entlang und stürmte ins Büro. Es war niemand da. Wo schwirren die schon wieder rum? Dann eben nicht, dann eben keine Informationen zum Thema Zeitung. Beverly führte ein paar Telefonate, doch es gab keine neuen Hinweise aus Coventry. Es wurmte sie. Timothy St. Williams konnte sich schließlich nicht in Luft aufgelöst haben, er hatte vermutlich jahrelang bei Maggie Hunter gelebt. Irgendjemand, der sie gekannt hatte, musste auch von ihm wissen. Er war ja schließlich nicht unsichtbar. ... Oder doch? Daran hatte sie noch gar keinen Gedanken verschwendet, daran, das St. Williams bereits tot sein könnte. Sie seufzte. So kamen sie nicht weiter. Möglicherweise würden Recherchen vor Ort doch noch den ein oder anderen Hinweis zu Tage fördern. Aus West Bromwich war sie schließlich auch nicht mit leeren Händen zurückgekehrt. Der Gedanke reifte, dass sie in Coventry selbst den Schlüssel finden könnte, einen Hinweis darauf, wo St. Williams untergetaucht sein könnte. Zielstrebig lief sie den Korridor entlang zu Whitefields Büro.
Er blickte aus einem Stapel Papier zu ihr auf, schob eine Mappe beiseite und blickte auf die Uhr. „Evans, machen sie Feierabend. Sie verpulvern schon wieder Ihre Energie.“
„Ich muss mit Ihnen reden, Superintendent. Es geht um die Spur in Coventry, Maggie Hunter. Wir sollten dort unbedingt vor Ort ermitteln, alles andere hat keinen Zweck.“ Sie räusperte sich, versuchte seine Reaktion abzuschätzen. Er schwieg, ein schlechtes Zeichen. Sie musste es trotzdem versuchen. „Ich wäre bereit, nach Coventry zu fahren, aber...“ sie stockte einen Moment, „ich würde ungern mit Miller...“ Sie ließ den Rest des Satzes unausgesprochen verhallen und blickte Superintendent Allister Whitefield an.
Er grübelte, aber allem Anschein nach schien er zu keinem Entschluss zu kommen. „Wir sind hier kein Reisebüro. Es gibt hier genug zu tun, Sie wissen schon.“
Sicherlich hatte er die Enttäuschung in ihrem Gesicht gesehen, aber es änderte nichts. Es brachte auch nichts, ihn überreden zu wollen, so etwas machte ihn abweisend. Es war ratsamer, es zu gegebener Zeit noch einmal zu versuchen. Sie sah ihn an, er fuchtelte ungeduldig mit der Hand. „Das war’s, ich hab noch zu arbeiten.“
Sie verließ sein Büro und dachte darüber nach, das Ganze noch einmal mit Sands anzugehen. Er war sicher nicht abgeneigt, was Coventry anbelangte. Nein, sie musste sich zurückhalten. Wenn sie Whitefield jetzt noch jemand anderen auf den Hals schickte, war er wahrscheinlich restlos sauer. Sie würde warten. Sie würde die Gunst der Stunde abpassen, und sie war sich sicher, dass sie schon bald Gelegenheit dazu haben würde.
Das verdammte Auto! Und niemand mehr da, der dich nach Hause fahren kann. Sands Büro war bereits abgeschlossen, Henderson und Stanton waren weg. Miller? Um Gottes Willen. Also doch der Bus oder die U-Bahn. Seufzend fuhr sie mit dem Aufzug in die Tiefgarage. Ein letzter Versuch mit dem Auto? Sie kramte ihre Sachen aus dem Wagen, warf sich den Mantel über. Riskier es besser nicht, sagte ihr Verstand, also schloss sie den Wagen ab und verließ das Gebäude. Es nieselte, es war windig und kalt. Sie begann auf der Stelle zu frieren, als sie einen Augenblick lang unschlüssig an der Straße stand. Du hättest zwischendurch mal was essen müssen.
„Hey, Evans, ist dir dein Wagen verreckt?“, Miller hielt neben ihr, grinste in seiner gewohnt frechen Art, während er die Scheibe herunterkurbelte, und sah jetzt im kalten Licht der Straßenlaterne nicht viel besser aus als am Morgen.
„Ich warte nur auf jemanden“, log sie.
„Sands ist schon weg, ... Pech, Evans.“ Er spielte mit dem Gas, drehte die Scheibe wieder hoch und fuhr los. Keine zehn Sekunden später hielt der nächste Wagen.
„Kann ich Ihnen helfen Miss Evans?“
Sie fuhr herum. „Ach Sie sind’s Fleming. Ja, mein Wagen gibt kein Lebenszeichen mehr von sich.“ Sie blickte kurz in seine Augen, dann auf seinen Wagen. Wieder so ein Typ mit einem schicken, schnellen Zweisitzer. Bist du nicht schon mal auf so was hereingefallen, Beverly?
„Soll ich Sie nach Hause fahren?“
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich hasse es, in überfüllten Bussen zerquetscht zu werden oder im U-Bahnschacht verloren zu gehen.“
„Das kann ich verstehen, ... das kann ich sogar sehr gut verstehen.“ „Eigentlich steige ich nicht in solche Autos.“ Sie gab ihrer Stimme einen vorsichtigen Ausdruck.
„Darf man fragen warum?“
„Weil die Fahrer meistens Weiberhelden sind.“
Er lachte, lehnte sich über den Sitz und hielt ihr die Beifahrertür auf. „Ich werde Sie nicht zwingen. Legen Sie den Schwerpunkt doch einfach auf meistens und steigen Sie ein.“
Der silberne Wagen fädelte sich in den fließenden Verkehr ein, Beverly lehnte sich zurück. „Ich hatte schon die ganze letzte Woche in der Werkstatt anrufen wollen, aber irgendwie bin ich nie dazu gekommen. Ich hatte einfach keine Zeit. Ich hab’s jedes Mal vergessen.“ Sie blickte auf die Straße und sah Millers Wagen im gelb markierten Halteverbot vor einem kleinen Tabakladen stehen. Er kaufte mit Sicherheit gerade diese widerlichen Zigarillos, mit denen er allen ständig das Hirn vernebelte. Vor der nächsten Ampel staute sich der Verkehr. Beverly sah im Seitenspiegel, wie Miller von hinten aufschloss. Dann scherte er aus und drängte sich neben Flemings Wagen. Mit einem dümmlichen Ausdruck stierte er zu ihnen herüber. Der arrogante Psychologe in einem Roadster und neben sich Evans. Da hat er doch wieder Gesprächsstoff! Fleming warf einen Blick zurück, zog vielsagend eine Augenbraue hoch. Miller wandte sich ab und schoss mit quietschenden Reifen hinter der Autoschlange her, die sich wieder in Bewegung gesetzt hatte.
„Unangenehmer Typ, dieser Miller ... schwer einzuschätzen.“
Beverly grinste. „Rechnen Sie immer mit dem Schlimmsten, dann sind Sie gegen seine Attacken gut gerüstet.“
Er lächelte. „Und was empfehlen Sie mir gegen Sands Attacken?“
Sie stöhnte demonstrativ auf. „Nehmen Sie das bloß nicht persönlich. Außerdem hatte er recht!“
„Das sehe ich anders. Sands hat sich auf diesen Harwood eingeschossen, und das ist sein Problem.“
Sie musterte Daniel Fleming verstohlen von der Seite, während sie antwortete. „Er hält sich beide Optionen offen, das ist beim jetzigen Stand der Ermittlungen auch vernünftig. Sie haben sich festgelegt, nicht er.“ Sie fuhren an Miller vorbei, der eingekeilt auf der anderen Spur stand und nicht weiterkam.
„Sie sind nicht irgendwie ein bisschen voreingenommen?“
„Genau das bin ich“, betonte Beverly. „Ich kenne Sands seit vier Jahren, und wenn es jemanden gibt, der bei den Ermittlungen Weitblick beweist, dann ist er das.“
Fleming warf ihr einen kurzen Blick zu. Sein Kommentar zu ihrer Aussage war kurz: „Aha.“
Beverly verschränkte wütend die Arme. „Was soll denn das jetzt heißen?“
„Sie scheinen, was Sands angeht, nicht besonders kritikfähig zu sein.“
Sie sog die Luft hörbar durch die Nase. „Und Sie könnten eine Menge von ihm lernen, wenn Sie nicht so halsstarrig wären.“
Miller tauchte hupend neben ihnen auf, zog an dem Roadster vorbei, machte einen scharfen Schwenk auf ihre Spur und trat voll auf die Bremse. Beverly sah, vom Nieselregen verschwommen, die Bremslichter aufblinken, binnen Bruchteilen von Sekunden wurde sie vom Gurt gehalten, während Fleming den Wagen nur um Haaresbreite zum Halten brachte. Hank Miller drehte sich triumphierend zu ihnen um, die Ampel beleuchtete ihn mit einem roten Heiligenschein.
„Und so was ist bei der Kripo“, brachte Fleming mit betretenem Blick hervor.
„Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt. Rechnen Sie immer mit dem Schlimmsten.“
„Das werde ich ab jetzt.“ Er warf ihr ein Lächeln zu. Die Ampel schaltete auf grün. „Hätten Sie Lust, noch eine Kleinigkeit essen zu gehen? Ich hab’ den ganzen Tag noch nichts Vernünftiges zwischen den Zähnen gehabt.“
„Gute Idee, mir geht’s auch nicht besser.“ Er bog in eine Querstraße, steuerte eine schmale Seitenstraße an und hielt vor einem kleinen italienischen Restaurant.
Sie setzten sich an einen Tisch nahe der Tür, der direkt am Fenster stand und während Beverly ihn ansah, fragte sie sich, wann sie das letzte Mal mit einem Mann essen war, für den sie sich ernsthaft interessierte, der weder verheiratet noch verlobt war und der nicht gerade in irgendeiner Trennungsmisere steckte. Ja, wann, Beverly? Und sie musste sich eingestehen, dass die Antwort schlicht ...Noch nie! ... lautete. Jetzt hatte sie Bauchschmerzen und das ungute Gefühl, dass irgendetwas einfach schief gehen musste. Reiß dich zusammen!
„Was bewegt eine Frau wie Sie dazu, bei der Mordkommission zu arbeiten?“
Sie lehnte sich zurück. „Ich hab diese Frage, seit ich bei der Polizei bin, bestimmt schon hundert Mal gehört. Was glauben Sie?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich hab keine Ahnung. Na ja, ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, aber...“
„Aber was?“
„Es liegt wohl an ... an Ihrem Aussehen. Wenn ich Sie so ansehe, könnte ich mir alles Mögliche vorstellen, aber auf die Idee, dass Sie bei der Kripo sind, würde ich als allerletztes kommen.“
„Das heißt im Klartext, zu klein, zu schmal, zu weiblich.“ Sie nippte an ihrem Weinglas.
Er lächelte. „Das ist es vermutlich.“
„Wissen Sie, Fleming, ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals etwas anderes wollte. In den ersten Jahren an der Schule gab es eine Gruppe fieser dicker Jungs, die mir das Leben zur Hölle gemacht haben. Schon damals hab ich mir vorgestellt, wie schön es sein würde, sie irgendwann zu verhaften und ihnen Handschellen anzulegen. Rache ist süß, wenn man sie kalt genießen kann.“
„Und, … haben Sie die fiesen dicken Jungs verhaftet?“
Sie lachte. „Nein. Einer arbeitet bei einer großen Bankgesellschaft; was aus den anderen geworden ist, weiß ich nicht.“ Der Ober brachte die Pizza, schenkte Wein nach und zog sich hinter seinen Tresen zurück.
„Jetzt sind Sie dran Fleming. Warum ausgerechnet Psychologie?“ Sie sägte mit dem Messer ein Stück aus der Pizza und schob es in den Mund.
Er lächelte. „Weil es spannend ist.“
Sie taxierte ihn eine Weile, nahm einen Schluck Wein. „Das ist nicht der Grund.“
„Sie haben Recht.“
„Und?“
„Bei mir waren es zumindest keine fiesen dicken Jungs. Es gab ein paar andere Dinge, die mir das Leben schwer gemacht haben. Ich hab geglaubt, ich würde besser damit klar kommen, wenn ich alles aus einer anderen Perspektive betrachten würde. Das war vermutlich der Grund. Inzwischen ist es allerdings eher das, was ich als erstes sagte. Es ist wirklich spannend.“
„Also typisch Psychologe. Der Versuch sich selbst zu therapieren.“
„Wenn Sie es unbedingt so sehen wollen…“
„Verraten Sie mir, was es war?“
Er zog die Augenbrauen hoch.
„Sie wollen es mir nicht sagen?“
„Stimmt“, antwortete er kurz.
„Warum arbeiten Sie ausgerechnet an einem Forschungsinstitut? Sie hätten doch genauso gut eine therapeutische Praxis aufmachen können, durchgeknallte Typen gibt es ja schließlich wie Sand am Meer. ... ’Tschuldigung, aber Sie wissen sicher, wie ich das meine.“
„Ich hatte nie vor, Behandlung anzubieten, von daher passt das, was ich jetzt mache, gut in meine Vorstellungen.“
„Und warum nicht?“
Er nahm einen Schluck Wein, stellte das Glas wieder hin und sah sie an. „Warum ich nicht therapeutisch tätig bin? Weil ich mit mir selbst nicht im Reinen bin. Es wäre nicht gut für die Klientel.“
Sei nicht so neugierig, halt jetzt einfach mal deine Klappe, Evans. Du musst dich nicht wundern, wenn er demnächst einen großen Bogen um dich macht, wenn du ihn schon jetzt derart in die Enge treibst.
Es regnete noch immer zaghaft auf London herab, als Daniel Fleming Beverly vor ihrem Wohnblock absetzte. Es war fast Mitternacht. „Soll ich Sie morgen früh abholen oder wollen Sie sich lieber in aller Herrgottsfrühe in einem Bus zerquetschen lassen?“, fragte er mit einem Zwinkern.
„Ich warte hier auf Sie“, antwortete sie ernst. Sie sah seinem Wagen eine Weile nach. Dann blickte sie in den Himmel, spürte den kalten Nieselregen, der sich auf ihrer Haut niederließ. Langsam ging sie hinein, die Treppenstufen hinauf und schloss mit hämmerndem Herzen die Wohnungstür. Mensch, Beverly, das könnte tatsächlich was werden, ... obwohl seine Meinung über Sands, nach ihrem Geschmack, noch leicht korrigiert werden musste.